| # taz.de -- Olympia der Enthusiasten | |
| Kommenden Freitag beginnen in Salt Lake City die XIX. Olympischen | |
| Winterspiele. Ein Anachronismus, denn noch immer ist der Wintersport auf | |
| dem Stand von 1924, als der Medaillenkampf in Eis und Schnee olympisch | |
| wurde. Eine Bestandsaufnahme | |
| von MATTI LIESKE | |
| Die Zeiten, in denen das Internationale Olympische Komitee (IOC) sich als | |
| eine Art Weltregierung gerieren konnte und sein Präsident Juan Antonio | |
| Samaranch unverhohlen nach dem Friedensnobelpreis schielte, sind vorbei. | |
| Jacques Rogge, der smarte Nachfolger des greisen Spaniers, der Olympia erst | |
| schnurstracks in den Sumpf der Korruption führte und dann gerade noch | |
| rechtzeitig am eigenen schütteren Schopf wieder herauszog, reist seit | |
| Monaten auf Goodwilltour um die Welt. | |
| Obwohl er bei seinen Bemühungen, die Schatten der Vergangenheit zu bannen, | |
| nach eigenem Bekunden „große Unterstützung“ erntet, konnte auch der | |
| ehrenwerte belgische Chirurg das angeschlagene Image des IOC noch nicht | |
| wieder vollständig reparieren. Überall, wo er empfangen werde, so | |
| berichtete Rogge kürzlich, sei der Zuspruch mit der Mahnung verbunden, ja | |
| die Reformen in der Organisation fortzuführen. | |
| Ursprung des schlechten Leumunds ist nicht zuletzt jene Stadt, in der vom | |
| kommenden Freitag an die XIX. Olympischen Winterspiele stattfinden werden: | |
| Salt Lake City, das bei seiner Kandidatur – wie alle anderen Bewerber – | |
| kräftig schummelte, sich dabei aber dummerweise erwischen ließ. Nach dem | |
| Skandal wurde das IOC auf das zurückgestutzt, was es tatsächlich ist: eine | |
| leicht größenwahnsinnige Sportorganisation, die mit den olympischen Ringen | |
| und den dazugehörigen Spielen über ein fast unbezahlbares Gut verfügt, im | |
| Konzert der Mächte dieser Welt aber höchstens die Rolle eines kleinen | |
| Bittstellers verkörpern darf. | |
| Mit einem ungeduldigen Zucken der Mundwinkel wischte US-Außenminister Colin | |
| Powell das leise Flehen von IOC-Chef Rogge um eine Feuerpause im | |
| Afghanistankrieg beiseite. Wenn die USA zum Zeitpunkt der Spiele in Salt | |
| Lake City noch irgendein Land dieser Welt bombardieren würden, dann dächten | |
| sie nicht daran, dieses Treiben zu unterbrechen, nur weil in Utah von | |
| Schanzen gesprungen oder die Pisten hinuntergesaust werde, so der | |
| US-Außenminister, wenn man seine notdürftig diplomatisch kaschierten Worte | |
| in Klartext übersetzt. | |
| Und was tat Rogge? Sagte er die Winterspiele kurzerhand ab, oder fand er | |
| wenigstens ein paar harsche Worte über die grobe Missachtung der | |
| olympischen Idee durch das Veranstalterland? Nicht im Mindesten. Der | |
| Belgier kuschte brav und bat lediglich darum, man möge doch wenigstens die | |
| Sicherheit der Athleten gewährleisten. Was die USA, ausgewiesene Experten | |
| in der Verhinderung terroristischer Anschläge, so großherzig wie umgehend | |
| versprachen. | |
| Natürlich hatte Rogge Recht, als er eine Absage der Spiele nicht in | |
| Betracht zog. Wie schon beim unseligen Olympiaboykott der Spiele in Moskau | |
| 1980 durch die Administration von US-Präsident Jimmy Carter und ihre | |
| europäischen Lakaien – wegen des sowjetischen Angriffs auf Afghanistan – | |
| und beim Gegenboykott des Ostens 1984 in Los Angeles hätte dies vor allem | |
| die Sportler getroffen. Sportler, die sich seit Jahren auf ihren großen | |
