# taz.de -- Pummelalarm! | |
> Auch in Deutschland hat der Kampf gegen die ausgemachte Fett-Epidemie | |
> begonnen. Mehr Bewegung und gesunde Ernährung, so heißen die Heilmittel. | |
> Ob das wirklich hilft, ist jedoch umstritten. Fest steht allerdings, dass | |
> vor allem Kinder unter dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck auf | |
> Übergewichtige leiden | |
VON MATTHIAS URBACH | |
Eine neue „Epidemie“ grassiert. So sieht es jedenfalls die | |
Weltgesundheitsorganisation WHO. Es ist die „Obesity epidemy“, die | |
Fett-Epidemie. Unsere Gesellschaft wird immer dicker und deshalb immer | |
kranker. | |
Laut WHO ist ein Sechstel der Weltbevölkerung leicht oder schwer | |
übergewichtig. In den USA, so erklären Forscher, starben zur | |
Jahrtausendwende schon 400.000 Menschen an den Folgen von Übergewicht, ein | |
Drittel mehr als ein Jahrzehnt zuvor. Selbst die Zahl dicker Kinder nehme | |
immer mehr zu. | |
Auch in Deutschland schrillen in den Ministerbüros die Alarmglocken. | |
Verbraucherministerin Renate Künast nahm sich in einer Regierungserklärung | |
der dicken Kinder an, gründete diese Woche eine Plattform für „Gesundheit | |
und Bewegung“. Denn die Folgen seien drastisch: „Mindestens ein Drittel der | |
gesamten Gesundheitskosten“ gingen aufs Konto von Krankheiten, die von | |
Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel verursacht würden. | |
In Westeuropa stürben schon „schätzungsweise 200.000 Menschen“ an den | |
Folgen von Adipositas (Fettleibigkeit). Wenn sich der Trend „ungebremst“ | |
fortsetze, orakelte Künast, könne schon „in 40 Jahren jeder zweite | |
Erwachsene adipös“ sein, also stark fettleibig. Wer das verhindern wolle, | |
so das neue Credo der Verbraucherministerin, müsse präventiv bei den | |
Kindern ansetzen, auf gesündere Ernährung und mehr Bewegung achten. | |
## Auch arm macht krank | |
Künast befindet sich in guter Gesellschaft. Auch Briten und Amerikaner | |
machen mobil gegen die Fett-Epidemie. Haben wir es also mit einem ernsten | |
Problem zu tun? Oder vielleicht doch mit Hysterie? | |
Mit Hochrechnungen ist das so eine Sache. Wenn sich etwa der Ölpreis so | |
weiterentwickelt wie in diesem Jahr, kostet der Liter Öl in 40 Jahren so | |
viel wie ein Kampfjet. Das wird nicht passieren, und natürlich ist es naiv | |
zu glauben, dass bis 2045 jeder Zweite krankhaft dick ist. | |
Bei der hohen Anzahl von Toten in den USA und Europa, die angeblich in | |
Folge von Übergewicht gestorben sind, handelt es sich ebenfalls um nicht | |
gerade vorsichtige Schätzungen: Die Autoren der US-Prognosen etwa rechneten | |
schlicht die gesamte höhere Sterblichkeit bei übergewichtigen Menschen | |
allein ihrem Übergewicht zu. | |
Dabei spielen noch andere Gründe eine Rolle, etwa dass dicke Menschen eher | |
arm sind und weniger Geld für ihre Gesundheit haben. Die Schätzung beruhe | |
auf einem „Zirkelschluss“, wie der amerikanische Juraprofessor und | |
Buchautor Paul Campos („The obesity myth“) kritisiert. | |
## Fit für den Fett-Kampf | |
Ähnlich fragwürdig ist die Behauptung, es gehe um ein Drittel der | |
Gesundheitskosten. Krankheiten haben viele Gründe: Übergewicht und | |
Bewegungsarmut sind nur zwei Faktoren. Außerdem wird ja jeder Mensch früher | |
oder später krank und kostet die Krankenkassen Geld. | |
Reduziert man die Sache auf den Kern der Kampagne, kommt man zu viel | |
vorsichtigeren Schätzungen. Nach Auswertung der regierungsamtlichen | |
Forscher vom Robert-Koch-Institut liegen die seriösen Schätzungen für | |
„direkte und indirekte Krankheitskosten“ der Fettleibigkeit zwischen „3,1 | |
und 5,5 Prozent“ der Gesundheitskosten. | |
Es gibt gute Gründe, skeptisch gegenüber den Gesundheitsapologeten zu sein. | |
Jahrzehntelang etwa hat man uns eingetrichtert, dass Fett und Salz des | |
Teufels wären. Ausgerechnet das, was Essen erst schmackhaft macht. | |
Der Kampf vor allem gegen tierische Fette begann mit der Entdeckung des | |
schwedischen Mediziners Haquin Malmroos, der feststellte, dass während des | |
Zweiten Weltkriegs in Skandinavien die Zahl der Herzinfarkte zurückging. Er | |
führte es darauf zurück, dass aus Mangel weniger tierisches Fett gegessen | |
wurde und dass das den Cholesterinspiegel im Blut senke. Trotz vieler | |
Gegenbeispiele hielt sich die These jahrzehntelang. Schließlich wendete die | |
amerikanische Gesundheitsbehörde NIH mehrere hundert Millionen Dollar auf, | |
um den Zusammenhang ein für alle Mal zu beweisen. Und scheiterte. Auch die | |
gängige Behauptung von Ernährungsforschern und Arztverbänden, übermäßiger | |
Salzkonsum verursache Bluthochdruck, erwies sich als unhaltbar. | |
Doch diese Glaubenssätze sind genauso wenig auszumerzen wie die | |
Vorstellung, dass Fett dick mache. Dieser Glaube beruht auf der Tatsache, | |
dass Fett mehr als doppelt so viel Kalorien enthält wie Zucker. Dazu kam | |
1982 die Studie eines Biochemikers, der herausfand, dass bei normaler Kost | |
nur sehr selten Kohlenhydrate in Körperfett umgewandelt werden. Das wurde | |
weithin als Beweis gesehen, dass Kohlenhydrate nicht fett machen können. Zu | |
Unrecht, wie der US-Forscher vergeblich betonte. | |
## Kann Fett Sünde sein? | |
Es ist ohnehin methodisch äußerst kompliziert, den Einfluss von Essen auf | |
die Gesundheit von anderen Einflüssen zu unterscheiden. Auf der | |
Jahrestagung der deutschen Ökotrophologen vor zwei Jahren stufte der | |
Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski die meisten Aussagen seiner | |
Zunft daher als bloß „vorwissenschaftliche Erkenntnis“ ein. | |
Das zweite Zaubermittel gegen das Dicksein ist angeblich Bewegung. Auch | |
hier ist die Datenlage schwach. Gary Taubes, Autor des | |
Wissenschaftsjournals Science, arbeitete sich durch die Forschungsartikel | |
dreier Jahrzehnte. In der Einleitung betonten sie stets, wie wichtig | |
Bewegung sei, um Gewicht zu verlieren. Dann, berichtet Taubes, wechselten | |
sie zu dem Teil, wo Studie um Studie analysierte werde, mit dem Ergebnis, | |
dass sie keine Beweise dafür erbrächten. „Und dann kommen sie zur | |
Zusammenfassung, wo sie dir ein halbes Dutzend Techniken präsentieren, um | |
Turnübungen zum Teil eines Abnehmprogramms zu machen“. Taubes Fazit: „Es | |
ist surreal, diese Dinge zu lesen.“ | |
Die Frage, was gesunde Ernährung ausmacht, ist offenbar mehr Gegenstand von | |
Moden und Weltanschauung als von Wissenschaft. Hinter den Kampagnen gegen | |
Fett und Faulheit stecke „ein calvinistisches Denken, dass Sünde ist, was | |
Freude macht“, urteilt der Ernährungsforscher Udo Pollmer. | |
