# taz.de -- Phänomen Lady Gaga: Extremistin der Mitte | |
> Im Mai erscheint "Born this way", das zweite Album von Lady Gaga. Auch | |
> eine Gaga-Biografie gibt es bereits. Ignorieren geht nicht. Was ist dran | |
> am größten Popstar des Planeten? | |
Bild: Lady Gaga in ihrem Video "Telephone" | |
Ein Buch über Lady Gagas Leben ist so sinnlos wie ein Stummfilm über Maria | |
Callas oder Fotos von Lionel Messi. Das Entscheidende fehlt: Bei der Callas | |
die Stimme, bei Messi die Bewegungen. Und bei Gaga? Da fehlt das Heute, das | |
morgen schon gestern ist. Vorgestern: "Born this way" springt als erste | |
reine Download-Veröffentlichung an die Spitze der deutschen Single-Charts. | |
Gestern: Ein Lady-Gaga-Solidaritätsarmband für 5 Dollar spielt innerhalb | |
eines Tages 250.000 Dollar für die Japanhilfe ein. Heute: Gaga stürmt die | |
Bühne eines Schwulenlokals, als gerade eine Gaga-Transe auftritt, gemeinsam | |
singen sie "Born this way". Das und vieles mehr fehlt in Maureen Callahans | |
Biografie. Unterhaltsam und lehrreich ist sie trotzdem, daran ändert auch | |
die lausige Übersetzung nicht. Etwa so unterhaltsam und lehrreich wie die | |
regelmäßige Lektüre der Gala. | |
Lady Gaga ist zu schnell und zu produktiv für das lahme alte Buch, ist ja | |
kein Facebook. Täglich, stündlich, minütlich produziert sie - ja, was | |
eigentlich? Sich selbst. Und vor allem: Fame. Das englische Wort fame ist | |
hier angebracht. Die Formel lautet: Ruhm plus Aufmerksamkeit = Fame. Die | |
unausgesetzte Produktion von Fame ist Gagas raison dêtre. | |
"The Fame" ist der Titel ihres ersten Albums, die extended Version heißt | |
"The Fame Monster". "Fame? Whats your name?", fragt David Bowie auf dem | |
Höhepunkt seines eigenen Fames. Die Antwort: "Feeling so gay." Gay bedeutet | |
gleichermaßen fröhlich wie schwul beziehungsweise lesbisch. Bowie ist eine | |
der prägenden Kunstfiguren für Lady Gaga, zu Fame-Zeiten kokettiert er mit | |
seiner Bisexualität - wie Gaga heute, die nichts wäre ohne ihre queere | |
Gefolgschaft, wenn man queer einmal als Synonym für Abweichungen von der | |
Heteronorm gelten lässt. | |
"Fame - Der Weg zum Ruhm" ist der Titel eines Kinohits (und Musicals) von | |
1980. Darin erzählt Alan Parker von den Fame-Ambitionen New Yorker | |
Jugendlicher an einer Schule für darstellende Künste. Die Tanzszenen aus | |
"Fame" prägen die Video-Ästhetik der Achtziger Jahre. | |
Die New Yorkerin Gaga ist ein Kind der Achtziger, ein Kind von Grace Jones | |
und Madonna. Beide lästern gern über den schamlosen Ideenklau ihrer | |
illegitimen Tochter, aber Pop ist vergesslich. Wer weiß schon noch den | |
Titel des zweiten Album von Grace Jones? Genau: "Fame". Schamlos? Fame | |
reimt sich auf Shame, das heißt Scham, aber auch Schande. Die Gottheit des | |
Ruhms, aber auch die des Gerüchts heißt in der römischen Mythologie: Fama. | |
## Schneller als Madonna | |
Mehr Etymologisches und Popmythologisches zur Gaga-Fame-Connection lernt | |
man an der Universität von South Carolina. Dort bietet Professor Matthieu | |
Deflem ein Seminar an: "Lady Gaga and the sociology of fame". Auch hier ist | |
Gaga schneller als ihr Mutteridol: Bei Madonna hat es etliche Jahre länger | |
gedauert, bis sie von der Wissenschaft als Forschungsgegenstand entdeckt | |
wurde. "Ignorance of your culture is not considered cool", wussten schon | |
The Residents. Gaga ist der größte Popstar unserer Zeit, wer sie ignoriert, | |
ignoriert Gegenwart. | |
Wer ist Lady Gaga? Fragt Gala im Oktober 2009 auf dem Titel. Bis Gaga in | |
der Linken ankommt, dauert es noch etwas länger. Die Jungle World "wollte | |
den Hype um Lady Gaga eigentlich ignorieren, aber das Video zu ,Telephone' | |
änderte alles", heißt es im Frühling 2010. Der zehnminütige Clip von | |
Regisseur Jonas Akerlund markiert die Wende in der Gaga-Rezeption. In | |
porno-affiner Ästhetik erzählt der Minispielfilm die Geschichte von zwei | |
lesbischen (?) Flintenweibern, gespielt von Gaga und Beyoncé, ihrer | |
einzigen ernsthaften Konkurrentin in Sachen Pop-Fame. | |
"Telephone" ist die Fortsetzung von "Paparazzi". Darin vergiftet Gaga ihren | |
Freund und wird verhaftet. "Telephone" beginnt in einem Frauenknast, der | |
aussieht wie eine SM-Pornofantasie. Nach ihrer Entlassung wird Gaga von | |
Beyoncé abgeholt. Doch schon bei einem Imbiss im "Diner" müssen die | |
aufgesexten Töchter von Thelma und Louise sich aufdringlicher Männer | |
erwehren - und vergiften gleich die ganze Kneipe. Sie flüchten der Sonne | |
entgegen im Pussy-Wagon aus "Kill Bill", angeblich hat Quentin Tarantino | |
höchstselbst Gaga vorgeschlagen, den knallgelben Pick-up-Truck zu | |
verwenden. | |
Produziert wurde der Film von House of Gaga, Serial Pictures. Das House of | |
Gaga ist gewissermaßen die Factory. Wie einst bei Warhol, bloß mit mehr | |
Geld, arbeitet eine Fabrik von SpezialistInnen am Produkt Gaga mit all | |
seinen Extensionen und Applikationen. Mit Warhol wie mit Tarantino | |
verbindet das House of Gaga die Faszination für Oberflächen und Abgründe | |
der populären Kultur. | |
"Telephone" ist eine knatschbunte Orgie aus Zitaten und Anspielungen aus | |
Pop- und Filmgeschichte, allein das strategische Product-Placement bietet | |
Stoff für Doktorarbeiten. Gagas sexual politics sowieso. Nicht nur wegen | |
der angedeuteten Liebesbeziehung zu Beyoncé heizt "Telephone" Spekulationen | |
an. Von zwei muskelbepackten Wärterinnen wird Gaga in die Zelle geschafft | |
und ausgezogen. Ihre Brustwarzen sind mit einem Klebestreifen bedeckt, die | |
Schamgegend bleibt unscharf. Im Weggehen bemerkt eine Wärterin: "I told you | |
she doesnt have a dick." Darauf die andere: "Too bad." | |
Die Sache mit dem Penis geht zurück auf ein Amateurvideo vom Glastonbury | |
Festival 2009. Darin sieht man für einen Moment etwas, "das mit etwas | |
Fantasie für einen Penis gehalten werden kann", so Christina Borkenhagen in | |
einem Text über "Lady Gagas Gender-Performanzen" in dem Sammelband "Porno | |
Pop II". Ein Blogger stärkt den Hermaphroditenverdacht mit einem - | |
unbelegten - Gaga-Zitat: "Ich habe männliche und weibliche | |
Geschlechtsteile, aber ich fühle mich als Frau. Ich bin sexy, ich habe eine | |
Pussy und einen Pimmel. Keine große Sache." | |
Borkenhagen bescheinigt Gaga, im "Telephone"-Clip ziehe sie "zwar den | |
pornografischen Blick auf ihren Körper, entlarvt ihn aber auch als solchen, | |
was als die eigentliche Leistung des Mainstream-Popstars angesehen werden | |
darf." Immer wieder speist Gaga Bilder, Themen und Motive aus sexuellen | |
