| # taz.de -- Montagsinterview Kathrin Schmidt: "Ich wusste schnell wieder, wer i… | |
| > Kathrin Schmidt erhielt für das Buch über ihre Krankenheit nach einen | |
| > Schlaganfall den Deutschen Buchpreis. Über Perfektionismus, die Angst | |
| > vorm Tod und das Problem, mit seiner Krankenheit berühmt zu werden. | |
| Bild: "Ich bin kein Typ, der lange fragt". Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt a… | |
| taz: Frau Schmidt, Sie haben vor sieben Jahren nach einer Hirnblutung zwei | |
| Wochen im Koma gelegen. Haben Sie noch Angst vor dem Tod? | |
| Kathrin Schmidt: Nein. Vorher war ich todesfürchtig, das ist völlig weg. | |
| Vielleicht weil ich so nah dran am Tod war und merkte: So schlimm ist das | |
| nicht. | |
| Geht es Ihnen auch in anderen Lebensbereichen so? | |
| Ich muss mich nicht mehr nach allen Seiten absichern, wenn ich vor mehreren | |
| Leuten rede. Oft habe ich früher lieber den Mund gehalten, jetzt ist mir | |
| egal, was die Leute denken. | |
| Hatten Sie diesen Perfektionismus auch beim Schreiben? | |
| Nein, da hatte ich das nie. Ich glaube, das Schreiben war immer meine | |
| Fluchtburg für alles, was ich mich in mündlicher Sprache nicht getraut | |
| habe. | |
| Das heißt, Sie brauchen das Schreiben jetzt gar nicht mehr so sehr? | |
| Doch. Das ist seit 15 Jahren mein Beruf, und es ist etwas | |
| Professionalisiertes, das mir schon fehlt, wenn ich es nicht mache - | |
| genauso wie zum Beispiel jeder Hutmacherin etwas fehlen würde, wenn sie | |
| keine Hüte mehr machen könnte. | |
| Sie haben den Deutschen Buchpreis für Ihren Roman "Du stirbst nicht" | |
| bekommen, der im Grunde genommen Ihre Krankheitsgeschichte erzählt. Hatten | |
| Sie nie Angst, darauf reduziert zu werden - also fortan nur noch die Frau | |
| zu sein, die im Koma lag? | |
| Ich kann damit im Moment sehr gut leben. Ich genieße das noch, weil ich es | |
| ja so nicht kannte: Ich habe eine ganze Stange Geld in Aussicht. Jede | |
| Lesung ist ausverkauft, ich muss bisweilen 50 bis 60 Bücher hinterher | |
| signieren - und das macht mir Spaß! | |
| Warum haben Sie eigentlich das Buch erst fünf Jahre nach dem Koma | |
| geschrieben? | |
| Ich hatte nie vor, darüber zu schreiben. Ich habe 2005 einen anderen Roman | |
| veröffentlicht, mit dem hatte ich mich sozusagen aus dem Sumpf der | |
| Sprachlosigkeit gezogen. Eines Tages war es einfach über mich gekommen, mal | |
| aufzuschreiben, wie ich aus dem Koma erwacht war, und ich habe 30 Seiten in | |
| Ichform geschrieben. Einer Freundin gefiel das gut, und die sagte: "Mach | |
| doch die erste Seite zur letzten!" Auf der ersten Seite riss die | |
| Gehirnarterie, und so hatte ich den langen Weg vor mir, die Heldin zu | |
| diesem Anfang zurückzuschicken, dass sie sich erinnert, wie dieses | |
| Aneurysma geplatzt war. | |
| Ihre Romanheldin Helene kämpft nach dem Koma genau wie Sie um ihre | |
| Erinnerung und ihre verlorene Sprache. Warum so ein persönliches Buch? | |
| Es ist nicht meine Geschichte. Ich habe die Figur auf eine Reise geschickt, | |
| eine Reise von mir weg. | |
| Aber Helene ist wie Sie Schriftstellerin, hat fünf Kinder … | |
| Ja, ich habe lange überlegt, ob sie unbedingt Schriftstellerin sein muss, | |
| und habe versucht, sie Journalistin oder auch Germanistin sein zu lassen. | |
| Aber das wirkte alles nicht. Und als sie Schriftstellerin blieb, habe ich | |
| auch andere Sachen gelassen. Aber zum Beispiel hat Helene eine Affäre mit | |
| einer Transsexuellen. Das hatte ich nicht. | |
| War das Schreiben auch Therapie für Sie? | |
| Mein therapeutischer Prozess war bereits abgeschlossen, und je weiter ich | |
| die Heldin von mir weggeschickt hatte, desto mehr wurde es Spaß am | |
| Fabulieren, Spaß am Erzählen. Man schreibt nun mal über Sachen, über die | |
| man etwas weiß. Und ich weiß, wie es war, aus dem Koma zu erwachen und ins | |
| Leben langsam zurückzukommen. | |
| Ihre Protagonistin kommt sehr selbstironisch und lakonisch ins Leben | |
| zurück, fast mitleidslos mit sich selbst. Waren Sie zu sich selbst auch so | |
| streng, als Sie krank waren? | |
| Ich war überhaupt nicht streng mit mir! Ich hatte das ganz große Glück, | |
| dass ich das Schicksal von Anfang an annehmen konnte. Dafür bin ich | |
| dankbar, ohne zu wissen, wem. Ich bin von der Grundstruktur her eigentlich | |
| ein depressiver Mensch, aber während dieser Zeit im Krankenhaus habe ich | |
| nicht ein Mal gehadert oder gewütet. Selbst als ich merkte, dass ich die | |
| rechte Seite nicht mehr bewegen kann, habe ich sofort mit der linken Seite | |
| getippt. Als ich später merkte, dass ich nicht mehr Klavier spielen kann, | |
| das war schlimmer. Aber insgesamt habe ich es als Stück meines Lebens | |
| annehmen können - und das empfinde ich als Gnade. | |
| Sie hatten Ihre Sprache verloren, konnten fast ein halbes Jahr nicht | |
| sprechen … | |
| Viele, ganz einfache Wörter waren weg. Der Weg vom Gedanken zum Wort war | |
| gekappt. Da war zudem die motorische Sprachhemmung, die ich hatte - ich | |
| habe auch jetzt noch Schwierigkeiten bei bestimmten Zischlauten oder | |
| Silbendopplung wie bei arbei-te-te, da muss ich immer ein bisschen | |
| langsamer sprechen, das vergesse ich meistens. Die Wörter kamen aber | |
| zurück, wenn sie jemand gebrauchte. | |
| Das heißt, Sie sahen einen Tisch und konnten ihn nicht benennen. Aber wenn | |
| jemand das Wort benutzte, wussten Sie, was es bedeutet? | |
| Ja, genau. Wenn ich ein Wort hörte, wusste ich sofort, was es bedeutet, | |
| denn die Verbindung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung war niemals | |
| gekappt. | |
| War Ihre Erinnerung weg? | |
| Die kam langsam wieder. Wenn man aus dem Koma erwacht, weiß man erst einmal | |
| gar nicht, wo man ist, und man denkt auch nicht in die Vergangenheit. Aber | |
| ich wusste schnell wieder, dass ich Kathrin Schmidt bin. | |
| Hat sich Ihr Körper schneller erholt als Ihre Seele? | |
| Nein, der Körper hinkte hinterher; mit mir selbst war ich meist im Reinen. | |
| Ich dachte ja erst, ich muss mich verrenten lassen. Ich hatte auch schon | |
| ein Schreiben erhalten, dass ich monatlich 932 Euro bekomme. Dann hat mich | |
| mein Verleger besucht, zu einer Zeit, zu der ich noch gar nicht richtig | |
| sprechen konnte. Er hat zum Abschied gesagt: "Na, das nächste Buch machen | |
| wir dann auch wieder gemeinsam." Und das hat er mit einer | |
| Selbstverständlichkeit ausgesprochen, dass da ein Schalter gekippt ist. | |
| Welcher Schalter ist denn da gekippt? | |
| Mich nicht verrenten zu lassen, das Schicksal doch wieder in die eigenen | |
| Hände zu nehmen und weiterzumachen. Wahrscheinlich war ich anfangs zu | |
| schicksalsergeben. Wenige Wochen später habe ich angefangen, einen neuen | |
| Roman zu schreiben. Da bin ich noch mehrmals am Tag eingeschlafen, war auch | |
| meist nur eine halbe Stunde munter. Aber ich habe den Roman "Seebachs | |
| schwarze Katzen" damals angefangen, der dann im Jahr 2005 erschienen ist. | |
| In dem Roman geht es um einen Stasi-Spitzel. Sind Sie in der DDR bespitzelt | |
| worden? | |
| Meine Hauptakte ist geschreddert worden. Aber ich stelle jedes Jahr einen | |
| neuen Antrag, weil sich immer noch Blätter finden. Es sind Unterlagen | |
| gefunden worden, die mit der Gründung eines Archivs junger Autoren zu tun | |
| haben, an der ich beteiligt war und wo ich auch als "feindlich negatives | |
| Element" eingeschätzt werde. | |
| Und Sie selbst - ist die Stasi auf Sie zugekommen? | |
| Gott sie Dank nicht. Ich hätte bestimmt ja gesagt. | |
| Echt? Aus Angst? | |
| Nein, nicht aus Furcht. Mit 17, 18 war ich überzeugt davon, dass der | |
| Sozialismus das beste System auf Erden ist. Das lag an meinem Elternhaus: | |
| Mein Vater saß von 1946 an zehn Jahre im Zuchthaus Bautzen, weil er der | |
| Jugendorganisation der CDU angehörte. Als Einziger der Gruppe, mit der er | |
| verhaftet wurde, ist er nicht in den Westen gegangen - wegen seiner Eltern. | |
| Er hatte danach Angst. Es gab bei uns so etwas wie einen untergelegten | |
| Text, dass wir an nichts zu zweifeln hatten. Und so stellten wir nichts | |
| infrage. | |
| Sie mussten also erst das Elternhaus verlassen, um am Regime zu zweifeln? | |
| Ich studierte in Jena, wo der Bürgerrechtler Jürgen Fuchs ein Jahr vorher | |
| exmatrikuliert worden war. Das rüttelte mich auf. Später suchte ich die | |
| Nähe der Opposition. Ich hatte zum Beispiel eine Freundin, die für den | |
| Friedrichsfelder Feuermelder schrieb. Das war ein Blatt des | |
| Friedrichsfelder Friedenskreises, einer oppositionellen Vereinigung unter | |
| dem Dach der Kirche. Ich erinnere mich insbesondere an eine Studie zur | |
| Situation berufstätiger Frauen in der DDR, die der offiziellen Deutung | |
| zuwiderlief. Übrigens ist diese Freundin noch heute meine beständigste. | |
| Sie haben zu DDR-Zeiten auch Gedichte geschrieben. Die Veröffentlichung | |
| Ihres ersten Lyrikbandes wurde wegen "politisch anstößiger Stellen" | |
| verschoben, er erschien erst 1988. Was war den Zensoren denn zu anstößig? | |
| Da habe ich die Grenze thematisiert, also irgendeine Grenze, das war denen | |
| halt zu viel, und 88 wars dann nicht mehr so schlimm. Ich habe mir darüber | |
| nicht so viele Gedanken gemacht, weil ich ja als Psychologin gearbeitet | |
| habe und davon nicht leben musste. Wenn sie es nicht veröffentlicht haben, | |
| haben sie es eben nicht veröffentlicht. Das war völlig egal. Ich bin | |
| wahrscheinlich wirklich so ein Typ. | |
| Was für ein Typ sind Sie nicht? | |
| Ich bin kein Mensch, der lange fragt, warum das nun passiert ist. Ich | |
