# taz.de -- Oberammergauer Passionsspiele: Heidenspaß mit Rabbi Jesus | |
> Alle zehn Jahre lädt Oberammergau zu den Passionsspielen. Seit Christian | |
> Stückl 1990 die Regie übernahm, dürfen auch Frauen, Protestanten und | |
> Muslime mitspielen. | |
Bild: Leiden, sterben, auferstehen: Oberammergau lebt im Rhythmus der Festspiel… | |
OBERAMMERGAU taz | Noch drei Stunden, bis das Spiel beginnt. Das Kreuz auf | |
dem Oberammergauer Hausberg gleißt in der Morgensonne, erste eintreffende | |
Reisebusse spucken ihre weißhaarige Besatzung in die Souvenirshops voller | |
handgeschnitzter Jesusfiguren, körbeweise landet Plüschesel Nicky, "the | |
passionplay donkey", für 6,95 Euro in den Auslagen. | |
Otto Huber, der Vizespielleiter, führt eine Gruppe ins Theater, einen | |
schlichten, mit 4.720 Klappstühlen bestückten Leichtbau, der | |
pflichtschuldigst mit Ahs und Ohs bedacht wird. Huber begrüßt nicht nur | |
Katholiken, sondern auch Protestanten, Methodisten und Orthodoxe: "Es ist | |
schön, dass wir Christen Global Player sind." Zwei Polizisten schlendern | |
durch die Reihen, sie suchen nach Bomben, zugegeben etwas oberflächlich, | |
aber: "Sie können unbesorgt sein, ein Islamist würde hier doch sehr | |
auffallen, den würden wir gleich erkennen." Auch wenn das halbe Dorf | |
derzeit Rauschebart trägt? "Auch dann." | |
Deal mit Gott | |
Oberammergau groovt im Rhythmus der Gezeiten seines berühmt-berüchtigten | |
Passionsspiels, das nach einem Gelübde von 1633 auch dieses Jahr wieder | |
aufgeführt wird: Fünf Monate lang, fünf Tage die Woche spült eine monströse | |
Welle die internationale Besucherschar in die Gassen, um halb drei rufen | |
die Fanfaren zum ersten Teil, Einzug in Jerusalem, Vertreibung der | |
Tempelhändler, letztes Abendmahl, Pause um fünf, drei Stunden Shoppen und | |
Schlemmen für die Touris, dann zurück ins Theater, noch mal drei Stunden | |
Ölberg, Geißelung, Kreuzigung, Auferstehung, dann der Shuttle-Service | |
zurück zu den Busparkplätzen. | |
Alle zehn Jahre rotiert dieses Dorf in einer gewaltigen | |
Gemeinschaftsanstrengung um nichts außer Passion und geht beim Normaljob | |
freiwillig auf Kurzarbeit. Nächste Woche steht das Bergfest an, die Hälfte | |
ist geschafft, alles läuft. Obwohl: Die 100 Prozent Auslastung der letzten | |
Dekaden schafft man heuer nicht, vor allem die Hoteliers vor Ort klagen. | |
Das System mit den Arrangements - seit 1980 verticken vor allem britische | |
und US-Veranstalter Karten und Übernachtungen im Kombipaket - geht dieses | |
Jahr nicht so recht auf, teilweise kommen 40 Prozent der Kontingente wieder | |
zurück an die Tageskasse, Betten bleiben leer. Die Krise? Der neue | |
Individualtourismus? Die Missbrauchsskandale - und Kloster Ettal gleich im | |
Nachbarort? Man wird sich für 2020 Gedanken machen müssen, dieses Jahr | |
füllen Tagestouristen wenn schon nicht die Gasthofbetten, so doch die | |
Reihen im Theater ganz gut auf. | |
Oberammergau und sein "Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres | |
Herrn Jesus Christus", eine lange Geschichte. Nachdem 1633 der Deal mit | |
Gott prompt fruchtete und keine weiteren Pesttoten zu verzeichnen waren, | |
hat sich das Passionsspiel zum weltweit größten seiner Art entwickelt. Im | |
Jahr 2000 kamen 520.000 Besucher, über 20 Millionen Euro ließen sie da. | |
Das sich im Vorfeld jeder Saison hoch verschuldende Dorf stemmt das nach | |
allen Regeln des Geschäftssinns und der Tradition: Immer noch dürfen nur in | |
Oberammergau Geborene oder seit mindestens 20 Jahren Ortsansässige mittun. | |
Immer noch entscheidet der Gemeinderat über die Besetzungslisten und die | |
Verwendung der Einkünfte. Immer noch darf sich ab Aschermittwoch des | |
Vorjahres niemand mehr Haare und Bart schneiden - die Dorffriseurin weiß | |
ein Klagelied davon zu singen. | |
Seit 1990, als der damals 27-jährige Christian Stückl zum ersten Mal Regie | |
führte, hat sich aber auch einiges verändert: Frauen über 35, Protestanten | |
und Muslime sind jetzt spielberechtigt, was dazu geführt hat, dass Stückl | |
kaum noch alle Spielwilligen mit einer Rolle versorgen kann. So rufen jetzt | |
einige nur beim Einzug in Jerusalem "Hosianna!", während wieder andere | |
später "Kreuzige ihn!" brüllen. Insgesamt sind knapp 2.500 Menschen als | |
Darsteller, Sänger, Orchestermusiker, Bühnentechniker, Einlasspersonal etc. | |
mit "dem Passion", wie man hier sagt, beschäftigt, das halbe Dorf, allesamt | |
Laien. | |
Spielleiter Christian Stückl, der einzige Vollprofi, ist seit 2002 | |
Intendant des Münchner Volkstheaters. Trotzdem tut er sich den | |
Passionswahnsinn in seinem Heimatort jetzt zum dritten Mal an. "Ich könnt | |
