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# taz.de -- Politisches Denken: Fanfarenstoß des Ultraliberalismus
> Für Joachim Gauck ist Freiheit ein zentraler Begriff. Doch der Begriff
> ist bei ihm amputiert und die Idee von Freiheit als Partizipation ist ihm
> offenbar fremd, meint Christian Semler.
Bild: Emphatischer Künder der Freiheit: Bürgerrechtler und Präsidentschaftsk…
Joachim Gauck ist ein ehrenwerter Mann. Die von ihm mitbegründete und
geleitete Behörde für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit verwirklichte
zum ersten Mal in der deutschen Geschichte das Recht der Spitzelopfer und
der interessierten Öffentlichkeit auf Einsicht in die Geheimdienstakten.
Diese Durchbrechung der Welt der Regierungsgeheimnisse war Ergebnis einer
revolutionär-demokratischen Aktion. Deren Impetus verteidigte Gauck gegen
alle Einwände der Staatsraison. Er brachte das "Recht auf die Akten" in
einen systematischen Zusammenhang mit dem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung und gab ihm dadurch eine über die spezifische
DDR-Situation herausreichende grundgesetzliche Bedeutung. Trotz
gelegentlicher Ausflüge ins jenseits seiner Kompetenzen liegende politische
Terrain und einer allzu starren Gläubigkeit an die Korrektheit der
Stasi-Berichte ("die Akten lügen nicht") folgte die Behörde unter seiner
Leitung rechtsstaatlichen Vorgaben.
Gauck sah sich stets als emphatischen Künder der Freiheit. "Ich habe mich",
so sagt er in einem Interview mit der NZZ, "mein ganzes Leben nach Freiheit
gesehnt." Freiheit heißt für ihn zuvorderst: "Ich kann gehen und bleiben,
ich kann für dieses oder jenes politische Ziel eintreten. Meine Meinung in
Wort und Schrift kundtun." Seine Vorstellung von elementaren
Freiheitsrechten hat sich in der Auseinandersetzung mit dem
Herrschaftssystem der SED gebildet, das ihn an der Ausübung eben dieser
Freiheiten hinderte.
Er lehnte dieses System nicht aus einer selbstgewissen, kulturell
vorgeprägten Grundhaltung ab, etwa wie ein bayerischer Konservativer.
Sondern aus "der Erfahrung von Leid und Unrecht", wie er in seinem Beitrag
zum "Schwarzbuch des Kommunismus" schrieb. In dieser Erfahrung sieht er die
Quelle seines Antikommunismus. Für Menschen aber, deren Widerstand und
deren Leidensbereitschaft gegen Diktaturen aus kommunistischen Idealen
erwachsen sind, möchte Gauck im selben Aufsatz "einen Raum der Achtung"
erhalten. Nicht mit ihrer Ideologie aber ihrer Haltung als Kämpfer gegen
Unterdrückung will er sympathisieren. Eine solche idealistische Gesinnung
hat er bei den Machthabern in der DDR allerdings nicht gesehen.
In der Rückschau auf den Realsozialismus kritisiert Gauck nachträglich die
Neigung vieler westdeutscher Politiker, die Freiheitsbewegungen in
Osteuropa, insbesondere in Polen, als schädlich für die
Entspannungspolitik, ja sogar als friedensgefährdend zu denunzieren. Im
Grunde, so Gauck, hätten viele Intellektuelle des Westens davor
zurückgeschreckt, sich von der Realität der Unterdrückung in den
realsozialistischen Ländern ehrlich Rechenschaft abzulegen. Sie wollten
keine kalten Krieger sein und sie wollten dem Antikommunismus, der
Staatsideologie der Bundesrepublik, nicht erliegen. So wurden sie blind
gegenüber der Realität der DDR.
Gauck formuliert diese Anklage in seiner Autobiografie nicht ohne eine
Beimischung aus Selbstkritik. Autobiografisch schildert er, wie er als
überzeugter Antikommunist doch eine politische Linie der Koexistenz der
evangelischen Kirche mit der SED vertreten und eher von der Unterdrückung
in der Dritten Welt als der in der DDR gesprochen und gepredigt habe. Erst
die oppositionelle, demokratische Bürgerbewegung habe ihn zum Aktivisten
der Freiheit gemacht.
So weit kann man Gaucks lebensgeschichtlich fundierter Freiheitsidee
folgen, sie zumindest diskussionswürdig finden. Schief und sogar gefährlich
wird diese Idee erst in dem Augenblick, wo sie sich gegen eine angeblich in
beiden deutschen Staaten, vor allem aber im Osten vorherrschende Mentalität
abgrenzt. Gauck bescheinigt "den Deutschen", wiederum in der NZZ, "ein
großes Bedürfnis nach Fürsorge und Ordnung".
