# taz.de -- Rückversicherung auf vier Beinen | |
> ZUCKERKRANKHEIT Früher hat Birgit Scheele sich rund um die Uhr um ihren | |
> diabeteskranken Sohn gekümmert, musste jede Nacht mehrmals aufstehen. | |
> Dann kam der Collie-Mischling Ben. Aber die Krankenkassen übernehmen die | |
> Kosten für solche Assistenzhunde nicht | |
AUS HANNOVER BIRK GRÜLING | |
Seit seinem vierten Lebensjahr produziert Tim Scheeles Bauchspeicheldrüse | |
kein Insulin mehr: Diabetes-Typ 1. Heute ist er 16 und auf eine Pumpe | |
angewiesen, die rund um die Uhr kleine Mengen Insulin abgibt. Doch seine | |
Werte schwanken. Bis zu zwölf Mal am Tag muss er seinen Blutzucker messen, | |
gegebenenfalls manuell nachbessern. Aber nicht nur Tim und seine Mutter | |
Birgit haben den Blutzuckerspiegel ständig im Blick, sondern auch der | |
Collie-Mischling Ben. | |
Der Rüde ist ein ausgebildeter Diabetikerwarnhund. Er ist kein Ersatz für | |
die Blutzuckermessung, eher eine vierbeinige Rückversicherung. Zuhause in | |
Hannover weicht er Tim selten von der Seite, liegt bei den Hausaufgaben | |
unter seinem Schreibtisch, schläft nachts mit im Bett. Stimmen Tims Werte | |
nicht, macht Ben sich bemerkbar: Anstupsen bei zu hohen Werten, Kratzen bei | |
zu niedrigen. Ignoriert Tim diese Hinweise, bellt Ben oder rennt zu Birgit | |
Scheele. „Der Hund ist eine große Erleichterung“, sagt sie. Früher war sie | |
im 24-Stunden-Einsatz, stand jede Nacht mehrmals auf. Heute gibt es Ben. | |
Wie genau Hunde die Blutzuckerschwankungen wahrnehmen, ist unklar. „Es ist | |
zwar nicht wissenschaftlich belegt, aber ich habe schon häufiger gehört, | |
dass es funktioniert“, sagt Werner Scherbaum, Diabetesforscher von der | |
Universität Düsseldorf. Im Klinikalltag hatte er immer wieder mit Patienten | |
und ihren Hunden zu tun. Der Mediziner war so beeindruckt, dass er einen | |
Aufruf startete und 33 Fälle wie den der Familie Scheele fand. | |
Wissenschaftlich fundierte Studien gibt es aber nicht, nur einzelne | |
Fallberichte. „Es ist noch nicht klar, ob die Hunde es riechen, wenn jemand | |
unterzuckert ist oder ob sie es am Verhalten festmachen“, sagt Scherbaum. | |
Möglicherweise erkennen die Diabetikerwarnhunde am Atem, einer veränderten | |
chemischen Zusammensetzung des Schweißes und am unbewussten Verhalten des | |
Erkrankten, wenn etwas nicht stimmt. | |
Wenn ein Diabetiker stark überzuckert, können das auch Menschen riechen. | |
Bei einer Unterzuckerung ist das nicht möglich. Allerdings verraten nervöse | |
Fahrigkeit und lallende Sprache das Abfallen des Blutzuckers. Hunde haben | |
deutlich feinere Antennen. So ist die Riechschleimhaut der Hundenase bis zu | |
180 Quadratzentimeter groß und mit über 200 Millionen Riechzellen | |
ausgestattet. Etwa ein Zehntel des Gehirns ist für den Geruchssinn | |
zuständig, überproportional viel. | |
Nur eine gute Nase greift als Erklärung jedoch zu kurz. Wahrscheinlich ist | |
es das Wahrnehmungsgesamtpaket der Hunde. So ist das Hundeauge stärker auf | |
Bewegungen fokussiert und kann etwa doppelt so viele Bilder pro Minute | |
wahrnehmen wie das menschliche Auge. Das hilft bei der Beobachtung von | |
Beutetieren und beim nonverbalen Zusammenleben im Rudel. Die Fähigkeiten, | |
schon kleinste Veränderungen in Mimik und Körpersprache zu registrieren und | |
darauf zu reagieren, wenden die Hunde auch auf die Menschen an. Im engen | |
Zusammenleben entwickeln die Hunde so ein aufmerksames Gespür für ihr | |
menschliches Rudel, für Veränderungen im Verhalten, der Stimme oder | |
Körperhaltung. | |
Aber nur sehr wenige Tiere sind für die Ausbildung zum Diabeteswarnhund | |
geeignet. „Ein potenzieller Warnhund ist überaus sensibel, extrem | |
menschenbezogen und sehr gelehrig“, sagt Simone Barret, so etwas wie die | |
deutsche Pionierin der Warnhund-Ausbildung. Aus den USA brachte sie die | |
spezielle Hundeausbildung nach Deutschland, ins niedersächsische Osterode. | |
Barret hat selbst Diabetes-Typ-1 und ist im Alltag auf ihren Hund Finn | |
angewiesen. Wie Ben spürt der Rüde schon kleinste Zuckerschwankungen und | |
macht sich bemerkbar. Schätzungsweise einer von 1.000 Hunden kann das. Wenn | |
die Voraussetzungen stimmen, ist der Rest vor allem eine Frage der Übung. | |
Ähnlich wie bei Spür- oder Blindenhunden beginnt die Ausbildung der | |
Diabeteswarnhunde im Welpenalter. Mit Duftproben und täglichem Training | |
lernen die Hunde ihre Nase gezielt einzusetzen, Warnsignale zu geben und | |
etwa 250 verschiedene Kommandos zu befolgen. Verstärkt wird das Verhalten | |
durch Belohnungen. „Ohne ständiges Lob wird der Hund frustriert“, sagt | |
Barret. | |
Auch Collie-Mischling Ben wurde im Assistenzhundezentrum von Barret in | |
Osterode ausgebildet. „Wir haben täglich mit ihm geübt, immer in enger | |
Abstimmung mit der Hundeschule“, erzählt Scheele. | |
Knapp 10.000 Euro kostet eine solche Ausbildung. Finanzielle Unterstützung | |
der Krankenkassen gibt es nicht. Dafür ist die Studienlage einfach zu | |
schlecht. Außerdem fehlen Qualitätsstandards zur Ausbildung der Hunde. Von | |
viel Halbwissen über die Wirksamkeit profitieren so auch schwarze Schafe am | |
Markt. Zahlreiche selbsternannte Hundetrainer bieten im Netz ihre Dienste | |
an. Ob der bei ihnen ausgebildete Hund am Ende Blutzuckerschwankungen | |
anzeigt oder nicht, ist dann Glückssache. | |
Aber potenzielle Kunden gibt es genug: Laut der Deutschen Diabetes-Hilfe | |
sind etwa sechs Millionen Deutsche erkrankt. Pro Jahr kommen viele Tausend | |
hinzu. | |
30 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
BIRK GRÜLING | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |