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# taz.de -- Tagebuch eines Arztes in Idomeni: Mit aller Brutalität
> In Idomeni werden selbst Kleinkinder inmitten der Zelte mit Tränengas
> beschossen. Die Helfer sind empört – und fassungslos.
Bild: Leere Tränengasgranaten in Idomeni
Donnerstag, 7. 4. 2016
Heute stand der Tag unter dem Zeichen der Verbrennungen, der chronischen
Krankheiten wie Diabetes und Asthma. Mehrere ältere Menschen hatten
BZ-Werte kurz vor 500. Wir konnten sie nicht behandeln und haben sie direkt
zu den Ärztecontainern weitergeschickt. Hoffentlich sind alle dort
behandelt worden.
Vorgestern wurde ein Mädchen mit großflächigen infizierten Verbrennungen
der Beine ins Krankenhaus gebracht. Sie kam gleich ohne jegliche Maßnahme
wieder zurück ins Camp. Da wir sie heute nicht finden konnten, werden wir
uns morgen drum kümmern. Die alten Menschen mit dem unbehandelten Diabetes
haben große Angst, daran zu sterben. Wir versuchen zu trösten und, wo wir
können, zu behandeln. Aber manches sprengt einfach unseren Rahmen.
Dafür gelang uns heute die Behandlung von Herpes am Auge. Ein 15 Tage altes
winziges Mädchen wurde zu uns gebracht. Ansonsten Husten, Husten, Husten,
Halsschmerzen, Halsschmerzen. In der staubigen verqualmten Luft kein
Wunder.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Menschen das aushalten. Wie kann
man ihnen so ein Leben zumuten? Wieso wird weggesehen, wenn es um die Not
der Menschen geht. Heute wurden übrigens Orangen, Bananen und Schokolade
verteilt. Einen Dank an alle Spender!
Sonntag 10. 4. 2016
Alle meine Fotos, die ich von der Lage in Idomeni gemacht habe, sind
zerstört, gelöscht – was weiß ich. 46 Stück insgesamt von Verletzten, von
Kindern, die von Tränengas getroffen wurden, von riesigen
Hartgummigeschossen, von über griechischem Gebiet fliegenden mazedonischen
Kampfhubschraubern, von Tränengasgeschossen inmitten der Zelte – weitab der
Grenze. Ich hab alles dokumentiert in den Momenten, wo keine
Verletztenversorgung notwendig war. Weg, einfach weg. Ich bin fassungslos.
Auf meinem Handy Fotos davor und danach, Videos davor und danach – harmlose
eben, von einer Entzündung am Fuß, von unserer sich wandelnden
„Sanitätsstation“, wenn man eine Decke auf dem Boden, viele Flaschen
Wasser, die Augentropfen, das Asthmaspray und die Tropfen in der Spritze
als Sanitätsstation bezeichnen kann.
Apropos, mein wertvolles Bergetuch ist weg. Kann jemand ein neues aus
Deutschland mitbringen? Die Situation in Idomeni war entsetzlich.
Zerschlagene Menschen, von Gummigeschossen getroffene Menschen und
Tränengas überall. Tränengas zunächst an der Grenze, später auch mitten
zwischen die Zelte geschossen – viele betroffene Kleinkinder und Säuglinge.
Ich hab’s dokumentiert – die Fotos sind von Zauberhand gelöscht,
geschwärzt.
Ich hatte die Gasmasken und den Helm zu Hause in Deutschland gelassen,
wollte mich hier um die hygienischen Bedingungen der Flüchtenden kümmern,
um Ernährung, um die kleineren medizinischen Probleme, die man in der
Kofferraumsprechstunde lösen kann. Die Lage ist eine andere. Gefragt ist,
auch größere medizinische Probleme aus dem Kofferraum zu lösen, am besten
eine ganze Apotheke vorzuhalten, weil es einiges an Medikamenten in
Griechenland nicht gibt. Und dann noch mitten in einen Kampf zu geraten,
Soldat gegen Flüchtenden. Soldat gegen Flüchtlingskind. Soldat gegen
Flüchtlingssäugling.
Noch nie in meinem Leben musste ich Säuglinge behandeln, die Tränengas
abbekommen haben – entsetzlich. Und ich bin einiges gewohnt aus 19 Jahren
Castorwiderstand. Wer auch immer versucht, das Geschehene unsichtbar zu
machen – ich bin sicher, es haben viele fotografiert. Wer kann, [1][postet
bitte seine Fotos aus Idomeni].
13 Apr 2016
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## AUTOREN
Erich Rathfelder
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