| olympischen Moment vorbereiten, jenen Moment, in dem sie aus der Obskurität | |
| ihrer jeweiligen Sportart ins gleißende Licht der Weltöffentlichkeit | |
| rücken. | |
| Mehr noch als bei den Sommerspielen gilt dies für die Winterspiele. | |
| Schlagendster Beweis für die mangelnde Massenkompatibilität der dort | |
| vertretenen Disziplinen ist die Tatsache, dass sie hierzulande noch im | |
| öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen werden – abgesehen vom | |
| Skispringen natürlich, das von der Schmitt-Hannawald-Jauch-Thoma-Boygroup | |
| zum profitablen Schanzenzirkus empor- und damit ins Privatfernsehen gehievt | |
| und etabliert worden ist. | |
| Im Grunde aber stellen die Winterspiele einen Anachronismus dar. In Zeiten | |
| der Globalisierung auch des Sports mutet es fast ein wenig putzig an, ein | |
| Ereignis zu zelebrieren, bei dem immer dieselbe Hand voll Nationen die | |
| vorderen Plätze belegt. Olympische Sommerspiele, das sind inzwischen | |
| mehrere hundert Wettkämpfe, bei denen von Barbados bis Brasilien, von | |
| Saudi-Arabien bis Südafrika, von Kolumbien bis Thailand, von Neuseeland bis | |
| Nigeria Sportler anreisen, die nicht einfach nur dabei sein oder die | |
| niedlichen Exoten abgeben, sondern die Gold gewinnen wollen. | |
| Der Wintersport hingegen ist noch ziemlich exakt auf dem Stand von 1924, | |
| als die Winterspiele ins Leben gerufen wurden und der Sport fest in | |
| europäischer Hand war. Spiele für einige wenige Nationen, die zufällig mit | |
| hohen Bergen und den entsprechenden Anlagen gesegnet sind – der Rest bleibt | |
| ausgesperrt. Eine Konstellation, die dem modernen olympischen Gedanken | |
| komplett widerspricht. | |
| In Sydney fehlte kaum ein Land dieser Erde, selbst der Iran schickte | |
| zähneknirschend und bärtezausend einige Sportlerinnen, um die neuen, mühsam | |
| erkämpften Kriterien des IOC zu erfüllen, und sogar die Taliban | |
| Afghanistans liebäugelten lange mit einer Teilnahme, bevor sie sich doch in | |
| ihre fundamentalistische Nische zurückzogen. Bei Sommerspielen schaut die | |
| ganze Welt zu. Weilt man jedoch zur Zeit der Winterspiele in Argentinien, | |
| Mosambik oder auch nur in Portugal, wird man Mühe haben, die Ergebnisse des | |
| Abfahrtslaufs in irgendeiner Zeitung zu finden, geschweige denn bewegte | |
| Bilder zu sehen. | |
| Winterspiele, das ist nach wie vor eine exklusiv europäische Angelegenheit, | |
| angereichert durch Nordamerikaner und Japaner, die ja bekanntlich alles | |
| mitmachen. Exoten sind hier noch Exoten, die für Spaß sorgen, deren | |
| Teilnahme aber, wie im Falle moldawischer Loipendödel deutlich wurde, | |
| drastisch reglementiert ist. | |
| Winterspiele, das ist dafür aber auch eine Angelegenheit, die sich einen | |
| gewissen Charme bewahrt hat, der dem sommerlichen olympischen Treiben im | |
| Rahmen seiner Gigantisierung längst abhanden gekommen ist. Zwar müssen die | |
| Veranstaltungsländer riesige Schanzen in ihre Wälder klotzen, dazu teure, | |
| monströse Bob- und Rodelbahnen, die nie wieder benötigt werden, weil es auf | |
| der Welt nur ein paar Leute gibt, die sie nutzen könnten. Dafür finden die | |
| Wettkämpfe in lauschiger winterlicher Landschaft statt, in kleinen Weilern, | |
| die in den Bergen verstreut sind, auch wenn es sich beim Olympiaort selbst | |
| meist um eine graue, gesichtslose Großstadt handelt, die sich endlich mal | |
| bemerkbar machen will: Calgary, Albertville, Nagano, Salt Lake City, in | |
