# taz.de -- Stille Trauer, laute Mahnung | |
AUS DORTMUNDMIRIAM BUNJES | |
Elif Kubasik ist diesen Weg schon tausende Male gegangen. Nicht einmal 500 | |
Meter sind es von ihrem Zuhause bis zum Kiosk ihres Mannes. Seit zwei | |
Monaten fallen sie schwer. So schwer, dass sie sich auf ihre Tochter | |
stützt. Und auch deren Gesicht zuckt. Fast 200 Menschen warten an diesem | |
sonnigen Sonntag vor der geschlossenen Trinkhalle in der Dortmunder | |
Mallinckrodtstraße. Sie tragen das Gesicht von Mehmet Kubasik auf | |
Pappschildern. „Stoppt die Mörder“, steht auf deutsch und auf türkisch | |
unter dem Bild von Elifs Ehemann, „9. Opfer – Wir wollen kein 10. Opfer“ | |
und „Wo ist die Polizei?“ | |
Mehmet Kubasik ist der achte Tote in einer Mordserie, die seit inzwischen | |
fünfeinhalb Jahren vor allem unter Einwanderern für Angst und Schrecken | |
sorgt. Am 4. April geht er das letzte Mal morgens die 500 Meter zu seinem | |
Kiosk. Bis mittags verkauft er Bonbons, Zigaretten und Zeitungen. Um 13.10 | |
Uhr findet ihn ein Kunde. Getroffen von mehreren Pistolenkugeln, unter | |
anderem in den Kopf. Getötet von der gleichen Waffe, die schon sieben | |
Männer vor ihm tötete. Und einen weiteren zwei Tage später in Kassel. Alle | |
sind Einwanderer und Kinder von Einwanderern, die meisten haben türkische | |
Wurzeln. Alle waren gerade auf der Arbeit. Und bis auf eine | |
Dönerbuden-Aushilfe waren alle Selbstständige mit einem kleinen Geschäft: | |
Dönerverkäufer, Blumenhändler, Änderungsschneider. Oder eben Kioskbetreiber | |
wie Mehmet Kubasik. | |
Mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Und auch nicht sehr viel mehr | |
Erkenntnisse. „Die Ermittlungsbehörden machen nicht genug“, findet deshalb | |
Cem Yilmaz vom Alevitischen Kulturverein Dortmund, der diesen Trauermarsch | |
zusammen mit den Angehörigen organisiert hat und sie seit dem Mord betreut. | |
„Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer | |
Hintergrund sehr einleuchtend“, sagt der Vereinsvorsitzende. „Stattdessen | |
gucken die Ermittler nur nach links, wollen wissen, ob Mehmet in der PKK | |
aktiv war.“ | |
Das war er nicht, sagt Yilmaz. Als politischer Flüchtling habe Kubasik | |
natürlich eine entsprechende Meinung von der Kurden-Politik der Türkei. „Er | |
hat sich aber schon seit Jahren nicht mehr aktiv mit Politik beschäftigt“, | |
sagt Yilmaz. „Er hat Bonbons verkauft und sich um seine Familie gekümmert. | |
Ein Durchschnittsbürger.“ | |
Elif Kubasik schreit auf, als sie den Kiosk erreicht. Ein Zeitungsfotograf | |
knipst. Es blitzt und Elif Kubasik flüchtet weinend in den Hinterhof. 200 | |
Menschen warten still vor dem Kiosk. Die meisten haben Tränen in den Augen. | |
„Ich kann das immer noch nicht glauben“, murmelt Yesim Kayar, die weiter | |
hinten steht und fast jeden Tag bei Mehmet Kubasik Kleinigkeiten für ihre | |
Kinder gekauft hat. Auch sie hält ein Schild hoch. „Polizeiskandal“ steht | |
da geschrieben und „Neun Tote und kein Täter“. | |
„Ich kann das verstehen“, sagt Ina Holznagel, Sprecherin der ermittelnden | |
Dortmunder Staatsanwaltschaft. „Es ist furchtbar für die Angehörigen, wenn | |
sie wissen, dass der oder die Täter frei herumlaufen.“ Den Vorwurf, | |
einseitig zu ermitteln, weist sie von sich. „Natürlich ermitteln wir auch | |
im rechtsextremen Milieu. Das wäre ja sträflich, das nicht zu tun.“ Man | |
schaue in alle Richtungen. Nur leider ohne Ergebnisse. Die Opfer kannten | |
sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht. Drei lebten in Nürnberg, | |
einer in Hamburg, zwei in München, einer in Dortmund, einer in Kassel. Sie | |
