# taz.de -- Montagsinterview mit Locked-In-Patient: "Das Kleinhirn legt sich sc… | |
> Karl-Heinz Pantke hatte einen Schlaganfall, der seinen ganzen Körper | |
> lähmte. Wissenschaftler bezeichnen diesen Zustand als "locked-in". Heute | |
> kann Pantke wieder sprechen und gehen. | |
Bild: "In den ersten Tagen ging nichts mehr. Sonst hätte ja auch niemand gegla… | |
taz: Wie viel Zeit haben Sie, Herr Pantke? | |
Karl-Heinz Pantke: Beliebig. Nachher kommt noch eine andere Person; damit | |
Sie nicht denken, so wie ich hier sitze, das sei der Normalfall des | |
Krankheitsverlaufs. | |
Karl-Heinz Pantke sitzt zusammengesunken und etwas schief im Stuhl. Neben | |
ihm steht seine Gehhilfe. Die rechte Hand ist seine „gute Hand“, mit der er | |
die Kaffeetasse hält. Die andere Hand liegt im Schoß. Er spricht langsam | |
und sehr leise. | |
Sie sind ein Positivbeispiel? | |
Ja. So komisch das klingt. Der Normalfall ist, dass Leute mit dem | |
Locked-in-Syndrom passiv in ihrem Rollstuhl rumgeschoben werden. Zwei | |
Drittel bleiben nach dem Schlaganfall stumm wie ein Fisch. Ist natürlich | |
klar, dass die aus fast allen sozialen Zusammenhängen rausfallen. | |
Lassen Sie uns mit Ihrer Geschichte anfangen. | |
Gut, das ist auch am leichtesten für mich. Ich hatte 1995 einen | |
Schlaganfall durch eine Embolie im Kleinhirn. Die Ereignisse trafen mich | |
wie ein Blitz, ohne Vorwarnung. Von einem Tag auf den anderen lag ich | |
völlig platt. Etwa ein Vierteljahr konnte ich nichts bewegen. | |
Das war die eigentliche Locked-in-Phase? | |
Genau. | |
Können Sie sich an den Moment erinnern, in dem Ihnen das bewusst wurde? | |
Schwer zu sagen. Das Ganze kommt einem so unwirklich vor, dass ich das | |
lange Zeit gar nicht als meine Realität angenommen habe. Ich dachte eher, | |
ich bin in einer Art Traum, vielleicht einem schlechten Traum. | |
Sie dachten drei Monate lang, Sie träumen? | |
So absurd ist das gar nicht. Wenn Sie träumen, arbeitet das Großhirn | |
weiter. Aber das Kleinhirn, in dem der Schlaganfall das Locked-in-Syndrom | |
verursacht, das legt sich schlafen. Vielleicht kennen Sie den Traum, in dem | |
man weglaufen möchte, aber nicht kann. Und dann denkt man sich, im Traum, | |
jetzt musst du aber aufwachen. Nur das Aufwachen gelingt nicht, weil man | |
bereits wach ist. | |
Hatten Sie denn vorher jemals vom Locked-in-Syndrom gehört? | |
Nein. Das lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Übrigens kann man den | |
Zustand auch künstlich herbeiführen. Vielleicht kennen Sie das Pfeilgift | |
Curare der südamerikanischen Indianer. Das bewirkt ebenfalls eine | |
vollständige Lähmung bei vollem Bewusstsein. Ich möchte nicht dazu raten, | |
aber das ist eine Möglichkeit, auszuprobieren, wie es ist, locked-in zu | |
sein. | |
Da würde ich mich aber nur in die Hände eines sehr erfahrenen Indianers | |
begeben. Welche Eindrücke sind Ihnen aus diesen bewegungslosen ersten | |
Monaten besonders in Erinnerung? | |
Im Krankenwagen habe ich gehört, wie mich die Rettungssanitäter für tot | |
erklärten. Das ist eine dermaßen absurde Situation. | |
Und im Krankenhaus? | |
Ich lag über Wochen in einem quasi geschlossenen Raum, ohne irgendwie den | |
Himmel sehen zu können. Obwohl ich das volle Programm einer Intensivstation | |
erlebt habe, hat mich dieser Punkt am tiefsten berührt. | |
