| # taz.de -- Oral tradierte Hochkultur | |
| > SOUND DER KARIBIK Die haitianische Musikszene ist so kreativ wie kaum | |
| > eine andere, trotzdem sind ihre Protagonisten unbekannt. Der | |
| > Musikethnologe Alan Lomax dokumentierte dort in den 1930er-Jahren die | |
| > Land- und Industriearbeitermusik. Jetzt wird sie veröffentlicht | |
| VON DETLEF DIEDERICHSEN | |
| Man könnte es glatt als Beweis für die Existenz einer höheren Gewalt | |
| ansehen: die Zielgerichtetheit, mit der seit mehreren Jahrhunderten über | |
| Haiti große und größte Katastrophen ausgegossen werden. Ökologische | |
| Desaster, vernichtende Hurrikans, mörderische Diktatoren, Erdbeben: Es kann | |
| doch kein Zufall sein, dass es immer wieder Haiti erwischt, wohingegen etwa | |
| die auf derselben Insel befindliche Dominikanische Republik meist | |
| rätselhaft verschont bleibt (von den Diktatoren mal abgesehen). | |
| Doch genauso wie man Haiti zum Themenpark Katastrophe erklären könnte, | |
| ließe es sich als Rollenmodell für die einzigartige karibische Kreativität | |
| hochhalten. Beispiel Popmusik: Mit Calypso, Son, Reggae, Dub und vielem | |
| mehr hat die Karibik in den letzten Jahrzehnten dem Rest der Welt | |
| entscheidende neue Impulse gegeben. Das allein sollte reichen, um sie als | |
| eines der prägenden Kreativzentren der Welt zu qualifizieren. | |
| Doch selbst ein schnell drehendes Land wie Jamaika kommt nicht an gegen das | |
| Entwicklungstempo in Haiti, das in derselben Zeit, in der sich aus Mento | |
| Reggae und dann als Subgenre Dub entwickelte, höchst unterschiedliche, | |
| atemberaubende Klangkonzepte wie Konpa Direk, Ýeýe, Mini-Djaz, Nouvel | |
| Jenerasyon und Misik Rasin gebar – leider, hier sind wir wieder im | |
| tragischen Genre, weitgehend unter Ausschluss der nichthaitianischen | |
| Öffentlichkeit. Bob Marley, Lee Perry oder Shaggy konnten zu Weltstars | |
| aufsteigen, von Frères Parent, Carole Démesmin oder Emeline Michel hat man | |
| außerhalb Haitis nie etwas gehört. Daran wird auch die hier zu erörternde | |
| Veröffentlichung zunächst nichts ändern. „Alan Lomax in Haiti 1936–1937. | |
| Recordings for the Library of Congress“ schaut in die Zeit davor. | |
| ## Vordenker von Multikulti | |
| Die ist aber interessant genug und ohne Parallelen im Rest der Welt. Lomax | |
| sollte später der große Musikethnologe werden, dessen Produktionen für die | |
| Library of Congress, Decca und Atlantic maßgeblich zur Wieder- | |
| beziehungsweise Neuentdeckung von US-Folk und Blues, später von | |
| Folkstilistiken der ganzen Welt führte. | |
| Im Zuge dessen kämpfte Lomax auch erfolgreich für eine Neubewertung von | |
| sogenannter primitiver und Folkmusik, und nicht nur ein Bob Dylan wäre ohne | |
| ihn nicht denkbar gewesen, auch für die One-World- beziehungsweise | |
| Multikultibewegung war Lomax, der schon in den 1940er-Jahren in der New | |
| Yorker Carnegie Hall Konzerte veranstaltete, in denen Calypso-, Blues-, | |
| Flamenco- und peruanische Musiker nacheinander auftraten und 1983 die | |
| Association for Cultural Equity begründete, ein entscheidender Vordenker. | |
| Darüber hinaus sind seine Produktionen lebende Beispiele für die Schönheit | |
| und Sinnhaftigkeit von Lo-Fi, von Unperfektheit und anderen musikalischen | |
