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# taz.de -- Orkan Kyrill: Licht im Unterholz
> Der Orkan"Kyrill" hat vor sechs Monaten den Bayerischen Wald gelichtet:
> Nun gedeihen Myriaden von Borkenkäfern und wahre ökologische Vielfalt.
Bild: Nach dem Sturm: Erstmals seit Jahrzehnten erreichen Sonnenstrahlen den Wa…
FREYUNG taz Mühelos überrollen die Panzerketten halbmeterhohe Baumstümpfe
und Berge von Zweigen. Das 25 Tonnen schwere Gefährt stoppt, streckt seinen
Schwenkarm aus und umgreift eine Fichte in Bodennähe. Keine Minute später
fällt der Baumriese. Holz splittert, als er eine schmale Buche mit sich
reißt, bevor er dumpf auf der Erde aufschlägt. Behände hebt der Greifarm
den 30-Meter-Stamm auf, lässt ihn einmal der Länge nach durch seine eiserne
Hand schießen, und schon ist der Stamm astfrei. Rumpelnd landet er auf
einem Stapel. Sofort nimmt die Erntemaschine den nächsten Baum ins Visier.
Der Ort des Geschehens: der Nationalpark Bayerischer Wald. Hier findet
gerade ein Wettlauf gegen die Zeit statt, sagt Rainer Simonis, Leiter der
östlichsten Dienststelle. Er hebt ein Stück Rinde von einem frisch
gefällten Baum ab. Darunter zeichnet sich ein Muster von senkrechten und
waagerechten Gängen ab. Etwa fünf Millimeter lange, fette, weiße Larven
kriechen darin; manche pendeln auch schon als Puppen in einer kleinen Höhle
am Ende ihres Ganges. Unter einem anderen Rindenstück entdeckt Simonis
bereits die nächste Entwicklungsstufe: hellbraune Borkenkäfer in gleicher
Größe. Zwei Wochen lang fressen sie sich noch einmal satt - dann schwärmen
die Männchen bei schönem Wetter aus, bohren neue Fichten an und locken per
Duftstoff weitere Artgenossen an den Baum. "Wenn die Stämme bis dahin nicht
weg sind, war die ganze Arbeit umsonst", stellt Simonis klar.
So viele Bäume wie in diesem Jahr musste der Forstamtmann in seinem Revier
noch nie fällen lassen. In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar hatte der
Sturm "Kyrill" im Nationalpark Bayerischer Wald 160.000 Bäume umgeworfen.
Nach langer Debatte stand die Entscheidung fest: In den Kernzonen bleibt
die Natur sich selbst überlassen. Doch wo private Forste angrenzen, müssen
die Fichten weggeräumt werden. Schließlich sind die entwurzelten Bäume, die
sich nicht einmal mehr mit Harz gegen Angreifer wehren können, für
Borkenkäfer eine völlig risikolose Beute.
Zwar ist das angefallene Sturmholz schon weggeräumt, versichert Simonis.
Doch es geht weiter. Gegenwärtig werden 12.000 todgeweihte Bäume gerodet,
in denen sich jeweils tausende von Borkenkäfern eingenistet haben. Noch
sehen die Kronen gesund aus - doch kleine Löcher in der Rinde,
kaffeemehlartiges Pulver und grüne Nadeln am Boden zeigen unzweideutig an,
dass die Fichten unrettbar verloren sind. Spätestens in vier bis sechs
Wochen werden ihre Kronen eine fahle, grau-orange Färbung annehmen: Die
Borkenkäferlarven haben bei ihrem Fraß in waagerechter Richtung die
Versorgungsstränge der Bäume durchtrennt.
