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# taz.de -- Mythos Atatürk in der Türkei: Kemal Süperstar
> Die Türkische Republik wird 85 Jahre, gefeiert wird vor allem einer:
> Mustafa Kemal Atatürk. Er war ein Freidenker, aber auch rücksichtslos.
> Warum wird er heute noch so verehrt?
Bild: Mustafa Kemal Atatürk liebte die Frauen und den Anissschnaps.
Für die einen ist er der große Vater des Landes, für die anderen hat er es
ins Verderben geführt. Die Türken lieben oder hassen ihn. Er wird verehrt
wie ein Heiliger und verdammt wie der Erfinder alles Bösen. Doch selbst die
neuen radikalen Islamisten respektieren ihn als Feind, statt ihn wie George
W. Bush oder Silvio Berlusconi zu verachten. Es wäre auch wenig ratsam,
Mustafa Kemal Atatürk öffentlich anzuprangern. Bis heute steht jede
herabwürdigende Äußerung über seine Person unter Strafe.
Obwohl sich die islamischen Hardliner seit den Siebzigerjahren in der
Türkei vermehren wie Grippeviren - in keinem Land wurde und wird ein
Staatsmann der Geschichte so auf den Schild gehoben. Und nicht nur hier.
Frank D. Roosevelt, US-Präsident, sagte nach Atatürks Tod im November 1938:
"Leider habe ich nun nicht mehr die Möglichkeit, diesen Mann kennen zu
lernen, was ich seit langen immer tun wollte." Und Winston Churchill,
britischer Premierminister, der Atatürk 1915 noch zum barbarischen
Räuberhauptmann gestempelt hatte, bekundete mitleidsvoll: "Die Tränen, die
das gesamte Volk um ihn vergießt, sind nichts als Beifall für diesen großen
Helden und Vater der Türkei." Atatürk war, daran besteht kein Zweifel,
einer der größten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts.
Als General hat er übermächtige Gegner besiegt - so etwa 1915 den
Kriegsminister Churchill beim Angriff auf die Dardanellen. Als Regent
krempelte er ein ganzes Land um, wie das keine französische oder russische
Revolution vermochte: Er sorgte für die Abschaffung des Kalifats und die
strikte Trennung von Religion und Staat. Die islamische Zeitrechnung wurde
durch den Gregorianischen Kalender abgelöst, obwohl dieser christlichen
Ursprungs ist. Fortan galt der arbeitsfreie Sonntag, anstelle des heiligen
muslimischen Freitags. Das metrische System wurde übernommen und die
osmanische Hochsprache in lateinischer Schrift eingeführt. Die Türkei bekam
eine neue Rechtsordnung, beruhend auf deutschen, italienischen und
schweizerischen Rechtsformen. Das Namensrecht wurde gesetzlich verankert
(bis 1934 hatten türkische Bürger keinen Nachnamen). Religionsschulen
wurden geschlossen und die allgemeine Schulpflicht eingeführt.
Und schließlich setzte er sein größtes Anliegen durch: die Gleichstellung
von Mann und Frau. Ab 1926 durften Frauen höhere Schulen und Universitäten
besuchen. Sie bekamen das Recht zu wählen. Erst auf kommunaler Ebene. Dann
auch national, also das Parlament. Und sie mussten beziehungsweise durften
keine Schleier mehr tragen. Die große Koalition in Berlin würde für ähnlich
umwälzende Reformen drei Jahrhunderte brauchen. Nicht alle Veränderungen
wurden widerspruchslos hingenommen. Als Atatürk den Männern das Tragen des
Fes verbot und Hüte vorschrieb, kam es in Ostanatolien zu einer
"Hutrevolution" und 138 Todesurteile gegen rebellische Fes-Anhänger. Bei
der Durchsetzung seiner Ideen war Atatürk alles andere als zimperlich. Der
Reformer blieb zeitlebens General. 1922 ließ er nach seinem Sieg über die
Griechen in Izmir ein grausames Blutbad geschehen. Und 14 Jahre später ging
er brutal gegen die von ihm selbst geförderte Oppositionspartei vor.
Um ihn zu verstehen, müssen wir uns seinen Werdegang ansehen. Er wurde 1881
in Saloniki geboren (heute Thessaloniki) und lebte dort bis 1895. Die
Hafenstadt gehörte zwar zur Türkei, war aber westlich geprägt: Ein buntes
Gemisch aus Griechen, Franzosen, Engländern und anderen Europäern, aus
Türken, Juden, Arabern und zwanzig weiteren Volksgruppen. Der junge
Mustafa, so sein Vorname, war fasziniert von der Lebens- und Denkweise der
Europäer. Gegen den Wunsch seiner Mutter ging er nicht auf eine
Koranschule, sondern auf die weltliche des Schemsi Efendi, wo er den
Beinamen Kemal (der Vollkommene) erhielt. 1893 wechselte er auf die
Militärschule. Auch gegen den Wunsch der Mutter. Fast noch wichtiger für
seine Hinwendung zum Westen war der Besuch der Militärakademie (1902-1905).
Hier musste er Französisch lernen, die damalige Weltsprache. So fand er
Zugang zu den literarischen Vätern der Französischen Revolution, ihren
Ideen und Visionen. Gleichzeitig kam er in Kontakt mit den "Jungen
Osmanen", die den "kranken Mann am Bosporus" vom Despotismus befreien
wollten, aber bald dem Größenwahn verfielen.
Schon zu dieser Zeit hatte Mustafa Kemal ein klares Bild von einer neuen,
lebensfähigen Türkei: "Das Sultanat muss zerstört werden. Wir müssen uns
der östlichen Zivilisation entziehen und der westlichen zuwenden. Religion
und Staat müssen voneinander getrennt werden." Mit diesen Ideen machte er
sich immer wieder Feinde. Vor allem nachdem er 1912 in den Generalstab
aufgestiegen war. Sein größter Widersacher, der General und zeitweilige
Kriegsminister Enver Pascha, träumte von der Wiedergeburt des Osmanischen
Reiches und glaubte, als Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg
diesen Traum verwirklichen zu können. Mustafa aber misstraute den Deutschen
genauso wie später den Russen, die sich als Verbündete anboten.
Gleichzeitig hatte er eine fast prophetische Gabe bei der Einschätzung der
politischen Lage Europas. Hitler hielt er für verrückt, Stalin für
hochgefährlich. Über Mussolini sagte er: "Eines Tages wird er vom eigenen
Volk aufgehängt werden." Er sah den Zweiten Weltkrieg voraus, den Untergang
des Naziregimes und den Aufstieg des kommunistischen Russland.
Tatsächlich gab es zwei Mustafa Kemals: den analytischen und eiskalten, der
rücksichtslos gegen alle vorging, die sich ihm in den Weg stellten. Und den
emotionalen, den Visionär, der seine Türkei liebte und sogar ihre größten
Feinde, die Griechen, als Kulturvolk schätzte. Der "weiche" Kemal suchte
gern und oft die Nähe von Frauen, was ihm bigotte Kritiker bis heute als
Promiskuität vorwerfen. Tatsächlich waren Frauen für ihn gleichbedeutend
mit einer anderen, humanen Welt. Ohne Lügen und Intrigen, ohne
Geschützdonner und Größenwahn. Bei den Frauen fühlte er sich frei. Dieses
Gefühl der Freiheit war auch der Grund, warum er - abgesehen von der
zweieinhalbjährigen Ehe mit Lative - jede Bindung vermied. Die Wärme, die
Geborgenheit und das Glück, das er bei den Frauen fand, dankte er ihnen mit
den größten Geschenk, das er ihnen machen konnte: die Befreiung vom Kalifat
und damit vom Joch eines falsch verstandenen Islam.
Eine weitere Tatsache - die gerne unter den Teppich gekehrt wird - ist,
dass der türkische Anisschnaps den Vater der Türken mit 57 Jahren ins Grab
brachte. Doch bis Ende 1936, als er die Kontrolle über seinen Alkoholkonsum
verlor, war ihm der Raki Antrieb und Inspiration gewesen. Er konnte mit dem
Gesöff umgehen, wusste um seine positive und gefährliche Wirkung. Dass sich
die für ihn heilsame Droge in eine tödliche verwandeln würde, war
abzusehen. Atatürk hatte sein Lebenswerk vollendet. Doch es wollte nicht
greifen. Armenier und Kurden lehnten die neue gottlose Türkei genauso ab
wie die alte und erhoben sich mit Terrorakten gegen das Militär. Atatürk
befahl gnadenloses Vorgehen gegen die Kurden und Armenier. Dutzende von
Aufrührern ließ er aufknüpfen. Zugleich wurde ihm bewusst, dass er das Land
noch zehn bis fünfzehn Jahre diktatorisch würde regieren müssen, um seine
Reformpolitik durchzubringen und den Weg in eine Demokratie zu ebnen. Er
war aber kein Hitler oder Stalin und es widerstrebte ihm, sein Land zu
knebeln und knechten. Die Folge waren tiefe Resignation und willenlose
Hinwendung zum Alkohol.
Heute wäre Atatürk aufgrund seiner Persönlichkeit, seiner Ausstrahlung und
seines scharfen Verstands ein absoluter Medienstar, vor allem im westlichen
Europa. Angela Merkel und Nicolas Sarcozy könnten seiner Klugheit nur mit
europäischen Luftblasen begegnen. Und der amtierende Ministerpräsident der
Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wäre gegen ihn blass wie die Terrassen von
Pamukkale. In Erdogans islamischer Mauerwelt kann ein westlich orientierter
Freidenker wie Atatürk nur Hassobjekt sein. Nicht umsonst nennt der
AKP-Mann (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) die Assimilation
türkischer Einwanderer in Deutschland ein "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit". Nur wären er und seine AKP 2007 nie gewählt worden. Es
gäbe keine (fast) freien Wahlen in der Türkei. Sondern immer noch
Verhältnisse wie Ende des 19. Jahrhunderts. Oder wie im heutigen Iran.
Atatürk hätte Erdogan ohnehin nach Nordkorea ausgewiesen.
28 Oct 2008
## AUTOREN
Reinhard Siemes
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