| Idiosynkrasien. | |
| Als er 1936 nach Haiti reiste, war er gerade mal 21, aber erfüllt von | |
| missionarischem Eifer. Es ging ihm im Kleinen darum, die Musik der | |
| Landarbeiter Haitis aufzunehmen und zu dokumentieren. Im Großen war das | |
| aber ein weiterer Teil seines Projekts, der Welt zu zeigen, dass oral | |
| tradierte Industrie- und Landarbeitermusik prinzipiell der bis dato (und | |
| heute noch) als Hochkultur mit besonderer Weihe versehenen Musik nicht | |
| qualitativ unterlegen war. Anfang der 1930er-Jahre hatte er angefangen, | |
| seinen Vater, den ebenfalls legendären und einflussreichen Musikethnologen | |
| John A. Lomax, auf dessen Entdeckungsreisen zu begleiten, begann aber bald | |
| auf eigene Faust zu reisen, zunächst in die US-Bundesstaaten Georgia und | |
| Florida. Dort hatten Musiker von den Bahamas sein Interesse geweckt, wohin | |
| er 1935 reiste. Dort wiederum waren es Migranten aus Haiti, deren Musik ihn | |
| besonders faszinierte, so dass er schließlich im Dezember 1936 dorthin | |
| aufbrach. | |
| Die entscheidende Innovation an Lomax’ musikethnologischer Arbeit war die | |
| Tatsache, dass er aufnahm, was er fand. Vorher hatte seine Zunft sich Musik | |
| vortragen lassen und sie in Notenschrift übertragen. Lomax hatte schnell | |
| begriffen, dass die Notenschrift letztlich ein Unterdrückungsinstrument der | |
| abendländischen Musikidee ist und nicht tauglich, viele der wesentlichen | |
| Bestandteile der Performances festzuhalten, die er erlebte. Seinen | |
| Aufnahmen hört man an, dass er Sound als Teil des Dokuments verstand, dass | |
| die Performance Teil des Werkes ist, und nicht nur die, sondern auch | |
| Nebengeräusche, Fehler, Reaktionen von Zuhörern, ja auch Räume und Orte und | |
| ihre spezifische klangliche Charakteristik. | |
| Wobei er hart mit der Technik zu kämpfen hatte. Die fünfzig Stunden | |
| Aufnahmen, die er schließlich aus Haiti mitbrachte, hatte er auf einem | |
| neuartigen, aber nicht besonders funktionsfähigen Aluminium-Disk-Recorder | |
| gemacht. Die Qualität der Dokumente war so schlecht, dass er beschloss, sie | |
| im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Field Recordings für immer im | |
| Archiv zu lassen. Ein an ihrer späten Aufarbeitung beteiligter Toningenieur | |
| sagt, dass das Schwierigste an dieser Unternehmung war, „zu unterscheiden | |
| zwischen den Hintergrundklängen der Performance – Rasseln, Tambourine, | |
| Fußbewegungen und Wind – und dem Ächzen und Quietschen von Lomax’ | |
| Aufnahmegerät“. Die klangliche Bearbeitung sollte am Ende fast zehn Jahre | |
| dauern. Aus den fünfzig Stunden Aufzeichnungen wurden für diese Box zehn | |
| CDs herausdestilliert, die einen faszinierenden Einblick geben in die | |
| Vielfalt der haitianischen Musik der 1930er-Jahre – wobei sich Lomax | |
| dezidiert auf die ländliche und die Arbeitermusik stürzte und darauf | |
| verzichtete, die „Djaz“-Gruppen von Port-au-Prince aufzuzeichnen, und sich | |
| auch weigerte, die Blaskapelle des Präsidenten mitzuschneiden. | |
| ## Die Vodou-Fahnder | |
| Es bleibt ein großer Rest: Work Songs von Landarbeitern und uralte | |
| französische Volkslieder, katholische Hymnen und zeremonielle | |
