# taz.de -- Tausendfacher Horror in neun Bänden | |
> Perus Wahrheitskommission legt Abschlussbericht vor: Über 69.000 Opfer | |
> forderte politische Gewalt in 20 Jahren | |
BUENOS AIRES taz ■ Am Ende seiner Rede verlor Salomón Lerner die Fassung. | |
Seine Augen wurden glasig, seine Stimme zitterte. „Dir vertrauen wir das | |
Ergebnis unserer Ermittlungen an, und dir vertrauen wir, dass Gerechtigkeit | |
walten wird“, sagte er mit Blick auf Perus Präsident Alejandro Toledo neben | |
sich. Lerner, Chef der Wahrheitskommission, welche die politische Gewalt in | |
Peru in den Jahren von 1980 bis 2000 untersucht hat, übergab am Donnerstag | |
seinen Abschlussbericht an Toledo. | |
Neun Bände dick ist der Bericht geworden. Lerner befragte in 22 Monaten | |
seine Mitarbeiter und 18.000 Zeugen des Konflikts. Das Ergebnis ist | |
schockierend: Mindestens 69.000 Menschen wurden in dieser Zeit Opfer | |
subversiver Organisationen oder der Streitkräfte. Das sind doppelt so viele | |
wie bislang angenommen. | |
Daher ist für Lerner nach den Jahren der Gewalt jetzt die Zeit der | |
„nationalen Schande“ gekommen. „Die Liste, die wir heute übergeben haben, | |
ist zu lang, als dass diejenigen, die an dem Konflikt beteiligt waren, in | |
Peru weiterhin von Fehlern oder Exzessen sprechen können“, sagte Lerner im | |
Präsidentenpalast. Nun müsse die Justiz ihre Arbeit aufnehmen, kündigte | |
daraufhin Staatschef Toledo an. Doch diese Meinung teilen längst nicht alle | |
Peruaner. Schon Monate vor der Veröffentlichung des Berichts hagelte es | |
Kritik an der Kommission. Als „eine von ehemaligen Kommunisten geführte | |
Gruppe“, der jegliches Recht fehle über andere zu richten, bezeichnete der | |
Kongressabgeordnete Rafael Rey die Kommission. Rey hatte unter Präsident | |
Alberto Fujimori (1990 bis 2000) für die Amnestie einer Paramilitärbande | |
gestimmt. | |
Seit den 1980er-Jahren terrorisierte der Leuchtende Pfad das Land, die | |
Guerilla bekämpfte den Staat und die Streitkräfte schlugen gnadenlos | |
zurück. Laut Wahrheitskommission geht die Mehrzahl der in dieser Zeit | |
begangenen Verbrechen auf das Konto des Leuchtenden Pfads. Anführer Abimael | |
Guzman wurde 1992 gefasst und sitzt seither im Hochsicherheitstrakt des | |
Gefängnisses der Hafenstadt Callo nahe Lima. Die maoistische Gruppe fiel in | |
Dörfer ein, ermordete Gemeindevertreter und erklärte Gebiet als befreit. | |
Junge Männer und Jugendliche wurden gezwungen, mit der Gruppe mitzuziehen. | |
Möglich war dies nur, weil der Staat viele Gegenden des Landes | |
alleingelassen hatte: Es gab keine Polizei und kein Militär. Die Maoisten | |
waren wegen ihrer extremen Brutalität gefürchtet und bekannt: Sie köpften | |
ihre Gegner, schnitten ihnen die Zunge ab und ließen die Straßenköter an | |
den Leichen nagen. | |
„Peru ist eines der wenigen Länder mit einer Terrororganisation, die den | |
Terror als Ziel angesehen hat, vergleichbar nur mit Bewegungen Pol Pot“, | |
sagt Lerner. Aber auch die Streitkräfte gingen systematisch gegen alle vor, | |
die sie des Terrors auch nur verdächtigten. „In manchen Jahren hat das | |
Militär dieselben Methoden angewandt wie der Leuchtende Pfad“, so Lerner. | |
Militärs richtete unzählige Massaker an Zivilisten an, jeder, der einen | |
Poncho trug oder Quechua sprach war für sie ein Terrorist. | |
Deshalb sind auch drei von vier Toten – wie die Wahrheitskommission | |
ermittelt hat – Indígenas, die bis heute ignorierte Gruppe der peruanischen | |
Ureinwohner. In Peru leben acht Millionen Indígenas, das ist ein Drittel | |
der Bevölkerung. Viele von ihnen sprechen nur Quechua und kein Spanisch, | |
was die Amtssprache Perus ist. Während der Arbeit der Wahrheitskommission | |
sei klargeworden, „dass Peru ein geteiltes Land ist,“ sagte Lerner. Die | |
Weißen auf der einen, die Indígenas auf der anderen Seite, denen die | |
Bürgerrechte verweigert werden, die bis heute unter Diskriminierung und | |
Armut leiden. | |
INGO MALCHER | |
30 Aug 2003 | |
## AUTOREN | |
INGO MALCHER | |
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