# taz.de -- OuLiPo | |
Am 24.November 1960 beriefen Francois Le Lionnais (1901 bis 1984), | |
Naturwissenschaftler, Schachtheoretiker und Kunsthistoriker, und Raymond | |
Queneau (1903 bis 1976), Schriftsteller und Mathematiker, im Keller eines | |
Pariser Restaurants ein Treffen ein, aus dem eine literarische Gruppe der | |
besonderen Art werden sollte, mit dem Ziel, die Produktion von Literatur | |
nach Regeln, mathematischen Regeln, zu pflegen. Am 19.Dezember erhielt sie | |
den Namen OuLiPo: „Ouvroir de la littérature potentielle“. „Ouvroir“, … | |
nannte man jene Hütten in den Baustellen der Kathedralen, in denen | |
jahrhundertelang das Wissen um Konstruktion und Statik, die Geheimnisse | |
großer mittelalterlicher Architektur von Generation zu Generation | |
weitergegeben wurden. Die etwas knarrende deutsche Übersetzung „Werkstatt | |
für potentielle Literatur“ klingt leider gräßlich nach | |
Selbsterfahrungsliteratur; OuLiPo ist das Gegenteil davon. | |
Als die Oulipisten zum 31.Jahrestag ihrer Gründung in Berlin tagten und | |
vier Abende lang ihre Werke, ihre Geschichte und nicht zuletzt sich selbst | |
dem Publikum vorstellten, gaben ihre Texte, die als amüsanter, diabolischer | |
Nonsens erscheinen und trotzdem, wenn man so will und ein bißchen rechnen | |
kann, tiefgründig interpretierbar sind, jede Menge Anlaß zum Lachen. | |
„Man schreibt nicht, um das Publikum zu verärgern“, erklärte Queneau, und | |
er hat mit seinen Büchern (Zazie in der Metro, Der Flug des Ikarus, um nur | |
zwei hierzulande bekanntere zu nennen) auch immer das Gegenteil getan. | |
Prinzip oulipischer Literaturproduktion ist die Arbeit nach vorgegebenen | |
Regeln (im Französischen „Contraintes“, was ebenso Zwänge bedeuten kann). | |
Getreu der programmatischen Metapher des „Ouvroir“ bedient sich OuLiPo | |
seiner Vorbilder aus der Literaturgeschichte, ihrer, wie sie das | |
literarische Originalitätstrauma persiflierend nennen, „Plagiateurs par | |
Anticipation“, also Plagiatoren durch Vorwegnahme. Von der Antike über die | |
großen französischen Rhetoriker und die deutsche Barockliteratur bis zu dem | |
irrwitzigen Tüftler Raymond Roussel werden traditionelle literarische | |
Formen, Formeln und Regeln (Alexandriner, Sonette, Sextinen, Stanzen und so | |
weiter) analysiert, entschlüsselt und angewandt; selbstverständlich gehören | |
zum oulipischen Spiel- und Werkzeug Anagramme, Palindrome, Leipogramme, das | |
gesamte Repertoire der Sprachspielerei, gesteigert zu wahrer | |
Sprachalchimie. Wenn das menschliche Hirn die Grenzen seiner Ars | |
combinatoria erreicht (ein Durchschnittsmensch wie ich kann einer simplen | |
orthogonalen lateinischen Doppelmatrix als Konfigurationsmuster von | |
Personen und Orten im Roman schon nicht mehr folgen), müssen spezielle | |
Computerprogramme herangezogen werden. | |
Es werden aber auch neue Regeln erfunden, deren einfachste vielleicht die | |
Formel S+7 ist. S steht für Substantiv: Man nehme die Substantive des | |
Textes und ersetze sie durch das an siebter Stelle in einem beliebig (!) | |
gewählten Lexikon folgende. | |
Anwendbar ist das auf jeden Text, zum Beispiel Wanderers Nachtlied von | |
Goethe, überarbeitet nach S+15 von Georges Perec (siehe nebenstehenden | |
Kasten). | |
Perec verfaßte auch einen leipogrammatischen Roman (La disparition), in dem | |
der Buchstabe „e“ — der häufigste im Französischen — nicht vorkommt, … | |
hält, soviel ich weiß bis heute, mit einem sechs Druckseiten langen | |
Palindrom den Weltrekord in dieser Disziplin. | |
Perec (1936 bis 1982) war einer der produktivsten Oulipisten, zu denen | |
übrigens auch Italo Calvino zählt, außer Harry Mathews der einzige | |
Nicht-Franzose, sowie Marcel Bénabou, definitiv provisorischer Sekretär | |
OuLiPos (nicht zu verwechseln mit dem provisorisch definitiven Sekretär | |
Paul Fournel), dessen Buch Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe | |
auch auf Deutsch erschienen ist. | |
Als den Ursprung von Sprache habe man sich einen Menschen vorzustellen, der | |
an Magenschmerzen leidet, und dies zum Ausdruck bringt, befand Queneau. | |
„Natürlich ist es ihm nicht gelungen; konnte ihm nie gelingen; niemandem | |
wird es je gelingen.“ Katharina Döbler | |
Bei der Edition Plasma, Berlin, erscheint eine Buchreihe: OuLiPo & Co. | |
20 Dec 1991 | |
## AUTOREN | |
katharina döbler | |
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