# taz.de -- SPD-Politiker Carsten Schneider: Der Dauerleister | |
> Wie tickt die nächste Politikergeneration? Der SPD-Politiker Carsten | |
> Schneider war mal Radsportler in einer DDR-Kaderschmiede. Dann wurde er | |
> Jüngster im Bundestag. | |
Bild: Was ihm in der Politik Spaß macht? Die Öffentlichkeit. Carsten Schneide… | |
Sportfans kennen diese legendäre Szene der Tour de France 1997: Udo Bölts, | |
Edelhelfer des jungen Rennradgotts Jan Ullrich, schreit seinen auf der | |
letzten Bergetappe schwächelnden Chef an: „Quäl dich, du Sau!“ Ullrich | |
quälte sich und gewann. Es blieb, so talentiert und so gedopt er war, sein | |
einziger Toursieg. | |
Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der SPD, zitiert den | |
Vorfall mit einem abgründigen Lächeln, während er mit Sorgfalt und Genuss | |
Rouladen mit Rotkraut und Knödeln im Garten des Bundestagskasinos verzehrt. | |
Kurz fixiert er mich durch seine schwarz gerahmte Brille: Er schätzt ab, | |
mit wem er hier spricht. | |
Jedenfalls weiß er, wovon er spricht. 1990 wurde der gebürtige Erfurter an | |
eine Kinder- und Jugendsportschule, eine jener berühmt-berüchtigten | |
Kaderschmieden der DDR, delegiert. Da war er 14 und hatte schon eine | |
vierjährige Karriere als Radsportler hinter sich. Sein damaliges Leben war, | |
so sagt er, „total ausgetaktet“: Schule und Training, Training und Schule. | |
Die Wende rettete ihn vor weiterer Schinderei, er hat sie als große | |
Freiheit erlebt. Plötzlich war er das extreme Leistungsdiktat los: Keine | |
Sportschule, kein Trainingszwang, ein wunderbarer herrschaftsfreier Raum | |
tat sich auf. Die Lehrer hatten, so sagt er, die Autorität verloren, und | |
seine Mutter war mit dem Stiefvater in den Westen gegangen. | |
Mit 14 war Carsten allein zu Haus: Der Traum jedes Jugendlichen – und | |
zugleich eine grandiose Einladung zum Versacken. Wer dem entgehen will, | |
muss auf sich aufpassen lernen, sich die Eltern ersetzen, sein eigener | |
Vater, seine eigene Mutter werden. Parentifizierung nennen die Psychologen | |
das. | |
## Das Kind von Kindern | |
Ohne den Vater auskommen: zumindest damit hatte Carsten Erfahrung; den | |
leiblichen hatte er durch die Trennung der Eltern schon im Alter von acht | |
Jahren verloren. Er verbirgt nicht, wie bitter es für ihn war. Aber er ist | |
weit davon entfernt, daraus eine Anklage zu machen. Sein Vater war 17, | |
seine Mutter 19 Jahre alt, als er zur Welt kam, sagt er sachlich. Er ist, | |
könnte man sagen, das Kind von Kindern, seinem Leben scheint der Zwang zur | |
Selbstermächtigung eingeschrieben: Autonomie als Schicksal. | |
Andere wären daran zerbrochen oder, spätestens in der unerwarteten | |
Wendefreiheit, ausgeflippt. Schneider verbringt in dieser Zeit viele Nächte | |
mit Computerspielen. Aber er bleibt auf dem Boden, wird kein Nerd oder | |
Realitätsverweigerer. Die früh erworbene Disziplin sitzt ihm in den Knochen | |
und stützt ihn: einsam und mit Fleiß schafft er den Übergang zur | |
Oberschule. Der Spruch von Bölts ist noch nicht gesagt, da ist er schon so | |
etwas wie Carsten Schneiders Lebensmotto. | |
Der Kellner räumt ab. Schneiders Teller ist gründlich geleert. Brav, denke | |
ich, und frage, wie die Politik in sein Leben kam. Er stößt den Rauch | |
seiner Zigarette in den Himmel und erzählt von der Aufbruchphase zwischen | |
Mai 89 und Mai 90 und dann vom Schock des Jahres 1992. Rostock-Lichtenhagen | |
und Hoyerswerda: brennende Asylbewerberheime, jubelnde Rechtsradikale, | |
ratlose Betrachter. Ein Schlüsselerlebnis für den 16-Jährigen. „Das konnte | |
man einfach nicht hinnehmen.“ | |
Er engagiert sich, geht auf Antifa-Demonstrationen. Ein Freund nimmt ihn | |
mit zu den Jusos: vom Gefühl her nicht unbedingt seine politische Heimat, | |
aber die Chance, eine „kritische Alternative“ aufzubauen. Mit Freunden | |
entwickelt er eine politische Zeitschrift. | |
Nach dem Abitur hat er einen Studienplatz für Jura, aber in der Zeit, sagt | |
Schneider, war alles unsicher. Er entscheidet sich für eine Banklehre. | |
Sicher ist sicher. Erneut wird das Parentifizierungsthema deutlich: Die | |
Argumente, die für die wenig attraktive Lehre sprechen, erinnern an | |
Ratschläge besorgter Eltern. Den Ausschlag gab das Votum seiner damaligen | |
Freundin. Mit ihr hat er, so kommt es bei mir an, über sich und seine | |
Lebensplanung geredet wie über ein ihnen anvertrautes Kind. Heute ist sie | |
seine Ehefrau. | |
## Jüngster Bundestagsabgeordneter | |
Die Entscheidung fürs Solide wird das Tor für seine politische Karriere. | |
Als es im Vorfeld der 1998er Wahl um die Kandidatenkür geht, bringen die | |