## Risiko Altersdiabetes | |
Was aber ist dann die Datenlage? Was kann, wer will, gegen Übergewicht tun? | |
Der Epidemiologie Karl Lauterbach von der Universität Köln fasst den | |
Wissensstand so zusammen: „Die Bedeutung, ob man Fett oder Kohlenhydrate zu | |
sich nimmt, hat man grob überschätzt.“ In dieser Hinsicht seien auch die | |
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nicht auf dem | |
neuesten Stand. Und: „Durch Bewegung allein“ lasse sich das Gewicht kaum | |
verringern. Bewegung helfe aber, einer Zunahme des Gewichts mit dem Alter | |
vorzubeugen. Und auch wenn Dicke, die Sport treiben, nicht schlanker | |
werden, so verringern sie jedoch ihr Risiko, krank zu werden. „Es sollte | |
nur in den Vordergrund gestellt werden, was wirklich gesichert ist“, | |
fordert Lauterbach. „Alles andere diskreditiert die Wissenschaft.“ | |
## Druck auf Pummelchen | |
Trotz dieser Einschränkungen begrüßt Lauterbach die Kampagne der | |
Ministerin. Denn „ein Fünftel der Kinder sind gefährdet, chronische | |
Krankheiten in der Mitte des Lebens zu erleiden“. Bislang seien die | |
typischen Leiden Dicker, wie Altersdiabetes, Gelenkverschleiß oder | |
Herzleiden, erst viel später aufgetreten. Und weil es eben nicht viel | |
nütze, seinen Lebensstil zu ändern, wenn man bereits stark übergewichtig | |
sei, müsse möglichst früh präventiv gehandelt werden. Die Frage ist nur, ob | |
die Botschaft bei den Kindern verfängt. Sie ist schließlich nicht neu. | |
Seit mehr als einem Jahrzehnt wird etwa über motorische Mängel der Kids | |
debattiert, wird mehr Bewegung empfohlen. Trotzdem nimmt die Zahl der | |
dicken Kinder eher zu. | |
Im schlimmsten Fall, warnen Ernährungsberater, könnte der neue Druck auf | |
die pummeligen Kids mehr Schaden anrichten als nutzen. Indem er zunächst | |
gesunden Kindern einredet, sie seien krank oder, schlimmer noch, irgendwie | |
falsch. In den USA rätseln Gesundheitsexperten wie der Stanford-Forscher | |
John Farquhar darüber, ob die Fett-Epidemie nicht gerade erst entstanden | |
ist durch die „Zwangsernährung einer Nation“. | |
Nach einer Umfrage aus NRW fühlt sich jedes fünfte Kind zu dick – ohne es | |
zu sein. Das Achten auf vermeintliche Pfunde wird den Kindern aber kaum | |
helfen, ein verlässliches Gefühl für ihren eigenen Körper und seine Signale | |
zu entwickeln. | |
Und da liegt auch das Problem von Renate Künasts Plattform. Zwar warne die | |
Ministerin vor der Ausgrenzung übergewichtiger Kinder, sagt Pollmer. „In | |
der Praxis erreicht sie damit genau das Gegenteil, denn ihre Kampagne trägt | |
zur Stigmatisierung bei.“ | |
## Dick ist nicht humorvoll | |
Selbst das Robert-Koch-Institut notiert, dass Dicksein in den Fünfzigern | |
noch mit „humorvoll und ausgeglichen“ assoziiert wurde, heute aber eher mit | |
„faul und willensschwach“. Bekannt ist überdies, dass das individuelle | |
Schicksal, dick zu werden, stärker von den Genen abhängt als von Ernährung | |
und Bewegung. | |
Schon Vorschulkinder geben an, sie würden lieber mit behinderten Kindern | |
befreundet sein als mit übergewichtigen. So kann man den dicken Kindern | |
eigentlich nur wünschen, dass es noch ein paar mehr von ihnen gibt. Als | |
Spielkameraden. | |
2 Oct 2004 | |
## AUTOREN | |
MATTHIAS URBACH | |
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