| # taz.de -- OB-Wahl Wuppertal: Der grün-schwarze Projektleiter | |
| > Uwe Schneidewind ist ein international angesehener Wissenschaftler. Nun | |
| > will er Oberbürgermeister von Wuppertal werden. Warum das? | |
| Bild: »Erzähler einer Aufbruchsgeschichte«: Uwe Schneidewind | |
| Von [1][Peter Unfried] | |
| Als Uwe Schneidewind mit seinem Buch Die große Transformation auf Tour | |
| ging, steckte da die Verdichtung von 20 Jahren intellektueller und | |
| wissenschaftlicher Arbeit drin. In den Sälen wurde der Chef des Thinktanks | |
| Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie von den | |
| Transformationsüberzeugten gefeiert, was ihn selbst auch begeisterte. Aber | |
| irgendwann dachte er: Du gibst dich hier als Weiser in der Kunst des | |
| gesellschaftlichen Wandels, aber was weißt du eigentlich wirklich über die | |
| Kräfte, die diese Transformation auf die Straße bringen oder sie | |
| verhindern? | |
| Das ist der entscheidende Punkt, der erklärt, warum es nichts bringt, wenn | |
| Ökos seit 30 Jahren sagen, dass die »Lösungen alle da« seien und sie dann | |
| runterbeten. Sie ignorieren die gesellschaftliche Realität, die bei | |
| fehlenden demokratischen Mehrheiten anfängt und bei nicht zentral | |
| steuerbaren Systemen noch längst nicht aufhört. Will sagen: Die Lösungen | |
| sind eben nicht da, sie können erst durch einen komplexen Prozess | |
| entstehen. Und dafür muss man verschiedenste Leute und Kompetenzen | |
| gewinnen. Kommunal muss einer anfangen und das zielorientiert koordinieren. | |
| Das ist Führung. | |
| An einem Sommertag betritt Schneidewind, 54, ein Café im Berliner | |
| Hauptbahnhof. Er ist auf dem Weg, sich das Bundesverdienstkreuz abzuholen. | |
| Es ist die Abrundung seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Das ist aber nicht | |
| der Grund, warum er ein großes Lächeln im Gesicht hat. Es ist sein | |
| Markenzeichen, dazu trägt er raspelkurze Haare. | |
| ## Wuppertal wählt am 13. September | |
| Bei der ersten Anfrage, ob er nicht bei der Wuppertaler | |
| Oberbürgermeisterwahl antreten wolle, hatte er noch dankend abgewinkt: | |
| Kommt nicht in Frage. Aber nachdem das zunehmend bohrender werdende Gefühl | |
| der Diskrepanz zwischen Reden und Machen ein Jahr in ihm herumwühlte, sagte | |
| er: Lasst uns darüber reden. Inzwischen hat er den Wahlkampf fast hinter | |
| sich. Der erste Durchgang ist am 13. September, zwei Wochen später folgt | |
| dann gegebenenfalls die Stichwahl. | |
| Dass ein Wirtschaftswissenschaftler in hochrangiger Führungsposition | |
| Kommunalpolitiker werden will, ist allein schon eine außergewöhnliche | |
| biografische Wendung. Hinzu kommt aber noch, dass Schneidewind für die | |
| Grünen UND die CDU antritt – gegen den amtierenden Rathauschef Andreas | |
| Mucke von der SPD. | |
| Die SPD ist in der Johannes-Rau-Stadt Wuppertal bis zu diesem Moment noch | |
| die führende Volkspartei, die mit Helge Lindh den direkt gewählten | |
| Bundestagsabgeordneten stellt, die CDU ist auch noch eine Volkspartei. »Die | |
| Stadt ist ziemlich links in der Tektonik«, sagt Lindh. Rot und auch Schwarz | |
| regierten in Wuppertal seit Ewigkeiten sozialdemokratisch vor sich hin. | |
| Aber nun trudeln beide. Die CDU sichtbarer intern zerstritten, was weniger | |
| auf inhaltliche Lager zurückgeht und mehr auf persönliche | |
| Abrechnungsbedürfnisse. Die CDU weiß, sie muss etwas tun. Sie weiß aber | |
| nicht, was und mit welchem eigenen Mann. Das könnte der Grund sein, dass | |
| man vor zwei Jahren das Schwarz-Rot im Stadtrat aufkündigte und durch | |
| Schwarz-Grün ersetzte, woraus mehr oder weniger folgte, den | |
| SPD-Oberbürgermeister mit grüner Hilfe ablösen zu wollen. | |
| ## Parteien spielen geringere Rolle als Vertrauenspersonen | |
| Die Grünen waren lange Zwerge, bis sie bei der EU-Wahl 2019 plötzlich | |
| stärkste Partei in der Stadt wurden, was mit der Baerbock/Habeck-Konjunktur | |
| zusammenhing und der rot-schwarzen Müdigkeit, aber auch den | |
| gesellschaftlichen Strukturwandel der Mittelschicht nachvollzieht. | |
| Parteien spielen bei OB-Wahlen eine geringere Rolle, wenn ein Amtsinhaber | |
| als Vertrauensperson eingeführt ist, was in Muckes Fall eindeutig so ist. | |
| Den kennt in Wuppertal wirklich jeder. Wenn aber neue Leute das Blickfeld | |
| betreten, sind Parteien wichtig, um sie zu verorten und sich selbst in der | |
| Beziehung zu ihnen. Das alte CDU-Milieu in Nordrhein-Westfalen pflegte sich | |
| viele Jahre in Abgrenzung von Rot-Grün zu definieren, zuletzt gewann | |
| FDP-Chef Christian Lindner mit dem strategischen Ausheben eines | |
| ideologischen Grabens für Armin Laschet die Landtagswahl 2017. Insofern ist | |
| es nicht verwunderlich, dass die Wuppertaler CDU Schneidewind zunächst | |
| einstimmig ablehnte, der eindeutig ein Grünes Parteibuch hat. Die Grüne | |
| Jugend wiederum lehnte ihn ab, weil er mit der CDU antreten wollte – sie | |
| aber auf keinen Fall. Identität und Selbstverortung wird ja deutlich | |
| stärker darüber gespürt, wer oder wie man NICHT ist. Nämlich so wie diese | |
| anderen. | |
| Die Kritiker in beiden Parteien hat Schneidewind befriedet oder seine | |
| Gegner in der CDU wurden intern geschlagen von einer Allianz aus der | |
| Altstars Peter Jung und Hermann-Josef Richter und junger Union-Frauen. Ganz | |
| profan betrachtet, wird man in diesem Wahlkampf auch die üblichen Dinge | |
| finden, Gewurschtel, Intrigen, persönliche Abrechnungen und entscheidend | |
| die Frage, ob die Mehrheit den OB, den sie kennt und der sie kennt, | |
| eigentlich ganz okay findet. | |
| ## Ein doppelter Aufbruch | |
| Schneidewind will gleichzeitig nüchtern bleiben und auf eine höhere Ebene | |
| kommen. Und muss es vielleicht auch, um gewinnen zu können. Die Frage | |
| lautet so gesehen, und zwar über Wuppertal hinaus: Kann man eine Mehrheit | |
| für ein Modernisierungsprojekt gewinnen, das neue und alte Mitte irgendwie | |
| zusammenbringt und neu dynamisiert? Das auch sozialökologisch ist, aber | |
| nicht kategorisch darauf fokussiert, weil das nicht mehrheitsfähig wäre. | |
| Das als ein Ziel Klimaneutralität bis 2035 hat, aber keine konkreten | |
| Schritte benennt, weil die sofort Blockaden auslösen könnten. Das Wort | |
| »Projekt« ist ja inzwischen tabuisiert, aber Schneidewind spricht offensiv | |
| von einem »schwarz-grünen oder grün-schwarzen Projekt«, dessen Gesicht er | |
| sei und für das er »aus Überzeugung« steht. Angepeilt ist ein doppelter | |
| Aufbruch, einerseits der ritualisierten Konfliktlinien des letzten | |
| Jahrhunderts, andererseits eine von Bürgern gewollte und unterstützte | |
| Vorwärtsbewegung. Vulgärpsychologisch heißt es allerdings, dass »der | |
| Wuppertaler« zwar durchaus an den Zuständen leide, sich aber mit dem | |
| Selbsthadern ganz gut eingerichtet habe. | |
| Wuppertal hat 350.000 Einwohner und liegt im Bergischen Land, eingeklemmt | |
| zwischen Köln und Düsseldorf im Südosten und der Ruhrgebiets-Metropolregion | |
| im Nordwesten. Sie gehört zu jenen Traditionsmarken, die eine große | |
| Vergangenheit haben, gegen die sich die Gegenwart bisweilen etwas klein | |
| ausmacht. Im 19. Jahrhundert war die früh industrialisierte Region mit den | |
| beiden (seit 1928 fusionierten) Großstädten Elberfeld und Barmen und ihrer | |
| Textilindustrie eines der großen Wirtschaftszentren Europas. Daraus folgte | |
| viel Reichtum und auch viel Armut, worauf ein Sohn Barmens die | |
| Wirtschaftstheorie Marxismus entwickelte: Friedrich Engels. In den letzten | |
| 50 Jahren schüttelte Globalisierung und Strukturwandel auch Wuppertal | |
| durch; die Stadt hat viel eingespart, die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa | |
| zehn Prozent, Armutsquote und private Schulden sind hoch, die Kitaquote ist | |
| niedrig. Im Städteranking 2019 des Wirtschaftsinstitutes IW Consult liegt | |
| Wuppertal im letzten Drittel der 71 deutschen Großstädte (Platz 52). | |
| Allerdings mit Zukunftspotenzial, speziell durch Wissensbranchen. Die | |
| Ingenieure von Aptiv entwickeln autonomes Fahren, Vorwerk hat den Thermomix | |
| in Wuppertal erfunden, Bayer hat noch über 3.000 Arbeitsplätze am | |
| Gründungsstandort. | |
| ## Warum macht Schneidewind das? | |
| Es gibt urbanes Studierenden- und Start-up-Flair im Elberfelder | |
| Luisenviertel, aber viele Leute in Barmen oder Oberbarmen haben persönlich | |
| drängendere Alltagssorgen als die sozialökologische Transformation. Kümmern | |
| ist also wichtig, aber kümmern reicht nicht. Das ist das Problem der | |
| Kümmerparteien. | |
| Und damit nochmal zu den zwei großen Fragen: Warum macht Schneidewind das? | |
| Und: Kann er gewinnen? | |
| Schneidewind hat große Organismen geführt, als Präsident die Uni Oldenburg | |
| mit damals mehr als 2.000 Beschäftigten, das Wuppertal Institut mit etwa | |
| 250 Leuten als Geschäftsführer. Das WI ist explizit mit der Entwicklung | |
| gesellschaftlicher Veränderungsprozesse beschäftigt, es gehört zu den | |
| führenden Thinktanks der Republik und entsprechend ist die Reputation | |
| seines Chefs. Manche dachten, Schneidewind würde von dort aus in die | |
| nächste Bundesregierung wechseln. | |
| ## Wuppertal aus tiefem Herzen | |
| Ende April hat er das Institut verlassen. »Dieser Teil meiner Grabrede | |
| steht«, sagt er im Berliner Café. Insofern erzählt Schneidewind keinen | |
| Schmu, wenn er von der »innerlichen Freiheit« spricht, die er im Gegensatz | |
| zu anderen habe. Zur Wahrheit gehört auch, dass er eine Professur hat, | |
| erwachsene Kinder und eine Frau, die ihn durchfüttern könnte. Aber | |
| trotzdem: Er ist 54, er will jetzt zehn Oberbürgermeister-Jahre mit Machen | |
| verbringen oder jedenfalls mit dem Versuch. Er verstehe es auch nicht ganz, | |
| sagt ein Wegbegleiter, aber irgendwie habe der sich »in Wuppertal | |
| verguckt«. Klar, Wahlkampfton ist bei Schneidewind auch dabei, wenn er | |
| sagt, er komme zwar aus Köln und sei in der Welt gewesen, aber jetzt liebe | |
| er Wuppertal »aus tiefem Herzen«. Aber so, wie er dabei schaut, stimmt es | |
| vermutlich wirklich. | |
| Ein geborener Wuppertaler ist er aber halt nicht, anders als der amtierende | |
| OB, auch wenn er seit Langem hier lebt. Dafür bringt er diesen Glanz | |
| herein, wenn er in den ARD-Tagesthemen die Weltlage analysiert oder | |
| regelmäßig in den Listen der wichtigsten Intellektuellen und Ökonomen | |
| auftaucht. | |
| Von außen sieht es so aus, als seien er und sein Wahlkampfteam gar nicht | |
| wissenschaftlich-naiv unterwegs, sondern eher smart dabei, die richtigen | |
| Leute für sich zu gewinnen, die richtigen Orte zu bespielen und den | |
| richtigen Sound zu finden, der ambitioniert daherkommt, ohne abgehoben zu | |
| wirken. Er erzählt neuerdings gern, dass er eigentlich Wirtschaftsmanager | |
| werden wollte, war auch mal bei Roland Berger angestellt, die Bekämpfung | |
| der Klimakrise ist für ihn kein rigides CO2-Einsparprojekt, sondern ein | |
| dynamisches Wirtschaftsprojekt. | |
| ## Das Risiko großer Visionen | |
| Es wird ja gern beklagt, dass es nur noch Berufspolitiker gebe, die in der | |
| Grünen Jugend, bei den Jusos oder Judos eingestiegen seien und sich also | |
| beruflich hauptsächlich mit parteiinternen Realitäten und den notwendigen | |
| Netzwerken und Positionen für das Ergattern von Listenplätzen beschäftigt | |
| hätten. Dass die Besten sich zu fein seien für politische Ämter. Dass | |
| Quereinsteiger fehlten. Aber es gibt auch einige Beispiele, bei denen | |
| Quereinsteiger böse abgestürzt sind. Unvergessen der Steuerrechtler Paul | |
| Kirchhof, der für die Union 2005 Finanzminister werden sollte, die | |
| Betriebsregeln nicht kannte und von Bundeskanzler Schröder im Wahlkampf | |
| dermaßen populistisch auseinandergenommen wurde, dass er um ein Haar die | |
| Ära Merkel verhindert hätte. | |
| Je größer die Visionen, desto leichter kriegt einen der Gegner dran, das | |
| ist so ein Widerspruch, mit dem man umgehen können muss. Schneidewind | |
| kriegte im Frühsommer einen Vorgeschmack, als man ihm anhängen wollte, dass | |
| er für ein Magazin der Ludwig-Erhard-Stiftung publiziert hatte. Inhaltlich | |
| interessierte weder sein Beitrag noch die Stiftung, aber der | |
| Beilagen-Herausgeber war der als AfD-nah eingeschätzte Publizist Roland | |
| Tichy. Das sollte reichen, damit Dreck an Schneidewind hängen bliebe. Tat | |
| es aber nicht. | |
| Was Schwarz-Grün als bundesrepublikanische Regierungsoption angeht, so | |
| sprechen Sozialdemokraten oder Linke gern von einem »Schwarz-Grün-Hype«. | |
| Aber den gibt es nicht. Es gibt der-zeit eine mathematische Evidenz, aber | |
| es gibt keine schwarz-grüne Geschichte dazu. »Schwarz-Grün muss sprechfähig | |
| sein«, sagt die CDU-Politikerin Diana Kinnert, gebürtige Wuppertalerin, die | |
| deshalb mit Schneidewind zusammen in der Welt eine Art Mani-fest publiziert | |
| hat, in der beide das potenzielle Gemeinsame ausloten. | |
| ## Erzähler einer guten Geschichte | |
| Der verborgene Kern von Schneidewinds Projekt, das zunächst mal ein | |
| Wahlkampfprojekt ist, dürfte der Versuch sein, schwarz-grüne oder wohl eher | |
| grün-schwarze Allianzen in beiden Kulturen erzählen zu können. Das gibt es | |
| bisher nicht oder kaum. Beide Milieus haben kulturell oder sogar identitär | |
| damit und davon gelebt, die anderen als Feinde zu betrachten und dafür | |
| entsprechende Bilder und Begriffe konserviert. Nun geht es darum, das | |
| Gemeinsame zu finden und so benennen zu können, dass beide damit leben | |
| können. Es geht also um Schlüsselprojekte und Schlüsselbegriffe, die sowohl | |
| bei den Jungideologen der Grünen Jugend als auch bei den Altideologen der | |
| Senioren-Union das Gefühl transportieren: Das sind wir. | |
| Schneidewind sagt, er wolle der Erzähler einer »guten Geschichte« sein, | |
| einer kommunalen Aufbruchsgeschichte, die die alten Villenviertel von | |
| Elberfeld und die sozialen Brennpunkte in Barmen und Oberbarmen umfasst und | |
| zudem die Bilder schafft, um national und international sozialökologische | |
| Urbanität »selbstbewusst zu erzählen«. Allerdings: »Diese Stadt kann man | |
| nicht top-down neu erfinden«, sagt er. Dazu müsste sie reich sein. | |
| »Schneidewind verbindet«, lautet der Wahlkampfslogan, der erst einmal banal | |
| klingt, aber viel mehr sein will als ein Slogan, nämlich eine Führungs- und | |
| Zukunftsstrategie. Wenn Uwe Schneidewind dieses Gefühl tatsächlich erzeugt, | |
| kann er gewinnen. Dann wird es interessant. | |
| 3 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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