Was haben Sie die ganze Zeit gemacht? | |
Das war schlimm. Ich konnte nicht einmal lesen. Wie soll man lesen, wenn | |
man nicht einmal die Seite umblättern kann? Am Anfang hatte ich auch diese | |
schrecklichen Doppelbilder, weil ein Teil des Sehnervs gelähmt war. | |
Übrigens auch noch ein Grund, warum einem die Situation am Anfang so | |
unwirklich vorkommt. | |
Sie müssen sich doch gelangweilt haben. | |
In dieser Situation gibt es nur eine Möglichkeit: sich auf die Gedankenwelt | |
konzentrieren. Mein Gedächtnis hat sich in dieser Zeit fundamental | |
verbessert. Manchmal schreibe ich heute noch im Kopf einen Brief, wenn ich | |
irgendwo warten muss. Und wenn ich wieder an einen Computer komme, tippe | |
ich ihn aus der Erinnerung. | |
Können Sie sich erinnern, wie Ihre Freunde auf Ihren Zustand reagiert | |
haben? | |
Es gibt Menschen, die es nicht ertragen und sich abwenden. Aber die meisten | |
haben sich eigentlich normal verhalten. Das heißt, sie haben mich wie einen | |
normalen Menschen behandelt. In meinem Innersten war ich das ja. | |
Also war von Anfang an klar, dass Sie das Locked-in-Syndrom haben? | |
Den Verdacht gab es glücklicherweise sofort. Aber Wissenschaftler schätzen, | |
dass ein Drittel der sogenannten Wachkomapatienten eigentlich das | |
Locked-in-Syndrom haben. Durch reines Anschauen ist auch kein Unterschied | |
zu sehen. Beide bewegen sich nicht, nur dass der eine gern möchte. Man kann | |
das als die moderne Variante des Lebendig-begraben-Seins bezeichnen. | |
Ungefähr das Grausamste, was man sich vorstellen kann. | |
Vor einigen Jahren ging durch die Presse dieser Fall von einem Belgier, bei | |
dem man erst nach 23 Jahren gemerkt hat, dass er bei vollem Bewusstsein | |
ist. | |
Ist das Locked-in-Syndrom tatsächlich so schwer festzustellen? | |
Erst seit einigen Jahren werden Methoden entwickelt, mit denen man | |
feststellen kann, ob ein bewegungsloser Mensch bei klarem Bewusstsein ist. | |
Es gibt zum Beispiel das Projekt Decoder: Man spielt dem Patienten | |
irgendeinen unsinnigen Satz vor. Der könnte etwa heißen: Ich esse | |
Kartoffelsalat mit Socken. Da gibt es sofort eine Reaktion im Gehirn, die | |
man über das EEG erfassen kann. | |
Dann weiß man, dass derjenige bei Bewusstsein ist – aber eine Verständigung | |
ist nicht möglich? | |
Doch. Es lässt sich eine Art Morsecode entwickeln, indem der | |
Locked-in-Patient an bestimmte Dinge wie eine Bewegung oder die Lösung | |
einer Rechenaufgabe denkt, was zu Aktivität in ganz unterschiedlichen | |
Bereichen des Gehirns führt. Das klingt wie aus einem Science-Fiction-Film, | |
ist aber Realität. | |
Vor allem klingt es sehr aufwendig. | |
Pantke zeigt auf ein vollgeschriebenes DIN-A5-Blatt, das auf dem Tisch | |
liegt. | |
Für das, was da steht, bräuchte man zwei Tage. | |
Wie konnten Sie sich verständlich machen? | |
Mit den Augen. Bei einem Großteil der Locked-in-Patienten sind die | |
Augenlider nicht gelähmt. Aber bei mir hat auch das nicht von Anfang an | |
geklappt. In den ersten Tagen ging nichts mehr. Sonst hätte ja auch niemand | |
geglaubt, ich wäre tot. Aber nach ein paar Tagen konnte ich mit dem | |
Lidschlag kommunizieren. Über eine sogenannte Buchstabentafel – wissen Sie, | |
wie die funktioniert? | |
Nein. | |
Pantke lässt sich eine Tafel geben. Die Buchstaben darauf sind nicht in | |