Ein schwer beladener Holztransporter hat sich knietief in den aufgeweichten
Waldboden gefräst; beim Manövrieren zerquetscht er winzige Bäumchen, die
den Panzerketten der Erntemaschine entgangen waren. "Was hier passiert, ist
der Preis, den wir zahlen müssen für das, was im Innern des Nationalparks
los sein darf", sagt Simonis. Er zeigt Verständnis für das Interesse der
privaten Forstbesitzer; schließlich ist die Fichte der "Brotbaum" der
deutschen Holzwirtschaft. Ein Borkenkäferbefall zwingt die Waldbesitzer
nicht nur zur vorzeitigen Ernte, sondern verursacht auch einen Bläuepilz.
Dessen tintige Färbung beeinträchtigt zwar nicht die Stabilität des Holzes,
mindert aber zusätzlich den Verkaufserlös.
Mindestens einen halben Kilometer tief in den Nationalpark hinein reicht
die Bekämpfungszone. Dahinter kann man studieren, wie sich die Natur ohne
Eingriffe des Menschen entwickelt. Ins vorher dicht geschlossene Kronendach
hat "Kyrill" eine Lücke gerissen, meterhohe Wurzelteller ragen senkrecht
nach oben. Daneben sind kleine Tümpel entstanden - ein neuer Lebensraum für
Frösche.
Erstmals seit Jahrzehnten erreichen hier wieder Sonnenstrahlen den Boden:
Fichten, Tannen und Buchen, die als Zwerge seit vielen Jahren in
Wartestellung verharren, haben nun die Chance ihres Lebens. Wer von ihnen
den Wettkampf ums Licht gewinnt, steht noch nicht fest. Im warmen Frühjahr
haben Buchen und Tannen einen Vorteil, weil sie schon im April austreiben;
kommt ein Spätfrost, hat die Fichte bessere Chancen. Auch die Gefahren
durch Wild, das an ihrer Rinde knabbert, sind für sie geringer. Die Buche
kann dagegen auch an schattigeren Plätzen groß werden. Ohne Bevorzugung
durch den Menschen wird der Fichtenanteil in den niedrigeren Regionen des
Bayerischen Waldes vermutlich auf 40 Prozent zurückgehen.
Die Hochlagen über 1.200 Meter gehören der Fichte allein. Hier hat der
Borkenkäfer seit 1994 ganze Arbeit geleistet. In mehreren Wellen machte er
fast allen Altbäumen den Garaus, und wo sich einer halten konnte, wurde er
über kurz oder lang Opfer von Wind und Schnee. "Die Natur ist knallhart:
Altes, was sein Erbgut weitergegeben hat, ist unwichtig und muss Platz
machen für die Jungen", konstatiert Simonis.
Nun wuchern junge Vogelbeerbäumchen, Himbeeren, gelbblühendes Habichtskraut
und lila Weidenröschen - ein Eldorado für Bergeidechsen und Mäuse,
Goldammern und Neuntöter. Diese Vogelart nistet in Hecken und findet immer
seltener einen Lebensraum. Hier hat der seltene Neuntöter ein idealen
Platz. Doch in ein paar Jahren wird sich das wieder ändern: Schließlich
kämpfen sich überall auch kleine Fichten durchs Dickicht. Meist haben sie
sich in der Nähe der toten Stämme angesiedelt, die ihnen in den ersten
Jahren Borkenkäferkot als Dünger liefern. Sie wachsen langsamer als die
Bäume in den kultivierten Wäldern und sind deshalb widerstandfähiger.
Allerdings: "Bis der Wald hier nachgewachsen ist, leben wir alle nimmer",
sagt der 28-jährige Klaus Fuchs resigniert. Seine Mutter, die eine
Gastwirtschaft in Mauth betreibt, ist davon überzeugt, dass viele Touristen
enttäuscht sind: "Erst letzte Woche waren wieder Besucher hier und haben
geschimpft, wie unordentlich da alles ist." Ganz andere Erfahrungen macht
dagegen ihr Kollege Peter Bachmeyer. Der Nationalpark sei hier im
hintersten Winkel der Republik die absolute Chance, glaubt er. "Viele Gäste
kommen gerade deshalb zu uns, um einmal Urwald und Wildnis zu erleben."
18 Jul 2007
## AUTOREN
Annette Jensen
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