| # taz.de -- Stetes Tänzeln am Abgrund | |
| > Der Tabellenletzte ES Weißwasser kämpft um sein Überleben in der | |
| > Eishockey-Bundesliga. Das bescheidene Ziel nach 70 Jahren Eishockey und | |
| > 25 DDR-Meistertiteln: Erhalt des Status quo | |
| aus Weißwasser MARKUS VÖLKER | |
| Vielleicht liegt es am rauen Ton im Eishockey, vielleicht an der | |
| vertrackten Lage, jedenfalls greifen beide, Trainer Anton Weißgerber und | |
| Manager Klaus Dietze, zu drastischen Formulierungen: „Wenn Eissport | |
| Weißwasser dichtmachen muss“, sagen sie, „dann kannste hier alles | |
| zuscheißen.“ Man hat spätestens dann verstanden: Die Lage ist ernst, hier | |
| steht etwas auf der Kippe, das den Bewohnern des Niederschlesischen | |
| Oberlausitzkreises viel bedeutet. Eishockey macht noch etwas her, auch wenn | |
| der Verein nicht in der DEL, sondern eine Klasse tiefer in der Bundesliga | |
| spielt und dort am Tabellenende festsitzt. Der ES Weißwasser dient als eine | |
| Form, in die die Anhänger ihren amorphen Alltag gießen und eine schöne | |
| Prägung erhalten, mit dem Glanz der Vergangenheit, großen Duellen gegen | |
| Dynamo Berlin und 25 DDR-Meistertiteln. | |
| Wenn eine Region in den Sog des Vergessens gezogen wird, dann die Gegend um | |
| die Glasmacherstadt. „Sollte der große Aufschwung Ost tatsächlich einmal in | |
| Weißwasser anklopfen, ist wahrscheinlich keiner mehr da, der die Tür | |
| aufmacht“, schrieb die Frankfurter Rundschau im Mai dieses Jahres nach | |
| einer Reise in den vergessenen Winkel der Republik. Seit der Wende hat | |
| Weißwasser ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Wer an die Zukunft | |
| glaubt, packt die Sachen und flieht sein Schicksal. 26.000 sind geblieben. | |
| Viele Wohnungen stehen leer. Ganze Blöcke werden deswegen abgerissen. Die | |
| Arbeitslosigkeit liegt bei über 25 Prozent. Weil überdurchschnittlich viele | |
| deutschstämmige Spätaussiedler aus Russland ansässig werden, nennen die | |
| Einheimischen deren Viertel abfällig „Klein-Kasachstan“. | |
| Das Eishockey-Areal grenzt an die Plattenbaublöcke von Klein-Kasachstan. Im | |
| Eingangsbereich der Geschäftsstelle stehen die Uhren auf 1980. An einer | |
| Wandzeitung kleben die Namen der „Meister des Sports“, darunter Joachim | |
| Franke, in den 60ern EM-Bronzemedaillengewinner mit der | |
| Eishockey-Nationalmannschaft und heute Trainer von Eisschnellläuferin | |
| Claudia Pechstein. | |
| Von seinem Büro aus blickt Klaus Dietze auf das alte, 12.000 Zuschauer | |
| fassende Freiluftstadion „Wilhelm Pieck“, das dem Verfall preisgegeben ist. | |
| Die Mannschaft spielt und trainiert in der angrenzenden Halle. Dietze, | |
| einst Dozent für sozialistische Ökonomie an der Karl-Marx-Universität | |
| Leipzig, referiert in verbrauchtem Vokabular über die „Reproduktion des | |
| Menschen“. Der Mensch benötige „Sport, Konsumtion und Erholung“, um | |
| „kulturelle Befriedigung“ zu erfahren und am nächsten Tag, frisch gestärk… | |
| an die Arbeit zu gehen. Der ES Weißwasser sei ein Reservoir, aus dem Kräfte | |
| geschöpft werden. Er spricht von „sozialökonomischen Faktoren“ und | |
| „subjektiver Euphorie“ und weiß es doch besser. | |
| ## Kein Puck weit Zukunft | |
| „Manchmal weiß ich auch nicht“, sagt er nach dem Vortrag in Sozialökonomi… | |
| „warum ich mir das hier antue.“ Und dann: „Eigentlich habe ich nach vorne | |
| nichts erreicht, sondern nur den Verein erhalten.“ Die Zwänge des Hier und | |
| Jetzt untergruben beständig den Plan, auch nur einen Puck weit in die | |
| Zukunft zu bauen. Pläne sind vorhanden. Von einem Sportgymnasium träumt der | |
| Manager, von einer neuen Halle, vom breiten Geldfluss. „Aber hier hat der | |
| liebe Gott beileibe nicht hingepinkelt.“ | |
| Dietze (58) hat schon bessere Zeiten erlebt, als Manager des Fußballvereins | |
| VfB Leipzig etwa. Acht Jahre zog er die Fäden. Die Leipziger Ausgabe der | |
| Bild-Zeitung feierte Dietze 1994 zu dessen 50. Geburtstag als „Deutschlands | |
| besten Manager“, verziert mit dem Beisatz: „Experte für sächsische | |
| Kartoffelsuppe“. Vor drei Jahren verschlug es ihn zum Eishockey. Er hat die | |
| ganze Palette der Leiden durch: die Skepsis der Alteingesessenen gegenüber | |
| dem Quereinsteiger; ständige Klinkenputzerei bei Sponsoren, um den Etat von | |
| 1,5 Millionen Euro zu sichern; eine Insolvenz in diesem Sommer, die erst | |
| durch den Einstieg des schwedischen Energie-Konzerns Vattenfall umgebogen | |
| werden konnte; das stete und ermüdende Tänzeln am Rande des Abgrunds. | |
| Tapfer gibt Dietze vor, das finanzielle Potenzial sei noch nicht | |
| ausgeschöpft. Doch die meisten Töpfe sind längst angezapft. | |
| Der ES Weißwasser, der im Dezember sein 70-jähriges Bestehen feiert, galt | |
| in der Zeichnung der Lausitzer Regionalplaner als wichtiger Eckpunkt. Das | |
| Dreieck zwischen Energie Cottbus, dem Lausitzring und den blau-gelben | |
| Puckjägern sollte an Konturenschärfe gewinnen und Touristen locken. Indes: | |
| Die trigonometrischen Punkte scheinen falsch berechnet – der Lausitzring | |
| kränkelt, Energie plant für die Zweite Liga. Und Weißwasser? „Wir bringen | |
| die Leistung nicht“, sagt Trainer Weißgerber über das Spielvermögen seiner | |
| Truppe, in der zehn Eigengewächse stehen. Die Jugendarbeit der „Füchse“ i… | |
| beispielhaft, die vier Nachwuchsteams spielen jeweils in der höchsten | |
| Spielklasse. Aber was hilft’s, wenn bei den Profis keine Erfolge | |
| herausspringen. | |
| ## Kein Platz für Träume | |
| Obendrein ist die Bundesliga in dieser Saison stärker geworden. Durch die | |
| Reduzierung des Ausländerkontingents in der DEL waren 60 Profis zusätzlich | |
| auf dem Markt. Wolfsburg, Heilbronn oder Bietigheim, mit reichlich Geld in | |
| der Kasse, bedienten sich. Weißwasser knappste, insolvenzgeschwächt, herum | |
| – und muss der Jugend vertrauen. „Es liegt nicht am Wollen“, sagt | |
| Weißgerber, „sondern eindeutig am Können.“ Nach zuletzt kapitalen | |
| Niederlagen schmiss der Verein zwei russische Spieler raus. Begründung: | |
| mangelnde Einstellung. Heute kommen die Straubing Tigers in den „Fuchsbau“. | |
| „Kämpfen bis zum Umfallen“, hat der aus dem russischen Perm stammende | |
| Weißgerber als Motto ausgegeben. Vom Sieg träumt er freilich nicht. „Träume | |
| muss man in Weißwasser schnell vergessen.“ | |
| 15 Nov 2002 | |
| ## AUTOREN | |
| MARKUS VÖLKER | |
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