# taz.de -- Sein eigener Mann in Stanford | |
> WELTPHILOSOPH Als einziger deutscher Intellektueller betrachtet der | |
> Babyboomer Hans Ulrich Gumbrecht die Welt von ihrem Nabel aus – dem | |
> kalifornischen Silicon Valley. Und rechnet mit seiner Generation ab? Ein | |
> Besuch in Stanford | |
VON PETER UNFRIED | |
Der Präsident einer deutschen Privatuniversität rief an und seufzte, dass | |
er zu gerne mal Condoleezza Rice als Gastrednerin bei sich hätte. Ob er, | |
Hans Ulrich Gumbrecht, die 66. Außenministerin der Vereinigten Staaten | |
nicht mal fragen könne. | |
Tat er gern, er kennt sie ja schon ewig. | |
Es scheiterte dann am Privatjet. Aber gerade erst kam seine Frau nach Hause | |
und sagte: „I met Condi on Campus.“ | |
Rice war bis 2009 acht Jahre Mitglied der Regierung von Präsident George W. | |
Bush. Davor lehrte sie in Stanford Politik, und danach ist sie | |
zurückgekehrt. Steven Chu ist auch wieder da. Der Nobelpreisträger für | |
Physik war bis April Barack Obamas Energieminister und wird demnächst sein | |
Wiederantritts-Abendessen bei den Gumbrechts absolvieren. Damit man ihn | |
jetzt nicht falsch versteht, sagt Gumbrecht und wedelt mit der Hand aus | |
seinem Büro raus Richtung Campus, das ist kein Namedropping. | |
Das ist Stanford. | |
Die wichtigste Universität des amerikanischen Westens, zwischen San | |
Francisco und San José gelegen und der Grund, warum die Gegend heute das | |
Silicon Valley ist. | |
Die UC Berkeley, die Heilige Mutter der Gegenkultur, mag sich für den | |
Konkurrenten Stanfords halten. Aber das ist – auch wenn sie unter den | |
öffentlichen Unis immer noch führend ist – so perdu wie die Gewissheit, | |
dass die eine Schule progressiv und die andere konservativ sei. | |
Stanford ist eine unglaublich reiche Privatschule mit etwa 20 Milliarden | |
Dollar Stammkapital, die alle Studierenden „needblind“ auswählt, also ohne | |
zu wissen, ob und wie viel Geld die Eltern haben. Unter 100.000 Dollar | |
Jahreseinkommen pro Familie zahlt man gar keine Gebühren. Ein Ort, an dem | |
Chu nur einer von vielen Nobelpreisträgern ist. Nicht mal Rice ist | |
singulär. Der greise George Shultz ist auch noch da, Reagans Außenminister | |
und zuvor dreifacher Minister von Richard Nixon. | |
Und dann auch noch Gumbrecht. „Sepp“, wie er von Condi und den anderen | |
genannt wird. Jahrgang 1948, Babyboomer. Bekehrter 68er. Mit 26 Professor, | |
mit 41 in Stanford, heute Inhaber des Albert-Guérard-Lehrstuhls für | |
Literatur. „Unser Mann in Stanford“ wird er genannt, fälschlicherweise. Das | |
ist sein Claim to fame und Teil seiner öffentlichen Reputation. Dabei ist | |
er eben nicht auf eine Funktion als deutscher oder europäischer | |
Repräsentant zu reduzieren. Die Frage, „wen ich denn vertrete“, halte er | |
für inadäquat, wird er später mailen. Er sei „sein eigener Mann“. | |
Von Kalifornien aus ist er einer der wichtigsten und wirkungsmächtigsten | |
Intellektuellen Deutschlands. Kommt gleich nach Habermas. Obwohl diese | |
Einschätzung selbstverständlich umstritten ist. Um einen Kollegen zu | |
finden, der ihn für „überschätzt“ hält, genügt ein Anruf. Zu wenig | |
Fußnoten, zu viel Fußball? Ja, in Brasilien ist er ein bekannter | |
Sportkolumnist, weil er insistiert, dass Brasiliens große Fußballzeit | |
vorbei sei. Aber das ist nur eine Facette seines Spektrums, das über den | |
Wissenschaftszweig Komparatistik und auch das übliche | |
Generalisten-Portfolio eines öffentlichen Intellektuellen hinausweist und | |
sich zudem (häufig) der alten Links-rechts-Einordnung verweigert, | |