alphabetischer, sondern in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit angeordnet. | |
Sie zeigen mit dem Finger auf die Buchstaben, und wenn der richtige kommt, | |
schließe ich die Augen. | |
Was war Ihr erster Satz mit der Buchstabentafel? | |
„Was ist passiert?“ Das muss noch in der ersten Woche gewesen sein, und die | |
Antwort darauf habe ich gleich wieder vergessen, weil ich sie eigentlich | |
nicht hören wollte. | |
Wie viel in Ihrem Gehirn wurde durch den Schlaganfall unwiederbringlich | |
zerstört? | |
So viel ungefähr. | |
Pantke nimmt eine Portion Kaffeesahne in die rechte Hand. | |
So wenig? | |
Das macht das Locked-in-Syndrom gerade so interessant. Es arbeitet fast | |
alles normal im Gehirn. Aber die Schädigung ist genau dort, wo die | |
Nervenbahnen ins Gehirn übergehen. Man könnte das Syndrom auch als | |
Querschnittslähmung auf höchstem Niveau bezeichnen. | |
Was konnten Sie als Erstes wieder bewegen? | |
Einen Finger. Das heißt, ich konnte tippen. Nach und nach kamen das Stehen, | |
das Sprechen, das Gehen. Das war mir sehr wichtig. Meine Wohnung ist immer | |
noch die alte und liegt im vierten Stock. | |
Wie lange haben Sie für das alles gebraucht? | |
Die stationäre Rehabilitation hat bei mir zwei Jahre gedauert. Heute hat | |
man dafür in der Regel nur ein halbes Jahr. Das ist aber nur ein sehr | |
kurzfristiger Spareffekt, denn dadurch erzeugt man jede Menge | |
Schwerstgeschädigte, die nur völlig abhängig in einem Heim leben können. | |
Seit dem Schlaganfall sind 17 Jahre vergangen. Ist Ihre Rehabilitation | |
inzwischen abgeschlossen? | |
Nein. Bei solchen Hirnschädigungen kann man etwas machen, solange der | |
Mensch lebt. Diese Vorstellung, was nach zwei Jahren nicht gekommen ist, | |
kommt auch nicht mehr, ist einfach falsch. Aber das erfordert natürlich | |
Training. | |
Sind Sie unglücklich, Herr Pantke? | |
Machen Sie sich mal von der Vorstellung frei, dass das Gefühl von Glück | |
irgendetwas mit dem eigenen Gesundheitszustand zu tun hat. Unser Verein hat | |
Locked-in-Patienten befragt und deren Aussagen mit denen gesunder Menschen | |
verglichen. Es gibt keinen Unterschied – beide Gruppen sind gleich | |
glücklich oder unglücklich. Es zählen völlig andere Faktoren: Zuspruch, | |
Geborgenheit, ob jemand eine Beschäftigung hat. Die Einzigen, die am Anfang | |
wirklich unglücklich sind, sind die Freunde und Verwandten. | |
Sie haben nie gehadert? | |
Anfangs schon. Die erste Zeit ist von Depressionen geprägt. Diese Phase hat | |
vielleicht ein Jahr gedauert. Man erinnert sich daran, was man vorher alles | |
konnte. Davon muss man sich erst einmal lösen. | |
Warum ist es für gesunde Menschen unvorstellbar, dass jemand diese | |
Situation nicht als unerträglich empfindet? | |
Kaum einer macht sich klar, wie wir Menschen funktionieren. Unsere | |
Hoffnungen und Wünsche verändern sich mit unseren Möglichkeiten. Ein | |
Hartz-IV-Empfänger träumt von einigen hundert Euro, der | |
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank von einigen Millionen. Wenn jemand | |
gesund ist, sagt er, ach wie schrecklich, so krank möchte ich nicht sein. | |
Aber wenn es ihn selbst erwischt hat, ändert sich seine Sichtweise. Er lebt | |
dann in einer anderen Welt, für die es keine Vorausverfügung gibt. Aus | |
