# taz.de -- Rückführungen in den Iran: Abschiebestopp aufgehoben | |
> Die Menschenrechtslage im Iran bleibt wegen Hinrichtungen, Folter und | |
> Willkür katastrophal. Deutschland will dennoch wieder dorthin abschieben. | |
Bild: Eine Kundgebung in Berlin zur Unterstützung der Proteste im Iran | |
BERLIN taz | Seit Neujahr müssen viele schutzsuchende Iraner*innen in | |
Deutschland wieder Abschiebungen in die Islamische Republik fürchten. Ein | |
in allen 16 Bundesländern geltender Abschiebestopp in den Iran wurde auf | |
der Innenminister*innenkonferenz (IMK) im Dezember nicht | |
verlängert und lief zum 31.12.2023 aus. [1][Einzig in Berlin läuft noch bis | |
Ende Februar ein genereller Abschiebestopp]. | |
Für Abschiebungen in den Iran gilt damit von nun an nur noch eine | |
zielstaatsbezogene Sonderreglung: Asylanträge von politisch besonders | |
gefährdeten Menschen gehen in ein beschleunigtes Verfahren. Der | |
Personenkreis ist jedoch stark begrenzt: Die Regelung gilt nur für | |
diejenigen, die unter anderem nachweisen können, „in besonders | |
herausragender und langjähriger Weise in der Menschenrechts- oder | |
Oppositionsarbeit aktiv“ gewesen zu sein, schreibt die Pressestelle des | |
Bundesinnenministeriums (BMI) auf Rückfrage der taz. | |
Normale Asylverfahren für einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Deutschland | |
waren für Iraner*innen zwar nie ausgesetzt, aber sie waren während des | |
generellen Abschiebestopps nicht notwendig, um zumindest vorübergehend | |
einer Abschiebung zu entgehen. Von nun an müssen alle schutzsuchenden | |
Iraner*innen wieder individuell beim Bundesamt für Migration und | |
Flüchtlinge (BAMF) ihre Asylgründe glaubhaft machen – im Zweifel, und wenn | |
finanziell überhaupt möglich, auf dem Rechtsweg. | |
Wie schwer das im Einzelfall ist, zeigen [2][aktuelle Grundsatzurteile des | |
Oberverwaltungsgerichts (OVG) Schleswig]. Dem Berufungsantrag eines Mannes | |
aus der im Iran diskriminierten arabischen Minderheit der Ahwazi wurde zwar | |
stattgegeben. Allerdings nur, weil er namentlich als Mitorganisator einer | |
Demonstration auf der Website einer Menschenrechtsorganisation genannt war, | |
die sich für die Belange der Ahwazi einsetzt. Das könne ihm als | |
regimekritisch ausgelegt werden, heißt es in der Pressemitteilung zum | |
Urteil. | |
Eine Zugehörigkeit zu den Ahwazi allein hätte hingegen nicht für den Erhalt | |
einen Schutzstatus genügt. „Trotz zahlreicher faktischer Diskriminierungen | |
und Einschränkungen“ für die Ahwazi „würden diese eine verfolgungsreleva… | |
Schwelle nicht überschreiten“, heißt es in der Mitteilung weiter. | |
## Westlicher Lebensstil kein Schutzgrund | |
In einem anderen Urteil lag die Messlatte noch höher. Der Antrag einer Frau | |
wurde abgelehnt: trotz Konversion zum Christentum, trotz Teilnahme an | |
irankritischen Demonstrationen in Deutschland, trotz Arbeitsplatz und der | |
Weigerung, Kopftuch zu tragen. Das Gericht urteilte, „dass der ‚westliche‘ | |
Lebensstil der Klägerin nicht auf einer identitätsprägenden Überzeugung | |
beruhe“ und dass deshalb nicht mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ eine | |
Gefahr der Verfolgung für sie ausgehe. | |
Für die [3][Autorin und Aktivistin Sanaz Azimipour] sind Urteile wie dieses | |
„absurd“, sagt sie. Als Teil des [4][Women*-Life-Freedom-Kollektivs Berlin] | |
