# taz.de -- ■ Das Erdbeben in der Türkei ist mehr als eine Naturkatastroph… | |
„Katiller“ – so lautete am Mittwoch die Schlagzeile der auch in Europa | |
erscheinenden Zeitung Hürriyet – „Mörder“. Ein harter Titel nach einem | |
Erdbeben, einer Naturkatastrophe also. Doch viele Menschen, die bei dem | |
Erdbeben ums Leben kamen, starben, weil die Bauweise der Gebäude so | |
schlecht ist, dass sie an der Küste des Marmarameeres einfach wie | |
Kartenhäuser in sich zusammenfielen. | |
Diese schlechte Bauweise wird insbesondere in jenen Vierteln angewandt, die | |
in den äußeren Bezirken der großen türkischen Städte entstehen – und zwar | |
buchstäblich über Nacht. Denn nach einem alt-überlieferten Gewohnheitsrecht | |
dürfen auch noch die Bürger der modernen Türkei ein Stück Land behalten, | |
auf dem sie des Nachts eine Hütte bauen. Mittlerweile sind nach Schätzung | |
der türkischen Handelskammer rund 65 Prozent aller Häuser im Lande | |
derartige Schwarzbauten. Sie bilden ganze Wohnviertel, die nach und nach | |
ganz offiziell mit Wasser und Strom versorgt werden. | |
Großherzigkeit? Sentimentalität gegenüber Gesetzen aus osmanischer Zeit? | |
Wohl kaum! Schließlich hat derselbe Staat zunächst seine Provinzen im Osten | |
und Südosten wirtschaftlich vernachlässigt und später auch noch einen | |
unerbittlichen Krieg gegen die PKK begonnen. Zwei Gründe für die Menschen, | |
die Region zu verlassen und dahin zu gehen, wo sie sich sicherer fühlen und | |
hoffen können, Arbeit zu finden – in die Westtürkei. Der Staat handelt | |
seinerseits frei nach dem Motto: Urbanisierte Menschen sind | |
kontrollierbarer – und wer im Westen siedelt, unterstützt keine | |
Separatisten im Osten. | |
Aus diesem Grund wohl auch haben türkische Politiker beide Augen zugedrückt | |
bei all jenen Baufirmen, die – wenn Bedarf bestand – eine einfache | |
Wellblechhütte in ein zehnstöckiges Haus plus Ladenzeile verwandelten. Mit | |
billigstem Beton und garantiert erdbebengefährdet. Die Verwicklungen von | |
korrupten Politikern und Bürokraten in zweifelhafte Immobiliengeschäfte | |
kommen noch dazu. Der neueste Innenminister, Sadettin Tantan, hat zwar erst | |
zu Monatsbeginn einen neuen Anlauf unternommen, den Abriss der | |
Schwarzbauten zu erzwingen – aber das rief in Presse und Öffentlichkeit | |
nichts als müdes Staunen hervor. Denn Ersatzwohnungen für die Betroffenen | |
waren nicht vorgesehen. | |
So erklärt sich, warum es wieder einmal die ärmeren Teile der Bevölkerung | |
besonders schwer getroffen hat. Nach den Worten des Ministers für | |
Wohnungsbau und Zivilschutz, Koray Aydin, steht die Türkei vor der größten | |
Katastrophe seit der Republikgründung. „Zum ersten Mal haben wir ein Beben, | |
das eine Gegend betrifft, in der 45 Prozent der türkischen Bevölkerung | |
leben“, ergänzte Aydin. | |
Dabei sollte sich eigentlich jeder in der Türkei – ob arm oder reich – sich | |
allmählich darüber klar werden, dass rund 92 Prozent des 780.000 | |
Quadratkilometer großen Landes auf Erdbebengürteln liegen und etwa 95 | |
Prozent der Gesamtbevölkerung auf unsicherem Grund leben. Internationale | |
Erdbebenexperten warnten erst heute wieder davor, dass es wahrscheinlich | |
innerhalb der nächsten zehn Jahre zu einem weiteren schweren Beben in der | |
Türkei kommen werde. Auch jenseits der Grenzen Anatoliens könnte das | |
Konsequenzen haben: 98 Prozent der Industrieanlagen sowie die wichtigsten | |
Staudämme und Kraftwerke stehen nämlich ebenfalls in gefährdeten Gebieten. | |
Zwar heißt es immer wieder, beispielsweise der unweit der | |
türkisch-syrischen Grenze gelegene Atatürk-Staudamm sei „absolut sicher“, | |
doch was manch eine Hightech-Präzisionswaffe vielleicht nicht schafft, | |
schafft die Natur oft mit spielerischer Leichtigkeit. | |
Neben der Vision einer Überschwemmung, die nicht nur die Türkei, sondern | |
auch die arabischen Nachbarn träfe, wirken die Aufnahmen des durch das | |
Erdbeben ausgelösten Raffineriegroßfeuers in Izmit wie lustige | |
Abziehbilder. Ihren Plan, noch in diesem Jahr in der Nähe des | |
Mittelmeerhafens von Akkuyu mit dem Bau eines Kernkraftwerkes zu beginnen, | |
muss die türkische Regierung nach der jüngsten Naturkatastrophe noch einmal | |
überdenken – und auch die Firma Siemens, die an dem Projekt beteiligt | |
werden soll. Sonst titeln die Zeitungen nach der nächsten Naturkatastrophe | |
in der Türkei in Deutschland „Katliamlar“ – „Massenmörder“. Björn … | |
20 Aug 1999 | |
## AUTOREN | |
Björn Blaschke | |
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