nicht schlafen, wenn das Spiel ohne mich wär", sagt er. "Wenn er eins kann, | |
dann die Massen motivieren", sagt die Pro-Stückl-Fraktion über ihn. Die | |
Contra-Stückl-Fraktion hält ihn für einen Verräter. | |
Er hat modernisiert, die jungen Leute mit eingebunden, viel Reaktionäres | |
und Antisemitisches aus Text und Inszenierung verbannt. Immerhin waren | |
Passionsspiele im Mittelalter regelmäßig Auftaktgeber zu Pogromen an der | |
jüdischen Bevölkerung, immerhin erklärte Goebbels die Oberammergauer | |
Variante 1934 für "reichswichtig", Hitler zeigte sich angetan von der | |
gelungenen Darstellung "des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels", und noch | |
1950 wurde eine lokale Ex-NS-Größe zum Jesus-Impersonator bestimmt. Im Jahr | |
1970 riefen jüdische Organisationen zum Boykott auf. | |
Erst mit Stückl begannen allzu überfällige Aufräumarbeiten. Im Jahr 2010 | |
spart sich das Jerusalemer Volk den Ruf "Sein Blut komme über uns und | |
unsere Kinder!" und damit die Annahme der Kollektivschuld, die jüdische | |
Priesterschaft ist kein geifernder, rachsüchtiger Block mehr, sondern in | |
sich gespalten, Judas ist ein politisch Enttäuschter und Jesus vor allen | |
Dingen ein Jude. Seine Jünger sagen "Rabbi" zu ihm, feiern das letzte | |
Abendmahl als Pessach-Seder und beten auf Hebräisch. Dass sie dabei das "R" | |
oberbayerisch rollen, stört gar nicht so sehr. Das Zuschauen und Zuhören | |
macht wider Erwarten Spaß. | |
Man folgt der Geschichte gespannter als bei Mel Gibson, die ethischen | |
Debatten und Machtspiele zwischen den Hohepriestern und Pilatus fesseln, | |
Kostüme und Bühnenbilder greifen in schlichter, schön abgestimmter | |
Farbigkeit ineinander, die eingeschobenen "Lebenden Bilder", in denen | |
Szenen aus dem Alten Testament als menschliche Stillleben nachgestellt | |
werden, wirken nicht lächerlich, sondern bis ins letzte Detail wie Gemälde | |
durchgestaltet. Und alle Darsteller machen den Eindruck, als würden sie | |
sofort unterschreiben, was Benedikt Geisenhof, Abiturient und diesjähriger | |
Johannes, sagt: "Auf der großen Bühne spielen zu dürfen, vor so vielen | |
Leuten, ist genial, das macht einen Heidenspaß. Man hat Platz, man kann | |
rennen, da ist Action drin. Klar gibts bei 102 Aufführungen auch Tage, wo | |
man sagt: Bäh, schon wieder, bei dem Wetter! Aber insgesamt: Ich bin gern | |
heraußen, ich würds nicht missen wollen." | |
Trotzkopf Johannes | |
Worauf sich Geisenhof allerdings freut, ist der Haarschnitt nach dem 3. | |
Oktober, er findet sich doch zu "gammlig und neandertalermäßig". Aber: "Wer | |
mitmachen will, muss eben gewisse Opfer bringen." Sein jetziges Aussehen | |
würde wohl auch dem Arbeitgeber in spe nicht passen: Der Lieblingsjünger | |
Jesu wird am 4. Oktober in der Mittenwalder Kaserne zur Grundausbildung | |
erwartet. "Passt schon", sagt er dazu nur und erläutert lieber, wie er | |
seine Figur angelegt hat - denn einen Gestaltungsfreiraum gebe einem der | |
Christian schon: "Normalerweise dackelt der Johannes ja immer hinterm Jesus | |
her und ist der brave Leidende. Aber muss der ein Jammerlappen sein, kann | |
der nicht auch mal laut werden?" Und so rennt Geisenhof dann über die Bühne | |
und gibt den Trotzkopf, der nicht begreifen will, was seinem besten Freund | |
da passiert. | |
Der wird wirkungsintensiv mit Kunstblut beschmiert und ans Kreuz | |
geschlagen, wo er dann ganze zwölf Minuten hängen muss. Die dicke Dame eine | |
Reihe weiter vorne verbraucht in dieser Zeit zwei Päckchen Taschentücher. | |
Am nächsten Vormittag schiebt Jesus, im richtigen Leben Kinderpsychologe, | |
entspannt in Flipflops einen Kinderwagen durch die Mannagasse. Benedikt | |
Geisenhof hatte die Atmosphäre im Dorf so beschrieben: "Das ist seit Mai | |
eine komplett andere Welt hier. | |
Jeder kennt plötzlich jeden, alle sind happy, alle mögen sich, und das ist | |
bei uns nicht so oft der Fall." Und während Jesus noch an Gartenzäunen | |
ratscht, startet der Oberammergauer Passionsbetrieb in einen neuen Tag: Im | |
Eissalon Italia stehen indische Nonnen Schlange, aus den Bussen quellen | |
nette Gläubige aus Ohio, ein Architekt aus München freut sich auf die | |
Aufführung - "seit der Stückl das macht, kann man sich das ja anschauen". | |
Die Verkäuferin im Handwerkerladen wünscht sich fallende Temperaturen, denn | |
die Touristen kaufen bei 22 Grad besser als bei 30 Grad, zwei der Engel | |
fahren auf Skateboards zum Passionsspielhaus. Und am Abend spielt sogar der | |
Himmel mit: Punktgenau zur Kreuzigung liefert er dramatisches | |
Wetterleuchten. | |
20 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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