| vier Jahren dann Turin. Sarajevo 1984 bildete da eine Ausnahme, vor allem | |
| aber das gemütliche Lillehammer, das wegen seiner phänomenalen Atmosphäre | |
| als Nonplusultra des winterlichen Olympismus gilt. | |
| Winterspiele, das sind Spiele der langen Wege. Selbst im Doppelolympiaort | |
| Innsbruck (1964 und 1976), wo alles relativ dicht beisammen lag, musste | |
| auch erst mal die Axamer Lizum erreicht werden. Statt hektischen | |
| Großstadtverkehrs gibt es jedoch kontemplative Fahrten durch winterlich | |
| verschneite Landschaften in niedliche Bergorte wie Courchevel, Karuizawa, | |
| Canmore oder Park City. Winterspiele, das sind auch Spiele der | |
| Ungewissheit. Improvisation ist gefragt, von einem exakt durchgeplanten | |
| Verlauf kann keine Rede sein. Schließlich finden die Wettbewerbe in | |
| Gegenden statt wie zum Beispiel Hakuba, wo sich höchstens die possierlichen | |
| japanischen Schneeaffen wohl fühlen würden, wenn man sie nicht von dort | |
| vertrieben und in ein kleines Reservat mit heißen Quellen verfrachtet | |
| hätte, nahe Yamanouchi, dem Austragungsort der Snowboardwettbewerbe 1998. | |
| Schneetreiben und Nebel sind in Hakuba praktisch garantiert, weshalb der | |
| Abfahrtslauf so oft verschoben werden musste, dass Hermann Maier, als er | |
| endlich auf die Piste durfte, versuchte, die ganze Strecke mit einem | |
| einzigen Sprung zurückzulegen, um einer weiteren Absage zuvorzukommen. | |
| Winterspiele sind auch Spiele einer besonderen Art von Publikum. Hier | |
| Zuschauer zu sein, das bedeutet viel Geduld und harte Arbeit. In Sydney | |
| empfanden es eine Menge Australier schon als heroischen und überaus | |
| abenteuerlichen Akt, mal ihr Auto stehen zu lassen und eine Bahnfahrt zu | |
| riskieren, um in komfortabler Halle einen Turn- oder Schwimmwettkampf zu | |
| begutachten. Die Leute in Nagano mussten, um ihre geliebten Skispringer | |
| siegen zu sehen, Kilometer vor den Schanzen die stecken gebliebenen Busse | |
| verlassen, mühselig in langen Karawanen durch den Schnee stapfen und dann | |
| stundenlang mit frostglühenden Ohren und heftig protestierenden | |
| Eiszapfenzehen in der Kälte stehen, bis endlich der magische Moment kam, | |
| als Kazuyoshi Funaki, der letzte Springer des japanischen Teams, gelandet | |
| war. Dreißigtausend Augenpaare starrten damals gebannt auf die | |
| Anzeigetafel, bis jener kollektive Aufschrei des Glücks kam, der vermutlich | |
| noch bis Tokio zu hören war. | |
| Jede Sportart, die bei Winterspielen vertreten ist, lässt sich zu Hause im | |
| Fernsehsessel wesentlich besser, genauer und natürlich bequemer verfolgen. | |
| Wer an den Schanzen steht, sieht nichts als einen Schemen, der erstaunlich | |
| kurz durch die Luft saust und, ehe man geblinzelt hat, schon wieder auf den | |
| Boden plauzt; an der Rodelbahn macht es nur kurz „wutsch“, und schon ist | |
| der Schlitten um die nächste Kurve verschwunden; bei den alpinen Rennen | |
| sieht der Betrachter vor Ort einen Läufer nach dem andern, der den Zielhang | |
| hinabschießt, abschwingt und sich die Bretter von den Füßen fetzt. | |
| Dazwischen schaut man Fernsehen auf der Videowand. | |
| Winterspiele, das sind daher Spiele der Enthusiasten. Hundertschaften von | |
| Norwegern, die morgens um acht nach mehrstündiger Anfahrt mit riesigen | |
| Kuhglocken im Zielraum des Langlaufs sitzen und bereits überraschend | |
| vergnügt und verdächtig betrunken wirken. Busladungen von tollkühnen | |
| Franzosen, die sich Kehre um Kehre hoch hinauf ins eisige Les Arcs | |
