| # taz.de -- Orgien in grellem Orange | |
| Das Auge isst mit. Und gewöhnt sich mit der Zeit auch an Irritationen. | |
| Solche etwa, wie sie das Münchner Sternelokal Tantris oder die | |
| „Spiegel“-Kantine in Hamburg bereithalten. Zwei Ikonen der Seventies | |
| VON GEORG ETSCHEIT | |
| Wenn von sehr teuren Restaurants die Rede ist, vorzugsweise solchen, die | |
| sich mit Michelin-Sternen schmücken können, fällt fast zwangsläufig das | |
| Wort vom Gourmet-Tempel. Dem Wirklichkeitstest halten solche Epitheta | |
| selten stand – zumindest was die architektonische Seite ausmacht. Denn die | |
| Herren Kochkünstler (Damen sind immer noch rar unter den Profiköchen), die | |
| am Herd zuweilen Wunder vollbringen, verfügen, was die Innenausstattung | |
| ihrer gerühmten Etablissements anbelangt, oft nur über einen | |
| durchschnittlichen bis dürftigen Geschmack. Doppelbegabungen sind selten. | |
| Wer einmal Heinz Winklers tüddelige, pseudovenezianisch aufgemotzte | |
| Wellness-Oase mit angeschlossenem Drei-Sterne-Restaurant in Aschau im | |
| Chiemgau gesehen hat, sehnt sich auch gestalterisch nach dem Purismus, der | |
| seine durchweg hochdekorierte Küche auszeichnet. | |
| Dagegen trägt das Tantris in München den Titel Tempel vollkommen zu Recht: | |
| Denn der Schweizer Architekt Justus Dahinden, der Münchens beste | |
| gastronomische Adresse Anfang der Siebzigerjahre für den Baulöwen Fritz | |
| Eichbauer in ein Schwabinger Gewerbegebiet setzte, hatte vorher in der Tat | |
| diverse Kirchen gebaut. Für das Tantris schuf er einen Zentralbau aus | |
| Beton, Blech, Glas und Plastik, der vor allem wegen seiner schrillen | |
| Innenausstattung heute berühmt ist. Die Orgie in Orange, der Modefarbe der | |
| frühen Siebziger, hat die Zeitläufte unbeschadet überdauert, was vor allem | |
| der Beharrlichkeit, man möchte fast sagen Sturheit, des Besitzers zu | |
| verdanken ist. Seit ein paar Monaten präsentiert sich das Tantris nach | |
| dreijähriger behutsamer Generalsanierung wieder in besonders frischen | |
| Farben. | |
| Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, das Restaurant unter Denkmalschutz zu | |
| stellen. Denn wohl kaum ein anderer Bau in Deutschland hat das | |
| zukunftsfreudige Lebensgefühl der frühen Siebzigerjahre besser konserviert | |
| als das Tantris. Am ehesten vergleichbar ist dieser Pop-Palast vielleicht | |
| noch mit der berühmten Spiegel-Kantine in Hamburg, die der dänische | |
| Architekt und Designer Verner Panton Ende der Sechzigerjahre als, so die | |
| Selbstdarstellung des Presseunternehmens, „lustig-sinnliches Inferno | |
| leuchtender Farben und schwellender Formen“ inszenierte. Der Gästebereich | |
| der Kantine wurde jüngst erweitert, im „alten“ Stil natürlich. Denn das | |
| Objekt ist, anders als das Tantris, glücklicherweise bereits in der | |
| Denkmalliste eingetragen. | |
| Das Tantris liegt in einem wenig ansprechenden Umfeld im Norden Schwabings. | |
| In nächster Nachbarschaft: ein Wohnhochhaus, eine Tankstelle und eine | |
| Polizeistation. Wer erwartungsfroh die breite Treppe zum Eingang des | |
| Restaurants empor schreitet, sieht sich zunächst mit einem Rudel aztekisch | |
| anmutender Fabelwesen aus Leichtbeton konfrontiert, die das „tantrische“ | |
| Lebensgefühl symbolisieren sollen. Was immer das sei. Durch die schwarze | |
| Drehtür ins Innere katapultiert, steht der Gast in einem fast acht Meter | |
| hohen, von mehreren Ebenen rhythmisierten, kirchenartigen Raum, dessen | |
| Wände und Decken mit einer Art orangefarbenem Frottee verkleidet sind. | |
| Wolfram Siebeck lästerte über diesen „Badeteppich“, der freilich eine | |
| wunderbar gedämpfte Akustik zur Folge hat. Einen ähnlichen Effekt erzielen | |
| in der Spiegel-Kantine jene pyramidenförmigen Gebilde, die von den Decken | |
| herabhängen und an die Innenverkleidung eines Tonstudios erinnern. Das | |
| übliche Kantinengeklapper und -geplapper wird dadurch fast völlig | |
| absorbiert. | |
| Blickfang des Münchner Restaurants ist eine ausladende orangefarbene | |
| Plastikskulptur, welche die Wand zur Küche in ihrer ganzen Breite | |
| beansprucht. Auf ihr sind Begriffe wie „feurig“, „fröhlich“, „freudi… | |
| lesen, die den Besucher auf das dionysische Tantris-Reich aller irdischen | |
| Lustbarkeiten einstimmen sollen. Stilbildend sind auch die Tantris-Lampen, | |
| Halbkugeln aus – was denn sonst? – orangefarbenem Plastik, und die schweren | |
| schwarzen Ledersessel. Selbst die schalenartigen Plastiksitze auf ihren | |
| Spinnenbeinen, die auf der Gartenterrasse stehen, sind Originale. Das | |
| flinke Servicepersonal kommt dagegen in schlichtem Schwarz-Weiß daher. | |
| Eigentlich würde man hier die Enterprise-Crew erwarten, die einem die | |
| Amuse-Gueules mal so eben auf den Platzteller beamt. | |
| Dass dieses Refugium reinster Seventies nicht längst irgendwelchen | |
| Modernisierungen zum Opfer gefallen ist, grenzt an ein Wunder. Denn | |
| unumstritten war die schrille Architektur des Schweizers Dahinden nie. | |
| Schon kurz nach der Eröffnung 1971 schrieb ein Kritiker: „Wenn es stimmt, | |
| dass das Auge mitisst, dann weiß man jetzt endlich auch, was das heißt: Das | |
| Auge bricht …!“ Doch die Gäste ließen sich von den Leistungen des ersten | |
| Küchenchefs – kein Geringerer als der angehende „Jahrhundertkoch“ Eckart | |
| Witzigmann – offenbar rasch versöhnen. Erst Mitte der Achtziger stellte | |
| Eichbauer eine „Delle in der Beliebtheit“ fest. Immer häufiger hätten sich | |
| Gäste über das Ambiente beschwert. Als Heinz Winkler Witzigmann am Herd des | |
| Tantris ablöste, habe ihm das Interieur „überhaupt nicht zugesagt“, | |
| erinnert sich der Patron. Als dann ein New Yorker Restaurantdesigner beim | |
| Besuch des Lokals von der „schönsten Feuerwehrstation, die ich je gesehen | |
| habe“, sprach, waren Eichbauer und seine Frau entsetzt: „Uns gefiel es | |
| immer noch.“ | |
| Vorschläge, die Pop-Ikone zu schleifen, gab es reichlich. In den | |
| Siebzigerjahren wollte jemand rustikale Holzemporen einbauen, in den | |
| Achtzigern eine Art Zeltlandschaft implantieren. In den Neunzigern war | |
| geplant, das Lokal mit einem künstlichen Wasserfall aufzuhübschen. | |
| Eichbauers widerstanden, bis die Retrowelle einsetzte. „Heute ist es Kult“, | |
| freut sich der Besitzer. Hobbybildhauer Hans Haas, Tantris-Küchenchef seit | |
| vierzehn Jahren, beschränkt sich auf die Neugestaltung von Geschirr und | |
| Besteck. Die schnittig geschwungenen Teller und stilettartigen Messerchen | |
| und Gäbelchen sind allerdings gewöhnungsbedürftig. | |
| Die jüngsten Sanierungsmaßnahmen beschränkten sich insbesondere auf den | |
| Ersatz der Boden- und Wandtextilien, die eigens in der Schweiz nachgewebt | |
| wurden. Eine neue Strömungstechnik der hinter Wand- und Deckenbehängen | |
| verborgenen Klimaanlage soll verhindern, dass sich an den Lüftungsschlitzen | |
| wieder hässliche schwarze Streifen bilden. Augenfälligste Neuerung: der | |
| Lounge-Bereich auf der alten, kaum genutzten Empore. Und im Eingangsbereich | |
| hängt seit neuestem ein mehr als mannshoher Leuchter, der mit den | |
| Tantris-üblichen Capri-Sonnen bestückt ist. Den hat Eichbauer selbst | |
| konstruiert. Ein echter venezianischer Murano-Lüster wäre ihm, wie er sagt, | |
| doch etwas zu teuer gekommen. | |
| Noch einen Tick extravaganter als das Tantris war die | |
| Leuchtfarben-Seligkeit, die der dänische Designer Verner Panton im | |
| Spiegel-Hochhaus an der Hamburger Ost-West-Straße Ecke Brandstwiete in | |
| Szene gesetzt hatte. Bis zum zehnten Stock hinauf hatte der Däne jeden | |
| Ressortflur in einer anderen Farbe streichen lassen und mit passendem | |
| Teppich ausgelegt – in kräftigen Tönen zwischen Rot, Orange und Violett. | |
| Fast noch wilder trieb es Panton in Foyer, Kantine, Snackbar, Schwimmbad | |
| und Konferenzraum, die er mit Lichttapeten aus Busen- und Schalenformen, | |
| grellbunt kreisenden Boden- und Tischplattenmustern, farbig bespannten | |
| Deckenskulpturen, glänzenden Chromstühlen und leise klirrenden Lüstern aus | |
| Muschelplättchen ausstattete. | |
| Doch nach und nach setzte sich wieder der Hang zu hanseatischer | |
| Nüchternheit durch. Eingangshof und Foyer wurden in seriösem grauschwarzen | |
| Granit gefasst, immer mehr Redaktionen ließen ihre Flure weiß streichen. | |
| Schließlich war der Spiegel zur quasi hoheitlichen Institution im Lande | |
| geworden. Als 1998 auch Kantine und Snackbar als Überbleibsel der einstigen | |
| Farb- und Formenorgie renoviert werden sollten, schritt der Denkmalschutz | |
| ein und machte dem Verlag zur Auflage, den Originalzustand | |
| wiederherzustellen. Also wurden auch hier die alten Teppiche mit | |
| beträchtlichem Aufwand nachgewebt. Die jüngste Erweiterung der bei den | |
| Spiegel-Mitarbeitern äußerst beliebten Kantine machte es notwendig, die | |
| ursprünglich grellbunt emaillierten Tische zu vervielfältigen. Die | |
| Replikate wurden allerdings lackiert, weil die alte Emailtechnik unter | |
| Einsatz giftiger Schwermetalle heute nicht mehr angewendet werden darf. | |
| Zu den größten Panton-Fans gehört übrigens Kantinenleiter Alfred Freeman. | |
| Er glaubt, dass die rot-orange Farbgebung einen belebenden Einfluss auf den | |
| Organismus hat. „Die analogen Farben wirken anregend, ohne zu stressen. | |
| Während man andernorts in ermüdender Grau-in-grau-Atmosphäre speist, kommen | |
| unsere Mitarbeiter frisch aus der Kantine zurück zu ihrem Arbeitsplatz.“ | |
| Auch Tantris-Restaurantchef Dominique Metzger lässt sich zu der Aussage | |
| verleiten, dass das knallige Orange die Gäste dazu animiere, „fröhlich zu | |
| sein, zu feiern und glücklich zu sein“. Und ordentlich reinzuhauen. | |
| Immerhin zählt das Tantris zu den wenigen Spitzenlokalen, die trotz | |
| allfälliger Wirtschaftsflaute einen steigenden Umsatz verbuchen können. | |
| GEORG ETSCHEIT, 43, lebt als freier Autor in München | |
| 12 Nov 2005 | |
| ## AUTOREN | |
| GEORG ETSCHEIT | |
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