| # taz.de -- Schauspiel Hannover: Klimbim aus dem Erbauungsfundus | |
| > Die Ära des neuen Intendanten Lars-Ole Walburg begann durchmischt: | |
| > Während die von Walburg selbst inszenierte Premiere mit Stücken von | |
| > Heiner Müller und Ilja Ehrenburg wunderbares Theater zeigte, verbreitete | |
| > der "Simplicissimus" gähnende Langeweile, und das Arbeitslosendrama "Da | |
| > ist nichts leer" hinterließ kraft seines missglückten Settings | |
| > Ratlosigkeit. | |
| Bild: Versteinerter DDR-Alltag in Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee" | |
| "Auf sehr kreative Art Steuergelder verschleudern" - so erklärt Lars-Ole | |
| Walburg, der neue Intendant des Schauspiels Hannover, Sinn und Zweck des | |
| Staatstheaters. Das zeugt von großem Selbstbewusstsein. Denn dieser Satz | |
| kann einem auch um die Ohren fliegen, wenn das runderneuerte Ensemble den | |
| selbst gesetzen Ansprüchen nicht gerecht wird. Zumal in Hannover, wo die | |
| Intendanten Wilfried Schulz und vor allem Ulrich Khuon die Latte ziemlich | |
| hoch gelegt haben. | |
| Wohin die Reise geht, ist nach den ersten Arbeitsproben nicht ganz klar. | |
| Den Anfang machte eine Prozession, die vom Schauspielhaus in die Karstadt- | |
| und Kaufland-Ödnis der City führte. Dort wurde es dann gleich todernst. | |
| Walburg hatte zur Besichtigung eines Suizids gebeten. "Da ist nichts leer, | |
| alles voller Gewimmel - Autopsie einer Auslöschung" hieß das, nun ja, Stück | |
| der freien, dem Schauspiel assoziierten Theatergruppe "Kulturfiliale". | |
| Es ging um Hendrik Pohl, der alles verloren hat: "seine Arbeit, seine Frau, | |
| seine Zuversicht - und den Glauben an die Hilfe des Staats". Er bezieht | |
| eine Bretterbude und hört auf zu essen. "In der selbst gewählten | |
| Isolationshaft mitten im Herzen der Stadt macht sich Hendrik Pohl bereit | |
| für seine eigene Auslöschung", drohte das Programmheft. | |
| Vorlage war ein reales Drama aus dem Jahr 2007. Damals radelte ein | |
| Arbeitsloser aus Hannover in die Waldeinsamkeit des Solling, erklomm einen | |
| Jägerhochsitz und hungerte sich zu Tode. Bei dem mumifizierten Leichnam | |
| wurde ein Tagebuch gefunden. Es liegt heute bei der Staatsanwaltschaft und | |
| ist, sagen die wenigen, die es lesen durften, ein ergreifendes Dokument. | |
| Dieses Adjektiv mochte einem nicht einfallen, als der Mime Philippe Goos | |
| nach fünf Tagen etwas blass, aber pumperlgesund die Leiter seiner Klause | |
| herabstieg, die in zwei Metern Höhe an der einzig greifbaren Baumkrone | |
| vertäut worden war. Dort hinauf und hinein hatte sich auch der Hannoveraner | |
| zu verfügen, sofern er bereit war, "die Anonymität des Zuschauers | |
| aufzuheben und sich mit der Figur auseinanderzusetzen". | |
| Goos improvisierte mal mehr, häufig weniger inspiriert über Depression, | |
| Einsamkeit und Sinnverlust. Das Häuflein Passanten, das sich traute, tat | |
| gutwillig mit, hangelte sich aber eher ratlos zurück auf den Boden der | |
| Tatsachen. Den treffendsten Kommentar zu den gesammelten Banalitäten | |
| lieferte ein Arrangement aus Milch, Bananen und Traubenzucker, das der | |
| Spender mit einem Pappschild versehen hatte: "Mensch, Hendrik, iss doch mal | |
| was." | |
| Schuld hatte nicht zuletzt das unglaubwürdige Setting. Der echte Lebensmüde | |
| war 58 Jahre alt und eine gescheiterte Vertreterexistenz. Er hatte mit | |
| allem abgeschlossen, vor allem mit seinen Mitmenschen. Goosens Hendrik Pohl | |
| ist 31, eine ennervierende Plaudertasche und Ingenieur für erneuerbare | |
| Energien. Das so einer heutzutage keinen Job findet, würde nicht mal Oskar | |