diesem Grund lehne ich auch ganz strikt die Patientenverfügung ab. | |
Belastet es Sie, von anderen Menschen abhängig zu sein? | |
Komischerweise hatte ich diese Angst vor dem Schlaganfall sehr wohl. Aber | |
wenn man dann zu 100 Prozent abhängig ist, darf man solche Überlegungen | |
nicht an sich ranlassen, sonst müsste man doch aus dem Fenster springen. | |
Das kann man als Locked-in-Patient aber sowieso nicht. | |
Sie waren 39 und Doktor der Physik, als der Schlaganfall Sie traf. Was ist, | |
wenn der Patient wesentlich jünger ist? | |
Kürzlich hatten wir Kontakt zu einem Kind mit Locked-in-Syndrom, das hat | |
nicht einmal Hauptschulbildung erhalten. Einmal die Woche gab es für das | |
Kind eine persönliche Schulassistenz. Stellen Sie sich mal vor, was aus | |
Ihnen geworden wäre, wenn Sie einmal in der Woche zur Schule gegangen | |
wären. | |
Haben Sie aus diesem Grund den Verein gegründet? | |
Ich hatte 1999 mein erstes Buch zum Locked-in-Syndrom veröffentlicht, und | |
dann meldeten sich ganz viele Angehörige von Betroffenen. Da war klar, wir | |
müssen es auf eine andere Ebene heben. Deshalb haben wir 2000 den | |
Selbsthilfeverein gegründet. Wir beraten, leisten aber auch ganz konkrete | |
Hilfestellung, zum Beispiel haben wir in einem Rehaprojekt Angestellte an | |
einer Spandauer Klinik. | |
Haben Sie sich nach dem Schlaganfall je wieder mit Physik beschäftigt? | |
Nein. Mir ist die Feinmotorik völlig verloren gegangen. Das, was ich früher | |
gemacht habe, kann ich heute nicht mehr machen. Dafür hat sich mir eine | |
ganz andere Welt eröffnet: die Welt der Medizin, der Neurologie. Die Hälfte | |
meiner Zeit berate ich heute andere Menschen. Auch wenn ich könnte, möchte | |
ich nicht mehr in die Physik zurück. Ich habe mich damals zu 100 Prozent | |
mit toter Materie beschäftigt. Aus heutiger Perspektive empfinde ich das | |
als eine Art Zeitverschwendung. | |
Hat sich Ihre Vorstellung von Zeit verändert? | |
Ich bin selbst das Maß der Dinge, und ich bin nun einmal unendlich langsam | |
geworden. Ich habe immer Probleme, mir vorzustellen, warum manche Sachen so | |
schnell ablaufen müssen. Bis heute sehe ich ungern Filme mit schnellen | |
Schnitten, weil sie nicht meiner eigenen Langsamkeit entsprechen. | |
Passt sich Ihr Umfeld Ihrer Geschwindigkeit an? | |
Um eine Tasse von hier nach dort zu tragen, brauche ich zehnmal so lange | |
wie jeder andere. Aber da muss sich niemand an meine Geschwindigkeit | |
anpassen. Nur was das Nachdenken betrifft, denke ich oft: Was sind die alle | |
langsam. | |
Dann kommt Familie Ufer. Es gibt Kuchen. Sonja Ufer ist seit 30 Jahren | |
Locked-in-Patientin. Die Psychologin war 26 und Mutter von zwei kleinen | |
Kindern, als sie den Schlaganfall hatte. Sie sitzt im Rollstuhl und kann | |
nur ihren Kopf bewegen. Zwanzig Jahre lang hat sie mit Augen und | |
Buchstabentafel kommuniziert. Inzwischen redet sie ganz leise, eigentlich | |
bewegt sie nur die Lippen. Ihr Mann spricht Wort für Wort laut nach. Die | |
beiden sind inzwischen Großeltern. Herr Ufer sagt, er habe einmal versucht, | |
sich vorzustellen, wie es ist, locked-in zu sein: „Aber schon nach ein paar | |
Minuten hat es irgendwo gejuckt.“ | |
5 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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