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# taz.de -- Not gebiert keinen Protest
> Die Demonstrationen in Russland sind kein Zeichen des Aufbegehrens. Die
> Bürger folgen vielmehr Putins Kriegsmetaphorik
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
„Feuer Bataillon! Hinter uns stehen Moskau und der Arbat! Krieg ist nun mal
Krieg“, heizt die nationalistische Rockband Ljube den hunderttausend
Menschen in Moskau auf der Demo „Russland gegen Terror“ ein. „Versteck de…
Herz nicht hinter dem Rücken des Kameraden“. So viele Menschen sind seit
Jahren nicht mehr in Moskau auf der Straße gewesen.
Der Kreml feiert die Versammlung als Geburtsstunde der russischen
Zivilgesellschaft . Auf den ersten Blick mag es auch so aussehen. Doch
diese Zivilgesellschaft versteckt sich hinter dem Rücken des Kremlchefs.
Den Anstoß zur Demonstration gab Moskaus Stadtregierung und eine Reihe
unabhängiger Gewerkschaften, die zur politischen Führung des Landes
gleichwohl engere Beziehungen unterhalten als zum eigenen Fußvolk. Das
Engagement der Bürger ist ein Hilfeschrei, kein Zeichen des Aufbegehrens.
Russland ist schockiert, die Mehrheit der Bürger ist aber nicht
wachgerüttelt worden, sondern verängstigt. Vom Staat erwartet sie
paternalistische Hilfeleistungen, dass er sie zumindest vor Gefahren
schützt. Daher glich die Veranstaltung eher einem Bittgottesdienst, indem
der Bürger sich in Demut übt und den Kreml um Hilfe anfleht.
Auch in Sankt Petersburg hatten tausende am Vortag demonstriert. Zorn auf
die Verantwortlichen oder Forderungen an sie wurden auch dort nicht laut.
Stattdessen wurde der „Sieg durch Einigkeit“ beschworen, den Präsident
Putin in seiner Rede nach der Geiseltragödie in Beslan beschworen hatte.
Auch Putins Wendung eines „Krieges gegen Russland“ wurde aufgegriffen. Auf
Transparenten war zu lesen: „Wir haben 45 gesiegt, wir siegen auch 2004“.
Als Redner in Petersburg die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangten,
klatschten mehr als zuvor. Die Veranstaltung glich einer Massenhypnose, die
das „Wirgefühl“, das Putin in der Rede an die Nation eingeklagt hatte,
stärken sollte. Wir – damit sind die ethnischen Russen gemeint, nicht all
die anderen Bürger der Russischen Föderation.
Eine Analyse der Hintergründe des Terrors, nachdenkliche Worte,
Selbstkritik oder vielleicht auch ein Versöhnungsangebot waren nicht zu
hören. Russland gebiert aus der plötzlichen Not eine neue populistische
Idee, die sich auf nichts anderes beruft als die ethnische Zugehörigkeit
und die Bedrohung von außen. Aus dieser Bedrohung oder auch nur dem Gefühl
einer solchen ist das Volk indes zu unglaublichen Opfergängen und Taten in
der Lage. Zum letzten Mal hat Russland das im Zweiten Weltkrieg bewiesen.
Leonid Leontjew, der ideologische Kampfhund des Kreml im gleichgeschalteten
Fernsehen, warnte denn auch: „Gnade dem Gott, der uns im Weg steht.“ In
diesem Geiste senden die staatlichen Fernsehkanäle in den letzten Tagen
rund um die Uhr heroische Kriegsfilme aus der Zeit des Kampfes gegen die
deutsche Wehrmacht.
Leontjews Drohung gilt nicht nur den Völkern im Kaukasus, sondern nicht
weniger den eigenen Nestbeschmutzern. Das sind vor allem die Journalisten
der noch freieren Printmedien, die der Wahrheit der Geiselnahme nachspüren.
„Nutzen wir die wenige Zeit, die uns noch bleibt, auszusprechen, was uns
bedrängt“, meinte ein Moderator im Radiosender Echo Moskwy am Montagabend.
Die marginalisierte kritische Öffentlichkeit erwartet in den nächsten Tagen
einschneidende Eingriffe gegen Pressefreiheit und Bürgerrechte. Moskau
fürchtet die Aufdeckung der Hintergründe der Tragödie. Daher lehnte
Präsident Putin die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission
am Montag ab: Sie würde in eine Show ausarten, meinte der Kremlchef. Einen
Tag später signalisieren die Parlamentarier der Duma, sie seien bereit,
eine parlamentarische Untersuchungskommission einzurichten. Putins
Imagemaker für den Westexport waren alarmiert und griffen ein. Ein
Ausschuss muss sein, wenn sich der Kreml weiterhin zur Rechtsstaatlichkeit
bekennt. Dass in dieser Kommission Abgeordnete den Vorsitz haben werden,
die der Kremlpartei angehören und aus den Geheimdiensten stammen – wie der
Initiator der Initiative, Gennadi Gudkow, und Wladimir Wassiljew, – darauf
wird im Westen niemand achten. Hauptsache, die Form wird eingehalten.
Die Informationspolitik treibt irrwitzige Blüten. Hatte die
Staatsanwaltschaft vorgestern noch kleinlaut eingeräumt, es gebe Hinweise,
dass Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden mit den Terroristen unter einer
Decke stecken, so dementierte sie gestern: Die Geiselnehmer hätten einen
alten Weg benutzt, um nach Beslan zu gelangen, der nicht von Polizeiposten
überwacht werde.
Auch die angebliche Zusammensetzung der „internationalen“ Terrorbrigade,
der vornehmlich arabische Söldner angehören sollten, ändert sich ständig:
Nun sollen Kasachen, Usbeken, Koreaner und Tataren beteiligt gewesen sein.
Dass der Kopf der Gruppe aus Nordossetien stammt und slawischer Abstammung
ist, unterschlagen die Ermittler gerne. Die Zeitung Moskowski Komsomolez
(MK) fand heraus, dass sich hinter dem Decknamen „Abdul“ Wladimir Chodow
verbirgt. Er ist den Strafverfolgungsbehörden einschlägig bekannt, sein
Konterfei hängt in jeder Polizeistation. Im Februar verübte er einen
Anschlag in Wladikawkas, im Mai entgleiste nach einer Explosion in der Nähe
des Wohnortes seiner Mutter Elchotow der Moskau-Wladikawkas-Express. Den
Sommer verbrachte Chodow gleichwohl ungestört im Haus der Mutter und
erzählte den Nachbarn von seinem größten Traum: zum Hadsch nach Mekka. Auch
in der Polizeistation in Elchotow hängt das Fahndungsfoto, berichtet MK.
Seltsame Dinge passieren auch mit dem festgenommenen Terroristen Nur-Pascha
Kulajew. Der 24-Jährige ist der einzige lebende Zeuge und Star jeder
Nachrichtensendung. Und er erzählt immer wieder etwas Neues. Mal weiß er
nicht, welcher Nationalität die Attentäter waren, in der nächsten Sendung
auf einem anderen Kanal waren Usbeken und Araber darunter. Unter den Toten
identifizierte er auch seinen Bruder Chan-Paschu Kulajew. Die Gaseta fand
indes heraus, dass sich Chan Pascha schon seit drei Jahren in den Händen
des russischen Geheimdienstes befindet.
8 Sep 2004
## AUTOREN
KLAUS-HELGE DONATH
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