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# taz.de -- SOLANGE ICH LEBE, BIN ICH DAMIT BESCHÄFTIGT, MICH AN DINGE ZU GEW�…
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Der Herbst kommt. Irgendwie wird alles gelblich und rötlich, die Sonne
steht tief, Kürbisse liegen rum, und die Fischbeker Heide ist schon fast
verblüht. Das heißt, dass Weihnachten anfängt. Sobald August aufhört oder
sich dem Ende zuneigt, und erst recht, wenn der Herbst schon farblich
angefangen hat, ist auch schon die schöne Weihnachtszeit da. Geschäftsmäßig
gibt es nur: ein halbes Jahr ohne Weihnachten. Und ein anderes mit.
In Lüneburg wird jetzt auch ganz offiziell nach dem Weihnachtsbaum gesucht.
Aber ich will mich gar nicht darüber aufregen, ich habe mich daran gewöhnt.
Ich gewöhne mich an so vieles, das Leben konfrontiert mich mit immer Neuem,
und solange ich lebe, bin ich damit beschäftigt, mich an die Sachen zu
gewöhnen, die um mich herum passieren.
Auch wenn es mir sehr schwerfällt, mich an Leserkommentare zu gewöhnen.
Also an diese Kommentare, die Leute mit Namen wie „Ein Steuerzahler“, oder
„Rentner“ abgeben zu irgendwelchen online zu lesenden Artikeln. Auch wenn
ich bei manchen Artikeln schon weiß, was da für Kommentare drunter stehen
werden, gewöhne ich mich nicht daran. Es sind teils immer dieselben
Kommentare, es fragt sich zum Beispiel immer irgendjemand, ob es nicht
wichtigere Themen gebe. Die Relevanz eines Themas aber erkennt man daran,
ob „ein Steuerzahler“ es dafür hält. Man müsste ihn also vielleicht einf…
immer fragen.
Die Landesjägerschaft Niedersachsen hat einen neuen Wolfsbeauftragten,
Raoul Reding, und das empört sehr viele Kommentarschreiber, weil es doch
Wichtigeres zu regeln und zu finanzieren gebe – so ist nun angeblich Geld
für Wölfe da, aber nicht für saubere Schultoiletten oder intakte Straßen;
Straßen werden an solcher Stelle immer mit ss geschrieben: „Strassen“, aber
das bedeutet sicher nichts.
Das Problem mit den Schultoiletten kenne ich seit meiner Kindheit. Ich weiß
nicht, ob irgendeine Generation saubere Schultoiletten kannte. Und in
meiner Schule damals, da gab es wohl Putzkräfte, die die Schultoiletten
putzten, aber geputzt waren sie halt nur am Morgen, am Nachmittag sahen sie
ungefähr so aus, wie Schultoiletten nun mal aussehen. Das liegt aber nicht
etwa an kleinen Schmuddelkindern, nein: Das liegt an der Regierung. Die
kümmert sich lieber um Wölfe als um Kinder. Man weiß es.
Straßen sind sowieso vernachlässigt. Die „Strassen“ sind in Deutschland d…
vernachlässigste Thema überhaupt. Nirgendwo auf der Welt wird der
Autofahrer so wenig beachtet und gefördert wie in Deutschland. Straßen sind
das Stiefkind der Nation. Dabei bedenke man, welche Freude einem eine gut
gepflegte Straße macht, welche Lust es bereitet, wenn der Autofahrer frank
und frei, und vor allem schnell, über eine holperfreie Straße sausen kann,
aber nein, da wird Geld in einen Wolf gesteckt, den keiner haben will, der,
im Vergleich mit einer Straße, überhaupt keinen Nutzen bringt. Rennt bloß
rum und frisst Schafe. Und Schafe sind immerhin mittelnützlich.
Nützlichkeit ist überhaupt das A und O. Sie bemisst sich daran, was etwas
dem Menschen einbringt. So sind Wölfe also von der Nützlichkeit her im
Minusbereich, eine Straße liegt ganz oben, ein Schaf ist so mittelnützlich,
wegen Fleisch und Wolle und weil es die Wiesen pflegt. Der Mensch wird
durch das Verspeisen mittelnützlicher Schafe nicht per se schädlich, der
Wolf wiederum schon. Würde der Wolf zum Beispiel mal anfangen, Insekten zu
vernichten, hätten wir nichts gegen ihn, so aber wird er, das prophezeie
ich, keine großen Überlebenschancen haben. Auch wenn das einen neuen
Wolfsbeauftragten vielleicht arbeitslos macht, der dadurch wieder unnütz
wird. Die Welt ist kompliziert.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen
Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“
ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
28 Sep 2016
## AUTOREN
Katrin Seddig
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