ungeachtet der Publikationsorte (meist FAZ und NZZ). „Ich schreibe für alle | |
Zeitungen in allen Ländern, die vernünftig bezahlen und mir ein | |
qualifiziertes Publikum geben“, sagt er. | |
Gumbrecht „polarisiert“, was manche ja für ein Charakterdefizit halten. | |
Speziell, wenn er Amerika verteidigt. Für ihn sind zugespitzte Positionen, | |
„riskantes Denken“, wie er das nennt, Grundvoraussetzung, um gehört zu | |
werden, um Widerstand auszulösen und zu sehen, was sich im Streit Neues | |
ergibt. | |
Er polarisiert, weil er es kann. Und weil es ihm Spaß macht. | |
Stanford liegt nicht direkt am Pazifik wie die UC Santa Barbara, hat auch | |
nicht die unvergleichliche Lage der UC Santa Cruz, aber fünf Minuten auf | |
dem Campus reichen, um definitiv zu wissen, dass privilegiert ist, wer hier | |
lebt, studiert oder gar lehrt. Besonders privilegiert ist, wer ein Büro im | |
Main Quad hat, im Zentrum dieser Welt. Vom Besucherstuhl aus sieht man die | |
unfallträchtige „Intersection of Death“, über die die Studierenden müsse… | |
wenn sie mit dem Fahrrad von einer Veranstaltung zur anderen hetzen. | |
„Auf diesem Stuhl saßen schon viele, die was geworden sind“, sagt | |
Gumbrecht. „Oder auch nichts.“ | |
Sein Freund Peter Sloterdijk saß schon öfter dort. Dem Karlsruher | |
Philosophen hat er gerade in der Paulskirche den Börnepreis verliehen. (Das | |
entscheidet ein jährlich wechselnder Juror allein.) | |
Gumbrecht erzählt, wie er ihm beim letzten Besuch in Stanford das | |
Manuskript wegnahm und ihn so zum freien Sprechen über ein freies Thema | |
zwang. Sloterdijk sei dann etwas nervös in den Hörsaal gegangen und habe | |
sehr eindrucksvoll über sein Opernlibretto gesprochen. Die Anekdote ist | |
eingebunden in seinen Versuch, das Besondere an Stanford zu erklären, | |
dessen Undergraduate-Studium das anspruchsvolle Ziel hat, einen jungen | |
Menschen binnen vier Jahren intellektuell reifen zu lassen und geistig | |
unabhängig zu machen (eine angemessen dotierte Stelle ist mit dem Abschluss | |
so gut wie sicher). | |
Gumbrecht ist offenbar blendend gelaunt, also im normalen kalifornischen | |
Öffentlichkeitsmodus. Er trägt seinen Gumbrecht-Schnauzer, gesund | |
aussehende Bräune, Jeans und ein oberarmfreies Muskelshirt. Sieht | |
jedenfalls so aus. Als er im Juni 65 wurde, war er gerade in Deutschland | |
auf akademischer Tour, und da schauten sie ihn mitleidig an. | |
Normalsterbliche können vermutlich nicht ermessen, was es für ein Drama | |
sein kann, wenn ein deutscher Professor bei der Emeritierung Sekretärin | |
oder gar Büro verliert. | |
In den USA gibt es aber keine Zwangspensionierung. Theoretisch könnte | |
Gumbrecht bis zum letzten Atemzug weitermachen. Faktisch hat er einen | |
Vertrag unterschrieben, in dem geregelt ist, dass er noch fünf Jahre auf | |
seinem Lehrstuhl bleibt. Bis 14. Juni 2018. Das ist der Tag vor seinem | |
siebzigsten Geburtstag. Danach kommt ein weiteres Jahr mit Büro und | |
Sekretärin „to unwind“, also zur Abwicklung. Und dann geht es auf andere | |
Art weiter. Das ist ja mal ein Arbeitgeber. Und ein Grund, warum er sich | |
zwar gern mal Business-Class einfliegen lässt, aber auf keinen Fall nach | |
Deutschland zurückwill. | |
Hat er nicht auch eine Verantwortung gegenüber Deutschland? Um die Frage | |
redet er einen großen Bogen, der darauf hinausläuft, dass er selbst im | |
Unibetrieb nie in den offiziellen Positionen war, in denen man | |
„Verantwortung“ exekutieren könnte. In den ersten Jahren als Professor | |
argwöhnte er, die Stimmen für ihn bei Dekanatswahlen würden unterschlagen, | |