Dieses Bedürfnis sieht er vorgeprägt durch eine lange obrigkeitsstaatliche
Tradition, die das Vaterland stets mit einem Landesvater verknüpft. Er
lässt den Ossi fragen: "Na, werden wir auch genug umsorgt, wird Vater Staat
auch gut genug zu uns sein?" Gauck stellt sich keinen Augenblick die Frage,
ob der Kampf um und die Verteidigung von sozialen Rechten und Positionen
nicht in einem unlösbaren Zusammenhang mit den politischen Freiheitsrechten
der Bürger steht. Gauck ignoriert die Bedeutung von Massenprotesten gegen
den Sozialabbau für die "zivilgesellschaftliche" Freiheitssphäre der
Bürger. Sein Freiheitsbegriff ist amputiert, er akzeptiert nur politische
Abwehrrechte gegenüber dem Staat, wobei die Gefährdung der Freiheit durch
staatliche Überwachung in der Bundesrepublik reichlich unterbelichtet
bleibt.
Augenscheinlich ist die Idee von Freiheit als Partizipation Gauck völlig
fremd. Er diskutiert nicht einmal die Frage, welche Chancen, aber auch
welche Gefährdungen mit einem positiven Freiheitsbegriff verbunden wären.
"Positiv" heißt "Freiheit wofür" - statt den Freiheitsbegriff nur "negativ"
zu bestimmen als "Freiheit wovon". Wenn Freiheit mit der Möglichkeit der
Verwirklichung der je eigenen potenziellen Fähigkeiten möglichst vieler
Menschen in Verbindung gebracht wird, dann ist Freiheit ein Projekt, das
nach Zusammenarbeit, nach Solidarität ruft. Der Kern einer partizipativen
Freiheit besteht gerade nicht in einer autoritären Bestimmung dessen, was
unter positiven Freiheiten zu verstehen sei. Gauck hingegen grenzt das
Politische als Freiheitsraum vom Gesellschaftlichen als Reich der
Bedürftigkeit ab, wo Freiheit sich nicht entwickeln könne.
Rot gleich Braun
In einem Moment, in dem die Lasten staatlichen Sparens überwiegend den
Geringverdienenden oder Arbeitslosen aufgebürdet werden, ist Gaucks Kritik
am Vertrauen auf den "fürsorgenden Staat" genau die Antwort, die die
soziale Spaltung in Deutschland verschärft. Daran ändert auch seine
Auffassung nichts, wonach das Sparpaket der Regierung gegen das Postulat
der Gerechtigkeit verstoße. Denn sein Verständnis der Autonomie des
Individuums bürdet dem Einzelnen die Verantwortung für sein Wohl und Wehe
auf. Von daher gesehen wirkt das Freiheitspathos Gaucks heute wie ein
verspäteter Fanfarenstoß des Ultraliberalismus.
Gauck mischt sich ein in die Deutungskämpfe um die deutsche Geschichte des
vergangenen Jahrhunderts, insbesondere die Geschichte der DDR. Er will
gegen das Vergessen ankämpfen, gegen eine Haltung, die mit zunehmender
zeitlicher Distanz den diktatorischen Charakter der DDR verwischt oder
verniedlicht. Ob er mit seiner These, bei der DDR habe es sich bis zu ihrem
Untergang um einen totalitären Staat gehandelt, seinem Unternehmen hilft,
erscheint mehr als ungewiss.
Gauck behauptet in seinem Beitrag zum "Schwarzbuch" "Ähnlichkeiten"
zwischen der NS-Herrschaft und der Herrschaft der SED in der "konkreten
Herrschaftstechnik", in der "dienstbaren Rolle des Rechts" und dem
"permanenten Einsatz von Terror", in die von Angst getriebene "Anpassung
von Mehrheiten" und die "Ausgrenzung von Minderheiten".
Dass ein so ausgedehnter und diffuser Begriff von Totalitarismus die realen
Verhältnisse in der DDR wie auch deren 40-jährige Entwicklung verfehlt,
erschließt sich, wenn man versucht, mit Gaucks Kategorien die Geschichte
der DDR zu verstehen. Ganz abgesehen davon, dass Gauck dem
massenmörderischen und aggressiven Wesen des NS-Regimes bei seinem
Vergleich keine Beachtung schenkt. Gauck beharrt gerade gegenüber den um
Genauigkeit bemühten Begriffen von Zeithistorikern, wie etwa der
"Fürsorgediktatur", auf dem Ansatz der Totalitarismustheorie. Denn "Rot
gleich braun" hat wie immer auch hier eine ideologische Funktion. Die
Gleichsetzung soll denunzieren.
Mit der Kandidatur Joachim Gaucks verbindet sich die Hoffnung, einen
bedeutenden Intellektuellen als Präsidenten zu haben, der sich den modernen
westlichen Geistesströmungen geöffnet hat, ohne seine Herkunft aus der DDR
zu negieren. Ob Gauck allerdings den schwierigen Lebenswegen seiner
ostdeutschen Landsleute Gerechtigkeit widerfahren lassen und damit zur
inneren Einheit der Deutschen beitragen wird, ist zweifelhaft. Zu
hochfahrend, zu herablassend ist sein Urteil.
26 Jun 2010
## AUTOREN
Christian Semler
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