| Lafontaine behaupten. Noch kruder war der Ansatz der Kulturfilialisten, die | |
| fehlende dramatische Würze durch Klimbim aus dem christlichen | |
| Erbauungsfundus zu ersetzen - tägliche Andachten, Live-Gezimbel in Moll und | |
| ein abschließendes Abendmahl. | |
| Drei Stunden nach der missglückten Auslöschung traf sich tout Hannover im | |
| Schauspielhaus zur ersten offiziellen Premiere. Und siehe da, hier zeigte | |
| sich, wie viel Potenzial in Walburgs Mannschaft steckt. Auf dem Programm | |
| stand ein Doppelpack aus Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee" und Ilja | |
| Ehrenburgs "Das Leben der Autos". Angerichtet hatte der Chef persönlich. | |
| Die Inszenierung bot Rasanz, tolle Darsteller, ausgebufftes Handwerk, eine | |
| unterhaltsame Lektion in deutscher Geschichte samt jener Sorte | |
| Kapitalismuskritik, die auch Abonnenten der Steuerklasse eins goutieren. | |
| Ehrenburgs 1929 geschriebenes Prosastück ist ein hochkomischer Parforceritt | |
| durch die Abgründe von Öl- und Kautschukkriegen, Kartell- und Börsenwahn, | |
| Ausbeutung und Niedertracht. In Hannover wurde es von einem grotesk | |
| ausstaffierten Clownsquintett präsentiert, das Walburg zu einem | |
| anarchischen, aber jede Pointe genau treffenden Trupp geformt hatte. Die | |
| Schauspieler glänzten solo und als kompakter Sprechchor, sie sangen und | |
| purzelbaumten, als hätten sie ihr Handwerk bei Slapstick-König Hal Roach | |
| gelernt. Am Ende dröhnte Rammsteins "Amerika" aus den Boxen und das | |
| Auditorium klatschte sich die Hände wund. | |
| Die Ovationen hatte schon Teil eins der Aufführung verdient. Heiner Müllers | |
| Texttrumm ist eine sprachgewaltige Studie menschlichen Geworfenseins im | |
| Allgemeinen und deutscher Befindlichkeiten im Besonderen, durchexerziert am | |
| Beispiel der DDR. Deren Geschichte beginnt, laut Müller, 1941 kurz vor | |
| Moskau in einem Waldstück an der Wolokolamsker Chaussee. Hier stoppte die | |
| rote Armee unter horrenden Verlusten den Vormarsch der Wehrmacht. | |
| Robert Schweer hatte eine torfbeschichtete Brache ausgelegt, die Walburg | |
| zum Schlachtfeld zwischen Individuum und Gesellschaft werden ließ und in | |
| drei Szenen durchmaß: Die erste verhandelt das Frontdrama aus Hoffnung, | |
| Todesangst und Terror im Dienst der guten sowjetischen Sache, die zweite | |
| das Jahr 1953, als russische Panzer die blutig erkämpfte Utopie | |
| niederwalzen, die dritte spielt im Jahr 1968, diesseits wie jenseits der | |
| Mauer ein Markstein des Generationenkonflikts. Schweers Bühnenbild zauberte | |
| das realsozialistische Idyll per Fahrstuhl aus dem Boden, während die | |
| Darsteller den rapide versteinernden DDR-Alltag in virtuos choreografierten | |
| Bildern abmalten. | |
| Das war zweifellos wunderbares Theater und eine stimmiges Exempel | |
| sinnleeren Herumhomunkelns. Das hatte man auch von der Dramatisierung des | |
| "Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch" erwartet, Grimmelshausens | |
| barockem Schelmenroman aus dem 30-jährigen Krieg, das Thomas Mann völlig zu | |
| recht "ein Erzählwerk von unwillkürlichster Großartigkeit" genannt hat. | |
| Gemessen daran waren die sichtbaren Mühen von Regisseur Florian Fiedler | |
| vertane Zeit - zäh und humorlos verrannen zweieinhalb Stunden, in denen das | |
| Personal mal an Stricken von der Decke baumelte, viel zu oft schlechte | |
| Songs vortrug und die übrige Zeit damit beschäftigt war, existenzialistisch | |
| grummelnd über ein Gräberfeld zu wanken. | |
| 6 Oct 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Quasthoff | |
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