unterstützt Azimipour iranische Aktivist*innen im Exil, organisiert | |
Demonstrationen, macht Bildungs- und Vernetzungsarbeit. „Wer flieht nicht | |
aus politischen Gründen?“, fragt sie und erklärt, die Flucht aus dem Iran | |
sei immer „auch die Flucht vor dem Regime“. | |
Vor dem iranischen Regime flohen besonders im Jahr 2022 viele Menschen. | |
Laut [5][Statistischem Bundesamt] kamen in jenem Jahr genauso viele | |
Menschen (rund 22.000) aus dem Iran nach Deutschland wie in den Jahren 2021 | |
(13.000) und 2020 (9.000) zusammen. | |
Nach dem Mord an Jina Mahsa Amini im September 2022 durch die iranische | |
Sittenpolizei flammten landesweite Proteste auf, die von den iranischen | |
Sicherheitsbehörden und den iranischen Revolutionsgarden brutal | |
niedergeschlagen wurden. Hunderte Menschen starben, tausende wurden | |
verhaftet, gefoltert und zum Teil hingerichtet. | |
## „Im Gefängnis droht Vergewaltigung, Folter, Willkür“ | |
Der jetzt ausgelaufene Abschiebestopp war eine Reaktion darauf und wurde | |
zunächst von einigen Ländern wie Nordrhein-Westfalen, Bremen und Thüringen | |
in Eigenregie verhängt. Darüber hinaus hat die IMK im Dezember 2022 | |
erstmals einen bundesweiten Stopp der Abschiebungen in den Iran | |
beschlossen. Im Sommer 2023 verlängerte sie diesen mit Verweis auf die | |
immer noch gravierende Menschenrechtslage. Dennoch wurden [6][Asylanträge | |
vieler Iraner*innen seither abgelehnt]. | |
Azimipour vermutet, dass Deutschland wohl „auch im Fall von Jina gesagt | |
hätten, es sei für sie nicht gefährlich zurückzugehen“. Besonders vor dem | |
Hintergrund fehlender Rechtsstaatlichkeit im Iran sei die Bedeutung einer | |
Abschiebung dorthin jedoch nicht zu unterschätzen, erklärt sie. „Es ist | |
nicht so, dass du in den Iran abgeschoben wirst und wieder zu deinem | |
normalen Leben übergehst.“ | |
Bereits die Ausreise aus der Islamischen Republik sei illegalisiert und ein | |
Haftgrund, sagt Azimipour. So würden selbst Menschen, die freiwillig | |
zurückgehen, weil ihnen hier die Perspektive fehlt, bei ihrer Rückkehr zum | |
Teil verhaftet. Besonders gefährdet seien auch Menschen, die hier in | |
Deutschland in den letzte Monaten und Jahren auf Solidaritätsdemos mit den | |
Protesten im Iran waren. „Denen drohen im Gefängnis Vergewaltigung, Folter | |
und Willkür“, so Azimipour. | |
## Menschenrechtslage im Iran verschlechtert sich | |
Wie katastrophal die Menschenrechtssituation für Regimekritiker*innen | |
und gesellschaftliche Minderheiten im Iran aktuell ist, unterstreichen | |
aktuelle Zahlen: [7][Bis Oktober 2023 gab es mehr als 600 Hinrichtungen], | |
viele in Verbindung mit den zurückliegenden Protesten. Erst [8][letzte | |
Woche wurden wieder mehrere Oppositionelle hingerichtet]. | |
Auch Azimipour bewertet die Menschenrechtslage als hochgefährlich: „Nach | |
dem [9][Urteil gegen Hamid Nouri in Schweden] sind Vergeltungen absehbar – | |
besonders gegen Menschen, die irgendwie einen Europabezug haben.“ Bedroht | |
sind laut Azimipour etwa Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft oder | |
solche, die hierher geflüchtet sind. | |
Auch das Auswärtige Amt, dessen jährliche Lageberichte maßgeblich für die | |
Asylentscheidungen des BAMF sind, [10][sieht diese Gefahren]. Die | |
Pressestelle erklärt auf taz-Anfrage, die „Menschenrechtssituation im Iran | |
war schon vor den Protesten im Herbst 2022 desolat und hat sich seitdem | |