| bugsieren lassen, um dort Speedskifahrern zuzuschauen, die nichts tun, als | |
| mit einem Affenzahn ein kleines Stück Steilhang schnurgerade | |
| hinunterzubrausen. | |
| Scharen von Wahnwitzigen, die den halben Tag bei klirrenden dreißig Grad | |
| minus im norwegischen Kvitfjell an der Piste verbibbern oder sich am | |
| kanadischen Mt. Allan vom gefürchteten Chinook-Wind das Gebein durchpusten | |
| lassen. Tausende von Niederländern, die das Eisschnelllaufstadion in | |
| Albertville orange färben und mit ungebremster Begeisterung einen | |
| 10.000-Meter-Lauf über die volle Distanz bejubeln, und dann den nächsten | |
| und den nächsten. Oder hunderte von japanischen Kids, die beim ersten | |
| Eishockeyspiel der Heimmannschaft die Halle mit einem Kreischen erfüllen, | |
| das an Hitchcocks Horrorfilm „Die Vögel“ erinnert und dessen Auf- und | |
| Abschwellen, wenn man die Augen schließt, erkennen lässt, ob die Japaner | |
| den Puck haben, in die Nähe des gegnerischen Tors gelangen oder in Gefahr | |
| geraten. | |
| Winterspiele, das sind Tummelplätze für Athleten und Athletinnen, die | |
| zumeist aus abgelegenen Gebirgsregionen stammen und auch so reden, die | |
| seltsame Sportarten betreiben wie Curling oder Biathlon, das 1924 noch | |
| Militärpatrouille hieß, und die überglücklich sind, einmal in vier Jahren | |
| die Unwirtlichkeit ihrer Wälder verlassen und im Rampenlicht stehen zu | |
| dürfen. | |
| Nordische Langlaufbären wie Björn Dæhlie oder Vegard Ulvang, | |
| milchgesichtige Skisprungflöhe wie Toni Nieminen oder Andreas Goldberger, | |
| krachlederne Rodelungetüme wie der unvermeidliche Hackl-Schorsch. Dazu | |
| Skimaderln, die irgendwie alle aus Lenggries kommen, sowie ein halbes | |
| Dutzend Abfahrtsläufer aus Österreich, die bestürzt erleben müssen, wie | |
| schon wieder irgendein dahergelaufener und besonders frech grinsender Ami | |
| ihnen die Goldmedaille wegschnappt. | |
| Aber auch das winterliche Olympia ist aller Traditionspflege zum Trotz | |
| moderner geworden, weshalb es nicht nur die ehrwürdigen Eiskunstläufer mit | |
| ihren Rittbergern und Toeloops oder die geruhsam ihre Runden ziehenden | |
| Klappkufengrazien aus Erfurt gibt, sondern auch die übereinander purzelnden | |
| Shorttrackraser und die Snowboardfreaks aus Aspen, Helsinki, Kiew oder | |
| München, die Olympia mit seinen pathetischen Medaillenzeremonien für eine | |
| Art uncoole Muppets Show halten, aber trotzdem jede Menge Fun haben. | |
| Selbst die millionenschweren Eishockeyprofis aus der NHL können sich der | |
| olympischen Faszination nicht entziehen, wie die heißen Tränen des | |
| Superstars Wayne Gretzky nach dem Ausscheiden Kanadas in Nagano mit | |
| eindrucksvoller Feuchtigkeit bewiesen. Als Teamchef der Kanadier startet | |
| „The Great One“ in Salt Lake City einen neuen Versuch, Gold zu gewinnen bei | |
| den mit 2.350 Sportlern und 78 Entscheidungen größten Winterspielen aller | |
| Zeiten. Im Übrigen sind es die ersten Spiele seit 1980, denen nicht Juan | |
| Antonio Samaranch vorsteht, und ebenfalls seit 1980 die ersten, die vom | |
| Oberhaupt einer Krieg führenden Nation eröffnet werden – sofern sich George | |
| W. Bush tatsächlich wie angekündigt zur Opening Ceremony wagt. | |
| MATTI LIESKE, Jahrgang 1952, ist seit 1985 taz-Sportredakteur und wird von | |
| den Winterspielen aus Salt Lake City berichten | |
| 2 Feb 2002 | |
| ## AUTOREN | |
| MATTI LIESKE | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |