# taz.de -- Montagsinterview Pilzberater Hansjörg Beyer: "Kaum Grenzen fürs P… | |
> Bei Pilzen macht ihm kaum einer etwas vor: Hansjörg Beyer ist schon seit | |
> seiner Kindheit von den Gewächsen fasziniert. Als offizieller Pilzberater | |
> des Landes Berlin gibt er sein Wissen gern weiter. | |
Bild: Im Kreise seiner Liebsten: Pilzberater Hansjörg Beyer | |
taz: Herr Beyer, Berlin ist eine Großstadt, und Pilze wachsen im Wald. | |
Warum braucht Berlin einen Pilzberater? | |
Hansjörg Beyer: Berlin ist ausgesprochen pilzreich! Die Stadt ist sehr | |
grün, hat viele Waldgebiete, Gärten und Parks. Zu den meisten Jahreszeiten | |
kann man irgendwo im Stadtgebiet oder im Umland Pilze finden. Dem | |
Pilzwachstum in Berlin sind an sich kaum Grenzen gesetzt. | |
Wo wachsen sie denn? | |
Das fängt bei mir im Innenhof meiner Wohnung im Westend an. Sogar vom | |
Balkon aus kann ich mitunter interessante Pilzarten wachsen sehen. Zum | |
Beispiel den Verblassenden Täubling; ich hatte auch schon Birkenröhrlinge | |
im Innenhof, und Nelkenschwindlinge, da freut man sich besonders. Es ist | |
nicht so, dass man zum Pilzesammeln in entlegene Gegenden muss. | |
Aber eigentlich brauchen doch Pilze einen Baum. | |
Es gibt aber auch eine Menge Pilzarten, die nicht mit Bäumen in Symbiose | |
leben, sondern sich von abgestorbenem Material ernähren, zum Beispiel die | |
Champignons. Viele von ihnen kann man auf Wiesen oder Weiden finden, also | |
außerhalb von Wäldern. Neulich habe ich auf der Wiese eines Schwimmbads | |
zahlreiche Pilze gefunden. Ich bin dann mit der kurzfristig | |
zweckentfremdeten Kühlbox herumgegangen und habe meinen Bedarf gedeckt. Zum | |
Schwimmen bin ich deshalb erst später gekommen. | |
Sind Sie von Gästen angesprochen worden? | |
Nein, das hat mich gewundert. Ich bin dort ja in der Nähe der Sonnenanbeter | |
herumgestapft. | |
Wie ist das mit Straßenbäumen: Können die, die ja durch Lärm und Abgase | |
gestresst sind, Partner sein für Pilze? | |
Na klar! Der Netzstielige Hexenröhrling zum Beispiel, den findet man in | |
Berlin häufiger. Er steht in Symbiose mit Laubbäumen im Stadtgebiet. | |
Wie sieht er aus? | |
Er hat einen gelb- bis olivgrünen Hut, rote Röhren und einen genetzten | |
Stiel, wie der Name schon sagt. Nicht alle Menschen vertragen übrigens | |
diesen Pilz, er ist in jedem Falle roh giftig. | |
Wo gehen Sie sammeln? | |
Das hängt von Jahreszeit und Witterung ab. Im Herbst gehe ich gern in die | |
Wälder um Berlin herum, aber auch in den Grunewald. Ich biete da auch eine | |
Wanderung vom Ökowerk aus an. Zum Sammeln fahre ich auch in ein mir | |
bekanntes Revier in Mecklenburg-Vorpommern, dann aber privat. | |
Und wie oft? | |
Alles in allem schon ziemlich häufig. Aktuell habe ich mit meiner Partnerin | |
eine Reise in den Harz geplant, da fahren wir mit dem Zug hin und werden | |
hoffentlich entlang der Schmalspurbahn interessante Pilzarten finden. Das | |
hängt auch davon ab, wie das Wetter wird. Insgesamt muss man sich nach dem | |
Pilz richten: Jede Pilzart hat eine eigene Erscheinungszeit, manche wachsen | |
mitten im Winter oder im Frühjahr, und dann suche ich natürlich das Gebiet | |
auf, in dem der Pilz gerade wachsen dürfte. | |
Und Ihre Freundin geht mit? | |
Ja, schon. Ich gehe natürlich mit meiner Partnerin in die Pilze, aber auch | |
mit Familienmitgliedern. Ich bin auch aktiv im Berliner Fahrgastverband | |
Igeb und biete gelegentlich für Vereinsfreunde einen Ausflug an: Wir machen | |
dann eine kombinierte Bahn-und-Pilz-Tour. Da wird das Pilzinteresse mit dem | |
für Schienenverkehr verbunden, das geht ja ganz gut, wenn man mit der | |
S-Bahn bis Hennigsdorf fährt und weiter in die Neuruppiner Ecke. Da findet | |
man einiges. | |
Wann gehen denn Pilzsammler los? | |
Ich gehe meist eher früh los, aber in Berlin ist das nicht unbedingt nötig. | |
Man findet auch am Nachmittag noch etwas. | |
Weil wir in einer Großstadt leben? Mein Opa hat immer gesagt: "Vor sechs | |
Uhr morgens los, sonst waren schon die anderen Leute da." | |
Das hängt davon ab, welche Arten man sammelt. Bei bekannteren Arten wie | |
Steinpilzen oder Echten Pfifferlingen mag das durchaus so sein. Aber da ich | |
auf die weniger gebräuchlichen Arten ausweichen kann, habe ich das Problem | |
nicht. Es bleibt immer etwas übrig. | |
Gibt es hier überhaupt Pfifferlinge? | |
Ja. | |
Wo denn? | |
Das verrate ich nicht. Es gibt mehrere Fundstellen in Berlin und im Umland | |
auch. | |
Ist das eine Pilzkundler-Regel, nie den Ort zu verraten? | |
Bei Speisepilzen trägt man das nicht allzu weit nach außen. Es mag durchaus | |
ein bisschen Egoismus dabei sein - man möchte nicht, dass jemand anders | |
dort noch welche findet. Das hängt vielleicht mit dem Sammelcharakter | |
zusammen. Ein Modelleisenbahner will ja auch nicht unbedingt, dass ein | |
Konkurrent erfährt, wo man die ein oder andere Lok günstig ergattern kann. | |
In der Berliner pilzkundlichen Gemeinschaft spielt der Speisewert von | |
Pilzen übrigens eine eher untergeordnete Rolle, da geht es in erster Linie | |
um die systematische Pilzbestimmung. Nicht alles, was dort bestimmt wird, | |
sieht auf den ersten Blick überhaupt wie ein Pilz aus. Auch hinter bizarren | |
Krusten auf Ästen verbergen sich spannende Pilzarten. Hier wird keine | |
Geheimhaltung betrieben, im Gegenteil: Es zeichnet den Finder aus, dass er | |
mitteilt, wo er einen interessanten Pilz gefunden hat. Dann kann in der | |
Kartierungsliste ein Punkt gemacht werden. | |
Was ist Ihr Lieblingspilz? | |
Einer meiner Favoriten ist der Rotbraune Milchling. Er wächst gern in | |
sandigen Kieferwäldern, von denen Brandenburg viele hat. Der Pilz ist nur | |
eingeschränkt genießbar. | |
Und deswegen ist es Ihr Lieblingspilz? | |
Ja, das ist interessant: Er wächst eben oft, wenn er einmal vorkommt, in | |
großer Zahl. Man kann ihn fast mit der Sense ernten. Unbehandelt ist er | |
beißend scharf - wer ihn nicht abkocht und gegebenenfalls wässert, kann | |
heftige Darmprobleme bekommen. Nach entsprechender Behandlung lässt sich | |
der Milchling aber gut für Pilzsalate verwenden oder in Essig einlegen. | |
Was passiert, wenn man zu viel davon ist? | |
Zu viel sollte man generell von Pilzen nicht essen, weil sie als schwer | |
verdaulich gelten. | |
Haben Sie sich schon einmal vergiftet? | |
Nein. | |
Woher kommt eigentlich Ihre Leidenschaft für Pilze? | |
Das ist in der Kindheit gewachsen, genau wie das mit dem Bahnfahren. Meine | |
Großeltern haben in einem Haus am Bahndamm gewohnt, das hat mich geprägt. | |
Mein Pilz-Vorbild war mein Onkel. Ich war sieben Jahre alt, als es zum | |
ersten Mal in die Pilze ging, und zwar in den Grunewald. Das hat mich | |
fasziniert, diese Pilze und die verschiedenen Farben. Wie das Wasser so in | |
den Trichtern ihrer Hüte stand, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. | |
Es war ein sehr pilzreicher Sommer damals, im Jahr 1973. | |
Der Botanische Garten hat Sie zu Beginn ihrer Tätigkeit als Pilzberater | |
damit angekündigt, dass Sie anhand eines Pilzbuchs lesen gelernt hätten. | |
Das ist doch nur ein PR-Gag, oder? | |
Nicht unbedingt. Ich habe das Lesen tatsächlich auch mithilfe eines | |
Pilzbuchs gelernt. Eines meiner ersten Bücher war das "Taschenbuch der | |
wichtigsten heimischen Pilze" von Katharina Bickerich-Stoll. Dieses Buch | |
hat für mich eine wichtige Rolle dabei gespielt, erstes pilzkundliches | |
Wissen aufzubauen. | |
Und das hat sich gehalten, die Pubertät hindurch und im Erwachsenenalter? | |
Im Prinzip schon. Es hat mit der Vielfalt der Materie zu tun - und | |
vielleicht mit der Freude am Sammeln. Man geht los und weiß nicht so genau, | |
wo genau man etwas findet - es sind immer wieder Herausforderungen und | |
Überraschungen dabei. Gleichzeitig wird das Interesse immer tiefer und man | |
erschließt sich neue Welten. Über manche Arten haben wir in der | |
Pilzkundlichen Arbeitsgemeinschaft schon stundenlang diskutiert, weil die | |
Bestimmung schwieriger wurde als anfangs gedacht. | |
Ist das noch ein Hobby? | |
Vom Beruf her bin ich Politikwissenschaftler, mein Geld verdiene ich in der | |
Verwaltung. Für mich ist die Pilzkunde fast eher eine Berufung. Vielleicht | |
ist das von Einflüssen geprägt, die wir mit unserem menschlichen Verstand | |
nicht erfassen können … | |
Haben Sie das Gefühl, dass Sie einen Auftrag haben? | |
Manchmal schon. Ob das etwas bewirkt, ist eine andere Frage. Jedenfalls | |
freue ich mich, wenn mir Menschen während der Pilzberatung signalisieren, | |
dass das etwas gebracht hat. Noch besser ist es natürlich, bei Menschen | |
Begeisterung zu wecken, die über das Sammeln von Speisepilzen hinausgeht. | |
Wer sucht denn überhaupt noch Pilze? | |
Na ja, viele haben sie im Garten stehen und möchten dann wissen, was es für | |
eine Art ist. Andere finden etwas bei einem Waldspaziergang. | |
Die klassischen Pilzsammler, gibt es die noch? | |
Mein Eindruck ist, dass die Zahl der leidenschaftlichen Pilzkundler etwas | |
zurückgeht. | |
Zurück zu Ihnen und Ihrer Pilz-Geschichte. Wie war das eigentlich zu | |
Mauerzeiten, da waren die Fundstellen doch im wahrsten Sinne des Wortes | |
begrenzt? | |
Ich hatte eine recht große Verwandtschaft in der DDR, wir waren öfters | |
"drüben", auch in der pilzreichen Schorfheide. Aber auch im damaligen | |
Westberlin gab es viele Pilze - etwa in den Grünanlagen zwischen den | |
Hochhäusern, die in den 60er und 70er Jahren hochgezogen wurden. Außerdem | |
war es damals noch kühler, und es scheint auch nicht so viele Wildschweine | |
in den stadtnahen Wäldern gegeben zu haben wie heute. Damals waren die | |