Subkulturen dem Massenpop-Kreislauf ein. Noch stärker als bei Madonna | |
stellt sich die Frage, ob Gaga ihre queeren Fans instrumentalisiert oder | |
ihnen zu Sichtbarkeit und Anerkennung verhilft. Beides. | |
Margarita Tsomou vom feministischen Magazin Missy sieht in "Telephone" eine | |
"für den Mainstream tabubrechende lesbische Narration mit popfeministischer | |
Kraft". Und fragt: "Hat in Gagas geschäftiger Pop-Mall Pussy-Power | |
geschlummert, und wir haben es verpasst?" Weniger enthusiastisch ist | |
Camille Paglia. Die nach eigener Aussage "dissidente Pro-Sex-Feministin" | |
hatte einst Madonna als "future of feminism" bezeichnet und damit orthodoxe | |
Feministinnen gegen sich aufgebracht. In Gaga sieht Paglia "das erschöpfte | |
Ende der sexuellen Revolution". Das klingt nach Platzhirschkuhgehabe einer | |
Altvorderen, die nicht wahrhaben will, dass Gaga sexualpolitisch | |
massenwirksam interveniert. | |
Wenn sie sich etwa in die Debatte einschaltet, ob offen homosexuell lebende | |
AmerikanerInnen zur Army gehen dürfen. Im Herbst 2010 leistet sie in | |
Jackett und Krawatte vor dem Sternenbanner den Fahneneid und erklärt | |
feierlich, die "Dont ask, dont tell"-Regelung verstoße gegen die | |
amerikanischen Werte von Freiheit und Gleichheit. Mit "Born this way" macht | |
sich der Liebling der Massen nun explizit zur Stimme d(ivers)er | |
Minderheiten. Im Guardian feiert der (schwule) Großkritiker Jon Savage den | |
Song als "contemporary LGBT call-to-arms", der laut Elton John das Zeug | |
habe, das ewige "I will survive" als Gay-Hymne abzulösen. | |
## Liebling der Massen | |
Savage erinnert an das historische Vorbild: "Born this way" war in den | |
Siebzigern ein Coming-out-Discohit für Carl Bean. Später fand Bean zu Gott, | |
auf YouTube kann man ihn als schwulen, schwarzen Erzbischof bewundern, | |
rührend. Mit dem strategischen Zitat würdigt Gaga die Verdienste eines | |
vergessenen Pioniers und legt sich mit den religiösen Mächten an: "Im | |
beautiful in my way / Cause God makes no mistakes / Im on the right track, | |
baby / I was born this way." Madonnas Selbstermächtigungsaufruf "Express | |
yourself" stand Patin, einschlägige Mash-ups kursieren im Netz. | |
Manche Linke bekritteln "Born this way" als essentialistisch, Gaga bediene | |
ein biologistisches Menschenbild. Diese Kritik verkennt, dass der Smash-Hit | |
Teenager ermutigt, Worte zu finden für ihr Anderssein, während Gaga ihnen | |
gleichzeitig mit ständig wechselnden Gender-Performanzen das | |
gesellschaftlich Gemachte, Konstruierte und Kostümierte von Gender | |
vorturnt. Edutainment für die Massen von einer Extremistin der Mitte. | |
Und die Musik? Pop für die Massen, oder, mit dem "biologisch männlichen | |
Feministen" Thomas Meinecke: "Sie ist wie mein Lieblingsitaliener - gute | |
Lage, angenehme Beleuchtung, nettes Personal. Nur das Essen schmeckt leider | |
nicht besonders." Peaches, von der "wir in Sachen Genderbending und | |
Modekult einiges gesehen haben" (Margarita Tsomou), sieht das ähnlich. | |
Gagas Inszenierungen seien ja interessant, "aber warum macht sie so eine | |
Scheißmusik?" | |
14 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus Walter | |
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