# taz.de -- Studie übers Weinen: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" | |
> Allerheiligen, Volkstrauertag – bald darf wieder ordentlich geweint | |
> werden. Aber nicht von jedem/r gleich viel. Laut einer aktuellen Studie | |
> und der eigenen, traurigen Erfahrung. | |
Bild: Zur Not helfen Plagiate. | |
Es ist nicht schön, wenn man als 14-jähriger Junge eine Brille verschrieben | |
bekommt - Brilletragen ist aus herkömmlicher Sicht unmännlich. Noch | |
unmännlicher ist nur, anlässlich der Verschreibung einer Sehhilfe in Tränen | |
der Verzweiflung auszubrechen, was den ausnahmsweise beim Arztbesuch | |
begleitenden Vater damals zu der harschen, eigentlich ängstlichen und von | |
Überforderung getriebenen Ansage "Hör sofort auf zu weinen" trieb. | |
Mütter machen das nicht so grob. Sie erziehen indirekt mit den Mitteln der | |
Belobigung und Anerkennung: "Du bist ja jetzt schon ein großer Junge und | |
tapfer." Akklamation statt Ansage. | |
Und nein, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Irgendwann, im Laufe der | |
Pubertät, kommen einem dann die Tränen abhanden. Jahre später wundert man | |
sich dann nicht mehr, wenn in aktuellen Studien, etwa von "Augenärzten der | |
Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft in München", vermeldet wird, dass | |
Frauen viermal so oft weinen wie Männer. Und dann auch erstaunt darüber | |
sind, dass Jungen und Mädchen bis zum 13. Lebensjahr ungefähr gleich viel | |
weinen. Der Augenarzt seinerzeit machte jedenfalls keinen besonders | |
tröstenden Eindruck. | |
Als Mann lernt man, die Tränenkanäle mit Schleusen zu versehen, die | |
allenfalls kontrolliert geöffnet werden dürfen, wenn die eigene Mutter | |
beerdigt wird oder man mit einem großen Zapfenstreich der Bundeswehr aus | |
einem Amt entlassen wird, bei dem man viel Stress hatte. | |
Das Sozialprestige Mann ist ein zerbrechliches Gut. Es muss jeden Tag aufs | |
Neue untermauert werden, da es jederzeit verlustig gehen kann - Mann oder | |
Memme. Ein steter Tränenfluss würde es unterspülen. Hat man es verloren, | |
zum Beispiel nach einem Coming-out als Homosexueller ("Memme", | |
"Schwesterwelle"), kann man sich das Weinen im Prinzip wieder aneignen, | |
ganz unverschämt im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Verlust des | |
Sozialprestiges kann so zu einer Entlastung im Sinne des "kathartischen | |
Weinens" werden. Emotionen müssen nicht mehr zwingend mit Zigaretten oder | |
(Auto-)Aggressionen gedeckelt werden. | |
Doch in einem Punkt kommt man auch so nicht weiter, gleich ob homo oder | |
hetero: Man erreicht nichts mit Tränen. Wenn Babys weinen, bekommen sie | |
etwas zu essen. Und wenn Frauen viermal häufiger weinen als Männer, dazu | |
auch noch laut Münchner Studie "länger, dramatischer und herzzerreißender", | |
dann auch, weil es ihnen etwas nützt. Sie signalisieren "Überforderung" | |
oder dass sie "Probleme haben, einen Konflikt zu lösen" - und erhalten dann | |
ja meist auch Hilfe. | |
Würde man als Mann versuchen, Tränen einzusetzen, um sich durchzusetzen, | |
dann wäre das gesellschaftlich zum Scheitern verurteilt: Die Empfänger der | |
nassen Botschaft wären überfordert, gleich ob Mann oder Frau. Eine | |
Möglichkeit, Männer und Frauen auf gleiche Tränenfüllhöhe zu bekommen, wä… | |
also, Männern zu erlauben, sich mit Hilfe eines kraftvollen Drucks auf die | |
Tränendrüse durchzusetzen. Die andere, Frauen diese Taktik zu untersagen - | |
in letzterem Fall bliebe dann das Männern und Frauen gemeinsame Reservoir | |
jener Tränen, die man einsam für sich selbst weint. Im stillen Kämmerlein. | |
Akklamation statt strenger Ansage: "Du bist ja jetzt schon ein ganz großer | |
Junge und tapfer" | |
30 Oct 2009 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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