Erfurter Jusos Schneiders Namen ins Spiel, nicht zuletzt, weil er einen | |
Beruf hat. Parteiintern mit nur einer Stimme Vorsprung nominiert, gewinnt | |
er, zum Erstaunen aller, seinen Wahlkreis. Mit 22 ist Carsten Schneider der | |
jüngste Bundestagsabgeordnete. | |
Wenn er heute darüber spricht, klingt es immer noch so, als dächte er | |
öffentlich über ein Lebensrätsel nach. Wer bin ich eigentlich? | |
Wahrscheinlich hat er sich diese Frage nie so oft gestellt wie in jenem | |
Jahr zwischen seiner Nominierung und der Bundestagswahl, dem schwersten | |
seines politischen Lebens. Er hat, wie jeder Anfänger, Fehler gemacht, ist | |
in Fettnäpfchen getreten. Schneider sagt das in seinem typischen Tonfall, | |
ruhig und betont sachlich. Aber noch in der erinnernden Erzählung wird | |
etwas von der Qual der Überforderung spürbar. | |
Man hatte ihm sogar angeboten, die Kandidatur zurückzuziehen. Das wäre die | |
wirkliche Blamage gewesen. Also hat er sich durchgebissen. Carsten | |
Schneider ist einer, der sich das „Quäl dich!“ jederzeit selber zurufen | |
kann: einer, für den es zum Leben gehört, sich zu immer besseren Leistungen | |
anzutreiben und niemals aufzugeben. Diesen Herbst will er beim | |
Berlin-Marathon erstmals die Vierstundengrenze knacken. | |
## „Ungerechtigkeit macht mich wütend“ | |
Beim Espresso frage ich mich, wie das Schlüsselereignis von 1992 mit seinem | |
heutigen politischen Fokus, der Finanzpolitik, zusammenhängt: | |
Ausländerfeindliche Gewalt und Schuldenbremse – ich sehe keine plausible | |
Verbindung. Schneider schüttelt den Kopf: Diese Gewaltexzesse, was sind sie | |
anderes als das Ventil der Verlierer, der Chancenlosen? Der Staat müsse | |
Chancengleichheit garantieren, auch um den sozialen Frieden zu | |
gewährleisten, er müsse Angebote machen können – und die Verschuldung | |
schränke seine Handlungsfähigkeit ein. Es gehe dabei letztendlich um | |
Gerechtigkeit, sein grundlegendes Thema. Auch das sagt er leise, aber mit | |
Nachdruck: „Ungerechtigkeit macht mich wütend. Da kann ich radikal werden.“ | |
Ich bin überrascht über die spürbare innere Erregung hinter der ruhigen | |
Fassade. „Ich hasse“, sagt er, „die geborenen Söhne und Töchter.“ Die… | |
Lebensleistung nichts vorzuweisen haben außer einer Erbschaft. Deshalb sei | |
er hier für eine hohe Besteuerung. Wieder schaut er mich prüfend an. | |
„Manchmal muss ich den Leuten sagen, dass ich mich aufrege, damit sie es | |
merken.“ Wieder das abgründige Lächeln. „Laut war ich nie.“ Es ist, als | |
sagte er mir: Hör genau hin und begreif! | |
Nein, ein „geborener Sohn“ ist Schneider gewiss nicht. Ich verstehe seinen | |
Affekt; auch dass er mit seiner Emotionalität sorgfältig, ja sparsam | |
umgeht. Sich selbst gegenüber und – klar – desto mehr gegenüber einem | |
Fremden. Unter seinem taxierenden Blick erlebe ich ein mir unbekanntes | |
Ineinander von Rationalität und Gefühl. Möglich, dass er es selbst nicht | |
weiß, aber dieser Mann repräsentiert eine Art moralischer Ökonomie, die, | |
ganz ohne Pathos, davon lebt, den Mikrokosmos seiner Lebenserfahrung im | |
politischen Makrokosmos abzubilden und zur Handlungsmaxime zu machen. | |
Was ihm in der Politik Spaß macht? Die Antwort könnte direkter nicht sein: | |
die Öffentlichkeit. Schneider liebt die parlamentarischen Debatten. Mit | |
Sachkunde, aber pointiert zu reden, Auseinandersetzung zu erzwingen, danach | |
sei er ein bisschen süchtig geworden. Und, ja: Lokalpolitik. Immer noch | |
verbringe er 40 Prozent seiner Zeit in Erfurt. Hier kann er vor Ort Dinge | |
bewirken, Initiativen anschieben – und bekommt unmittelbares Feedback. | |
## Familie geht vor | |
Und wenn er Finanzminister wird? Er schüttelt den Kopf: Klar würde ihn das | |
reizen. Aber solche Posten würden nicht nach Kompetenz, sondern nach | |
politischem Gewicht vergeben. Dazu bräuchte er mehr Rückhalt in der Partei. | |
Dafür zu werben, sei zu zeitaufwändig. Da gehe die Familie eindeutig vor. | |
Abwarten, denke ich. Ähnliches habe ich schon zu oft gehört. Sosehr ich dem | |
Vater von zwei Kindern den Familienmensch abnehme und auch seine Lust am | |
Abschalten, Sporttreiben, Lesen und Angeln: sein Ehrgeiz ist zu groß, als | |
dass er nicht nach den Sternen greifen würde. Er wird auf seinen Moment | |
warten, wird dann mit klarer Strategie vorgehen. Und mit der Zähigkeit des | |
Dauerleisters, der nicht aufgibt; der immer wieder den Bölts in sich | |
aktivieren und sich quälen kann. Carsten Schneider hat noch viel zu | |
gewinnen. Etappe für Etappe. | |
2 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Schneider | |
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