Berliner Wälder nicht so schnell ausgetrocknet. Ob heute in der Region der | |
Stickstoffeintrag höher ist und die Wälder dadurch stärker "verkrautet" | |
sind als vor 30 Jahren, müsste man einmal näher klären. | |
Noch vor der Wende explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Wie sind Sie | |
damit umgegangen? | |
Die Tschernobyl-Krise hat mich verunsichert - so ging es ja vielen Menschen | |
damals. Speisepilze aus der Natur habe ich erst einmal gemieden. Immerhin | |
konnte ich damals meine theoretischen Kenntnisse erweitern und zu | |
Pilzkundlern Kontakte aufbauen. Aber die Praxis ruhte bis Ende der 80er | |
Jahre. | |
Jetzt ist das vorbei mit der radioaktiven Strahlung in Pilzen? | |
In Berlin und Brandenburg ist die Belastung eher gering. Außer um Rathenow, | |
wobei ich nicht weiß, warum. Einige Arten speichern darüber hinaus mehr | |
Radioaktivität, andere weniger. Der Maronenröhrling etwa ist stärker | |
belastet, der Rotbraune Milchling speichert leider auch vergleichsweise | |
viel Radioaktivität. Insgesamt gilt: Wer eine Handvoll Pfifferlinge | |
zubereitet, die er im Umland gefunden hat, geht ein relativ geringes Risiko | |
ein. | |
Kann ich Pilze heute noch irgendwo auf Radioaktivität testen lassen? | |
Ich habe davon seit Langem nichts mehr gehört. Man müsste einmal beim | |
Umwelt- oder Gesundheitsministerium anfragen. | |
Ist das noch ein Thema? | |
An sich schon. Es wird noch viel gefragt. In Deutschland gibt es ja auch | |
noch stärker belastete Gebiete, in Süddeutschland etwa. Dort sollte man | |
sich lieber informieren, wie hoch die Kontamination ist, bevor es in die | |
Pilze geht. Auch ist es nicht verkehrt, sich bei gekauften Pilzen nach der | |
Herkunft zu erkundigen. Auf Märkten sind schon hochradioaktiv belastete | |
Echte Pfifferlinge verkauft worden, die vermutlich aus der Ukraine | |
stammten. | |
Sind schon einmal Leute mit psychedelischen Pilzen zu Ihnen gekommen? | |
Ich habe einmal eine Pilzwanderung geleitet, bei der eine Teilnehmerin | |
solche Pilze gefunden hat. Wir mussten ihr untersagen, die Pilze | |
mitzunehmen, um sie für Rauschzwecke zu verwenden - sie fallen unter das | |
Betäubungsmittelgesetz. Es soll Fälle geben, wo Menschen nach dem Konsum | |
solcher Pilze psychische Schäden behalten haben. | |
Wachsen diese Pilze in Berlin? | |
Einzelne Arten gibt es, die eine psychotrope Wirkung haben. Ein Risiko | |
besteht auch darin, diese Pilze mit anderen Giftpilzen zu verwechseln. Auf | |
Anhieb erkennt man die nicht immer. | |
Apropos Vergiftung: Stimmts, dass man Pilzgerichte nicht aufwärmen soll? | |
Wenn der Pilz bei der Zubereitung frisch war und man das Essen über Nacht | |
im Kühlschrank in einem Porzellangefäß aufbewahrt, kann man es am nächsten | |
Tag durchaus aufwärmen. | |
Essen Sie auch Champignons aus der Dose? | |
Fast nie, nein. | |
Pfifferlinge aus dem Supermarkt? | |
Nein. Was ich hier finden kann, suche ich lieber selbst. Und so gut Echte | |
Pfifferlinge auch schmecken: Es gibt viele andere interessante Speisepilze. | |
23 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Kristina Pezzei | |
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