weiter verschlechtert.“ Besonders betroffen seien Frauen, LGBTIQs sowie | |
Oppositionelle. Ihnen drohe staatliche Unterdrückung und | |
Alltagsdiskriminierung. | |
Nach der Niederschlagung der Proteste im Herbst 2022 durch „massive | |
Repression gegen die Zivilgesellschaft“ würden nun „zahlreiche | |
Protestteilnehmende zu hohen Haftstrafen verurteilt“ sowie „Todesurteile | |
verhängt und vollstreckt“, so das Auswärtige Amt weiter. Die Bundesrepublik | |
habe deshalb die diplomatischen Beziehungen heruntergefahren und sich „für | |
weitreichende EU-Sanktionen gegen die Verantwortlichen eingesetzt“. | |
## Bundesländer können sich nicht einigen | |
Warum wurde der Stopp der Abschiebungen in den Iran dennoch nicht | |
verlängert? Für die Verlängerung hätte es Einstimmigkeit unter den Ländern | |
und die Zustimmung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der | |
letzten IMK im Dezember 2023 gebraucht. Es kam jedoch nicht einmal zur | |
Debatte, da das Thema auf der Vorkonferenz im November keine Mehrheit fand. | |
Auf taz-Anfrage haben sich nur wenige Länder dazu positioniert, wie sie | |
einem verlängerten Abschiebestopp gegenüberstehen. Einige Bundesländer, | |
darunter Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, sprachen sich dafür aus, | |
dass aufgrund der Menschenrechtslage auch weiter nicht in den Iran | |
abgeschoben werden dürfe. | |
Das Staatsministerium Bayern hingegen teilte mit, dass es „tendenziell | |
zurückhaltend“ gegenüber Abschiebestopps sei und die Einschätzungen des | |
BAMF für „hinreichend und passgenau halte“. Das Innenministerium | |
Sachsen-Anhalt meldete zurück, dass ein Abschiebestopp aufgrund der | |
niedrigen Annahmequote von Asylanträgen iranischer Staatsangehöriger nicht | |
„zwingend“ sei. | |
## „Keine langfristige Perspektive“ | |
Für Azimipour zeigt das Auslaufen des Abschiebestopps „die deutsche | |
Scheinsolidarität“: „Trotz vieler Solidaritätsbekundungen aus der Politik | |
bekommen die meisten Iraner*innen hier keine langfristige Perspektive. | |
Wie kann es sein, dass über 50 Prozent, die es hierher geschafft haben, | |
wieder abgelehnt werden?“, fragt sie. | |
Ein verlängerter Abschiebestopp ginge aus ihrer Sicht nicht weit genug. | |
„Ein Abschiebestopp heißt nichts für dein soziales Leben. Als abgelehnte, | |
geduldete Person ist dein Status scheiße. Du hast kein Recht auf Arbeit | |
oder Bildung“, sagt Azimipour. Was es aus ihrer Sicht stattdessen bräuchte, | |
sind humanitäre Visa und aufenthaltsrechtliche Erleichterungen in der | |
Asylpolitik – „die Verwaltung könnte sich, wie gegenüber den | |
Ukrainer*innen ebenso gruppenbezogen ausrichten“. | |
2 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Winterabschiebestopp-in-Berlin/!5976061 | |
[2] https://www.schleswig-holstein.de/DE/justiz/gerichte-und-justizbehoerden/OV… | |
[3] https://www.instagram.com/sanazaz/ | |
[4] https://www.instagram.com/womanlifefreedomcollective/ | |
[5] https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=ergebnistabelleUmf… | |
[6] /Asyl-fuer-Iranerinnen/!5904043 | |
[7] /Todesstrafe-in-Iran/!5972300 | |
[8] https://www.en-hrana.org/category/news/executions/ | |
[9] /Lebenslange-Haftstrafe-in-Schweden/!5980899 | |
[10] /Internes-Lagebild-des-Auswaertiges-Amts/!5905227 | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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