weil er so jung war. Um das zu verifizieren, wählte er sich selbst. Und | |
hatte genau eine Stimme. Er habe angesichts dessen „früh für | |
Graue-Eminenz-Rollen geschwärmt“. | |
Er übt Einfluss als Berater aus. In Stanford, in Deutschland und sonst wo. | |
Über ein weltweites Netzwerk, zu dem viele Exstudierende gehören, die heute | |
in Entscheiderpositionen sind, etwa der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. | |
Gumbrecht war der Doktorvater und der eine von drei Gutachtern, den | |
Schirrmachers Doktorarbeit überzeugte. „Ich denke, Schirrmacher hat doch | |
bewiesen, dass mein Qualitätsurteil richtig war“, sagt er. | |
Gumbrecht sagt, man müsse sich in Stanford nicht „wie, zum Beispiel, in | |
Heidelberg“ Gedanken machen, ob man in der Welt der Gegenwart sei. Man sei | |
Teil einer intellektuell dynamischen Welt, in der ständig etwas passiere. | |
Im nächsten Gebäude werde möglicherweise gerade die neueste technologische | |
Entdeckung gemacht, im übernächsten sitze Chu und tüftele etwas aus. „Und | |
im übernächsten überlegt Condi, was sie alles bis an ihr Lebensende nicht | |
erzählen darf.“ | |
Dass Leute wie Rice, Chu, Shultz tatsächlich zurückgekommen seien, markiere | |
den Unterschied, sagt Gumbrecht, und eine „neue spezielle Attraktion dieses | |
Ortes“. | |
Er hat nicht nur Luhmann nach Stanford geholt und sich mit dem Kollegen | |
Richard Rorty ausgetauscht, einem der bedeutendsten linken Philosophen des | |
20. Jahrhunderts, er sucht und schätzt auch den Kontakt und Austausch mit | |
diesen konservativen Galionsfiguren, „weil er bei voller Offenheit der | |
politischen Differenzen zu haben ist“. | |
Und alles inmitten des Silicon Valley, das an Stanfords Brust genährt wird. | |
„Man hat den Eindruck eines permanenten leichten Erdbebens.“ Alles liegt | |
nur ein paar Autominuten entfernt: Die Campi von Google und Apple; | |
Facebook, Yahoo, Microsoft, eBay, PayPal, Linkedin, Tesla, Oracle in | |
Mountain View und Sunnyvale – und Twitter in Downtown San Francisco. Aber | |
auch die Armut und Gewalt von East Palo Alto. Die ganze andere Welt, in der | |
Kalifornien nicht der Nabel ist, sondern am Arsch. | |
Gumbrechts Schwärmen von Stanford und das positive Besetzen des | |
Elitebegriffes nervt manche in Deutschland, und noch mehr sein | |
amerikanischer Patriotismus. | |
Er ist seit März 2000 US-Bürger, und das demonstrativ. Von den Dauerkarten | |
für American Football, Baseball und Eishockey bis zu seinem Jeep Wrangler, | |
den er sich gleich am Anfang kaufte. Mit diesem Geländewagen fährt er | |
täglich rüber ins Büro, von seinem auf dem Campus liegenden Haus, in dem er | |
mit seiner zweiten Frau lebt, einer Künstlerin und ehemaligen Studentin von | |
ihm. Die vier Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. | |
„I am a product of American re-education“, sagt er. Ein Habermas-Zitat mit | |
mehreren Deutungsmöglichkeiten. Erstens: Er wurde oder hat sich in | |
Kalifornien umerzogen. Zweitens: Er kommt aus Würzburg, Amerikanische | |
Besatzungszone. Drittens: Westdeutsche bestimmter Jahrgänge sind im Sinne | |
Habermas’ nun mal US-amerikanisch geprägt. Also habt euch nicht so. Aber | |
manche halten es nun mal im Kopf nicht aus, wenn jemand heute in Sachen | |
Marxismus, Mao, Amerika anders denken will oder kann, als er das 1968 tat. | |
## Verhärtung des Denkens | |
Für Gumbrecht ist die Anziehungskraft des Marxismus jenseits der linken | |
Salons praktisch verschwunden. Er sieht das Progressive heimatlos, | |
jedenfalls nicht mehr bei der Babyboomer-Generation der europäischen | |
Linken, die darüber erstarrt sei, ihre ehemals halblinken Positionen nun | |
als Mainstream durchzusetzen. Die Veränderung allenfalls noch beim | |
Gleichheitsprojekt zulasse und anderes – etwa US-amerikanisches – Denken a | |
priori als illegitim und unmoralisch diskreditiere. „Die | |
Babyboomer-Generation hat sich das Altwerden nicht erlaubt“, sagt er und | |
zeigt auf sein Muskelshirt. „Deshalb geht sie davon aus, dass auch ihre | |
Meinung etwas Frisches hat.“ | |
Auch die Hippies und die Politischen unter den Babyboomern sind ja – | |
abgesehen von Einzelfällen – 1968 nicht wirklich aus der Gesellschaft | |
ausgestiegen. Es hört sich an, als frage Gumbrecht sich, ob sie nun | |
aussteigen. „Sollte die Melancholie im Zentrum der Gegenwart am Ende nicht | |
mehr – und nicht weniger – sein als die Stimmung meiner Generation, welche | |
dabei ist, die Sorge um die Menschheit und ihr Schicksal der nächsten | |
Generation zu überlassen“, schreibt er in seinem FAZ-Blog. | |
Zugespitzter gefragt: Verlassen die 68er-Ratten das sinkende Schiff und | |
machen sich noch ein paar schöne Jahre auf Mallorca oder in der Berliner | |
Zweitwohnung? | |
Nein, antwortet er später auf postalische Nachfrage, er habe nichts gegen | |
Zweitwohnungen, persönlich aber lieber eine in Santiago oder Kioto als in | |
Berlin. | |
Es sei aus seiner Perspektive „kein Aussteigen“, sondern „eine absolute | |
Verhärtung des Denkens, eine Verweigerung, umzudenken“. | |
Mag sein, dass er sich wie jeder Großprofessor manchmal fragt, was wirklich | |
von ihm bleibt. Aber wer ihm, wie ein germanistischer Fachkritiker es tat, | |
persönliche und damit unrepräsentative „Altersmelancholie“ bescheinigt, h… | |
ganz sicher kein Interesse an seiner Bereitschaft zur Selbstkritik. In | |
seiner Gegenwartsdiagnose ist er nah bei seinem Kollegen Harald Welzer, | |
wenn er in seinem letzten Buch „Nach 1945“ feststellt, dass angesichts der | |
sich gegenseitig potenzierenden Klima-, Energie-, Nahrungs- und | |
Finanzkrisen des 21. Jahrhunderts der Glaube an eine individuell oder | |
kollektiv zu kontrollierende Zukunft verloren gegangen sei. Zukunft werde | |
nicht mehr als ein Horizont offener Möglichkeiten erlebt, sondern als näher | |
kommende und nicht vermeidbare Bedrohungen. | |
Jetzt – während draußen eine weitere Touristengruppe vorbeilärmt – ist d… | |
Moment gekommen, in dem Gumbrecht seine kalifornische Inkarnation verlässt. | |
Die Technologieunternehmen und -milliardäre im Silicon Valley verändern | |
zwar die Welt inzwischen stärker als die Politik, aber dass sie oder | |
Öko-Engineering aus Stanford deren existenzielle Probleme lösen werden, | |
glaubt er bei aller Standortemphase nicht. Auch den neoökobürgerlichen Teil | |
der deutschen Gesellschaft sieht er letztlich von Fortschrittsverweigerung | |
motiviert. | |
Sein ältester Sohn ist Oberstleutnant der deutschen Luftwaffe. Dessen | |
Kinder, seine beiden Enkel, sind fünf und drei und haben eine | |
Lebenserwartung von über 100 Jahren. Sie könnten also das 22. Jahrhundert | |
erreichen. Theoretisch. Wie – darüber denkt er ungern nach. | |
„Individualpsychologisch gesehen bin ich so pessimistisch, was die Zukunft | |
angeht, dass ich mir es existenziell gar nicht leisten kann, meine | |
Prognosen oder Zukunftsbilder auszuleben“, sagt Gumbrecht. | |
Der Satz steht im krassen Gegensatz zu seinem kalifornischen Muskelshirt. | |
17 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
PETER UNFRIED | |
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