| Vodou-Gesänge, paradierende Rara-Kapellen und jubilierende Pfadfinder, | |
| Trommelgruppen und Streicherensembles. Und ausgesprochen ungewöhnliche | |
| Performer wie etwa der knorrige Pianist Ludovic Lamothe oder die charmante | |
| Francilia, die Lomax eigentlich als Köchin eingestellt hatte und deren gut | |
| gelaunten Vodou-Gesängen eine ganze CD gewidmet ist. | |
| Die auffällige Leidenschaftlichkeit und Energie, die fast alle hier | |
| versammelten Aufnahmen kennzeichnet, mag ein grundsätzliches Merkmal | |
| haitianischer Musik sein. Sie könnte aber auch ein Zeichen jener Zeit sein: | |
| Zwei Jahre nach dem Ende der US-Besatzung (1915–1934) war Haiti noch | |
| bewaldet und grün und die Stimmung im Land von einem vorsichtigen | |
| Optimismus geprägt. Die gegen die einstigen Kolonialmächte Frankreich und | |
| USA gerichtete „Indigeniste“-Bewegung propagierte eine Rückbesinnung auf | |
| afrikanische Traditionen, auf Creole und Vodou, und ländliche, nicht | |
| westlich dominierte urbane Lebensformen. Den theoretischen Hintergrund | |
| dafür lieferte eine Handvoll von Ethnologen, die durchsetzten, dass 1938 | |
| ein staatliches Bureau d’Ethnologie gegründet wurde. Zu ihnen gehörte auch | |
| der reisende Landarzt François Duvalier, der dann ab 1957 als Präsident und | |
| Diktator das Land auf beispiellose Art verheeren sollte. In den USA | |
| entbrannte in den 1930er-Jahren die Faszination durch Vodou/Voodoo, das | |
| quasi zu einem Horror-Subgenre umstilisiert wurde, was sich in Filmen wie | |
| dem erfolgreichen „Voodoo Fire in Haiti“ von Richard Loederer | |
| manifestierte. | |
| So wurde Haiti in diesen Jahren von einer Flut sensationslüsterner | |
| US-amerikanischer Voodoo-Fahnder heimgesucht, die nach blutrünstigen | |
| Ritualen, Menschenopfern und wandelnden Untoten Ausschau hielten. In der | |
| Bevölkerung wuchs schnell eine heftige Aversion gegen diesen | |
| Splatter-Tourismus, und Lomax erhielt von der Schriftstellerin Zora Neale | |
| Hurston, mit der er schon bei früheren Projekten zusammengearbeitet hatte, | |
| den guten Rat, bei seinen Forschungsreisen nicht sein Interesse an | |
| „Folklore“ zu erwähnen. Allein für diese Geschichten lohnt sich die | |
| Anschaffung von „Alan Lomax in Haiti 1936–1937. Recordings for the Library | |
| Of Congress“. Und überhaupt ist diese Box ein exzellentes Beispiel dafür, | |
| dass man auch in Zeiten des Werteverfalls des Tonträgers noch wunderbar | |
| auch schwer zu konsumierende, unpopuläre Musik verkaufen kann: Wenn man sie | |
| zusammenbringt mit Bildern, Historien, Fakten und nicht zuletzt | |
| Hilfsmitteln der Verständlichkeit wie etwa sämtlichen Texten mit englischer | |
| Übersetzung, addiert man sozusagen die entscheidenden Dimensionen hinzu, | |
| die aus einem zweidimensionalen Abbild ein multisensorisches begehbares | |
| Objekt machen. | |
| Der Unterschied zur herkömmlichen CD-Veröffentlichung ist dann | |
| wahrscheinlich so groß wie der zwischen Notendruck und Tonaufzeichnung. | |
| ■ Various Artists: „Alan Lomax in Haiti 1936–1937. Recordings for the | |
| Library of Congress“ (Harte Recordings) | |
| 17 Mar 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| DETLEF DIEDERICHSEN | |
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