| versuche immer eher, die Situation zu retten. Auch die Krankheit habe ich | |
| ja sofort angenommen. | |
| Mit Verlaub, aber das ist kaum vorstellbar. Sie haben das Koma hingenommen, | |
| ohne jemals zu fragen "Warum ich?". Sie haben die Vereinigung akzeptiert, | |
| obwohl sie am runden Tisch für eine eigenständige DDR eingetreten waren. | |
| Sie müssen doch auch einmal wütend gewesen sein, verbittert! | |
| Ich war anfangs durcheinander und wütend, weil der Westen für mich damals | |
| keine Alternative war. Das hatte mit meinen fünf Kindern zu tun; ich konnte | |
| mir einfach nicht vorstellen, sie herauszureißen aus einem Schulsystem und | |
| in ein anderes reinzupfropfen, in dem jeder nur an sich denkt. Da war ich | |
| wirklich sehr konservativ. Wahrscheinlich haben die Sachen, die man uns | |
| übers westdeutsche Schulsystem erzählt hat, noch unbewusst gewirkt. | |
| Und dann? | |
| Bei mir kam anders als bei vielen nicht die tiefe Resignation. Ich habe | |
| gedacht, wenn das jetzt auf Anschluss hinausläuft, ist das zwar nicht so, | |
| wie ich mir vorgestellt habe, aber wir sind dann zumindest in der | |
| Weltgeschichte angekommen, in der sich alle aufhalten, und sind nicht mehr | |
| unter dieser Glocke. | |
| So eine Glocke kann ja aber auch Sicherheit und Geborgenheit bieten - wird | |
| sie gehoben, fehlt die Orientierung. Wie war das denn bei Ihnen? | |
| Ich habe zunächst bei einer feministischen Frauenzeitschrift gearbeitet, | |
| Ypsilon. Das war schon etwas Neues, was wir zuvor ja nicht konnten, einfach | |
| so eine Zeitschrift machen. Das Heft wurde aber nach eineinhalb Jahren | |
| eingestellt. Danach wollte ich eigentlich ganz und gar den Mund halten, da | |
| wollte ich nichts mehr schreiben, weil ich es auf einmal als solch ein | |
| Privileg empfand, dass ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte und viele | |
| andere, die ich für viel befähigter hielt, nicht. Als Psychologin arbeitete | |
| ich nicht mehr; ich habe mich dann durch ABM-Stellen gehangelt, und erst | |
| als ich im Jahr 1993 den Leonce-und-Lena-Preis bekommen habe, dachte ich: | |
| "Dann versuchst dus halt mal." | |
| Seitdem haben Sie mehrere Lyrikbände und Kurzgeschichten veröffentlicht und | |
| darüber hinaus vier Romane geschrieben, in denen es immer wieder auch um | |
| DDR-Geschichte geht. Sind Sie also nicht nur die Frau, die im Koma lag, | |
| sondern auch immer noch die "Ostschriftstellerin"? | |
| Bei den letzten drei Romanen noch sehr. Bei dem neuen Buch weniger. Obwohl | |
| es eben Rezensenten gibt, die diesen ganzen gesundheitlichen Zusammenbruch | |
| als Metapher für die Wende in der DDR lesen. Das finde ich schrecklich, und | |
| ich weiß überhaupt nicht, wie die darauf kommen. Und ich werde auch | |
| gefragt, warum ich denn auch in diesem Roman viel über die DDR geschrieben | |
| habe. Ich finde nicht, dass ich viel über die DDR geschrieben habe, und ich | |
| habe ja nun mal kein anderes Leben. Ich kann ja kein anderes Leben | |
| erfinden. | |
| 4 Jan 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathleen Fietz | |
| Kristina Pezzei | |
| Detlev Schilke | |
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