kamen aus unterschiedlichen Regionen in der Türkei, einige sind Kurden, | |
andere nicht, ein Opfer stammte aus Griechenland. Mal liegt ein Jahr | |
zwischen den Taten, mal nur zwei Tage (siehe Kasten). | |
## „Macht etwas!“ | |
„Beziehungstaten sind sehr unwahrscheinlich“, sagt die Dortmunder | |
Staatsanwältin. „Das sind wohl professionelle Morde. Aber sicher sein | |
dürfen wir auch da nicht.“ Es sei außerdem unwahrscheinlich, dass der Täter | |
ein Psychopath ist, weil „psychopathische Täter in der Regel die Zahl ihrer | |
Morde im Laufe der Zeit immer schneller erhöhen“. Aber ausschließen will | |
die Dortmunder Staatsanwaltschaft auch das nicht. Das bayerische | |
Innenministerium und der Hamburger Innensenat haben | |
Sonderermittlungskommissionen eingerichtet. Das Bundeskriminalamt leitet | |
die Ermittlungen, koordiniert die Arbeit der Staatsanwaltschaften. „Wir | |
sprechen oft mit den Ermittelnden in den anderen Städten“, sagt | |
Staatsanwältin Holznagel. | |
Die Dortmunder Demonstranten haben aufgehört zu sprechen. Sie klagen | |
schweigend. Mit zitternden Händen legt Elif Kubasik Blumen in den | |
Kioskeingang. Die Kerzen kann sie nicht allein anzünden, ihre Trauer | |
verwackelt das Feuer der Streichhölzer. Schweigend ziehen Angehörige und | |
Bekannte durch die Straßen des Dortmunder Einwandererviertels hinter dem | |
Hauptbahnhof. Sie tragen die Gesichter aller Mordopfer vor sich. Elif hat | |
sich bei einer weinenden Frau mit Kopftuch eingehakt: der Mutter des | |
Kasseler Opfers Halit Yozgat. Ihr 21jähriger Sohn, Betreiber eines | |
Internet-Cafés, starb zwei Tage nach Elifs Mann und ist das letzte | |
Mordopfer. Sie haben vor einigen Wochen Kontakt aufgenommen, jetzt klammern | |
sie sich aneinander bei dieser Demonstration, die vor allem eines will: die | |
Polizei mahnen und die Mitbürger warnen. | |
„Polizei, Innenministerium: Macht etwas“, ruft Halit Yozgats Vater bei der | |
Kundgebung am Hauptbahnhof ins Mikrophon. „Es kann nicht sein, dass ihr | |
seit fast sechs Jahren keine Täter habt.“ Und es könne auch nicht sein, | |
dass Einwanderer in Deutschland nicht geschützt werden können. | |
## Kein Muster erkannt | |
Auch Gamze, die 20-jährige Tochter von Mehmet Kubasik, spricht zur Menge. | |
Von ihrem Schmerz und ihrer Wut. „Bitte schaut nicht weg, liebe | |
Dortmunder“, sagt sie zum Schluss. „Es kann ja wohl nicht sein, dass | |
niemand etwas gesehen hat.“ | |
Tatsächlich gibt es nur in einem Nürnberger Fall überhaupt Hinweise von | |
Zeugen, die zwei verdächtige Fahrradfahrer in der Nähe des Tatortes | |
beobachtet haben. Dabei steht Mehmet Kubasiks Kiosk an der belebten und | |
viel befahrenen Mallinckrodtstraße mitten in der Dortmunder Nordstadt. „Wir | |
hoffen, dass sich nach dieser Demonstration dann doch mal jemand bei der | |
Polizei meldet“, sagt Mehmets Cousin Veysel. Er kneift die Augen zu | |
schmalen Schlitzen zusammen. Den ganzen Tag hat er Plakate verteilt, sich | |
mit der Polizei abgesprochen, die Journalisten betreut. „Heute geht es um | |
die Öffentlichkeit“, sagt er. „Wie wir mit unserer Trauer fertig werden, | |
wissen wir alle noch gar nicht.“ | |
„Vielleicht melden sich bald wirklich Dortmunder Zeugen“, hofft auch | |
Staatsanwältin Ina Holznagel. Denn auch sie glaubt, dass Einwanderer zur | |
Zeit in Deutschland sehr gefährlich leben, vor allem, wenn sie ein Gewerbe | |
betreiben. „Der oder die Mörder sind unberechenbar“, sagt sie. „Wir haben | |
noch kein Muster erkannt, sie könnten jederzeit und an jedem Ort wieder | |
zuschlagen.“ | |
13 Jun 2006 | |
## AUTOREN | |
MIRIAM BUNJES | |
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