# taz.de -- „Meine Kündigung ist Protest“ | |
> Jenny de la Torre | |
Sie wird der „Engel der Obdachlosen“ genannt – seit über neun Jahren fü… | |
die in Peru geborene Ärztin Jenny de la Torre am Ostbahnhof eine Praxis für | |
Obdachlose. Für diese Arbeit bekam sie viel Lob, letztes Jahr wurde ihr die | |
Goldene Henne verliehen. Doch am vergangenen Mittwoch war Schluss. Weil die | |
Trägergesellschaft ihre Stelle von ganz- auf halbtags kürzen will, hat sie | |
gekündigt. Jetzt will sich die 46-Jährige um ihre Stiftung für Obdachlose | |
kümmern. Ein Gespräch über die Pflicht, zu helfen, und die Frage, warum sie | |
ihren Patienten nicht einfach „Gute Besserung“ sagen kann | |
Interview JAN ROSENKRANZ | |
taz: Herzlichen Glückwunsch, Frau de la Torre! | |
Jenny de la Torre: Wofür das denn bitte? | |
Nach neun Jahren Obdachlosen-Ärztin kommen jetzt immer weniger Patienten in | |
Ihre Praxis am Ostbahnhof. Das heißt doch, dass Sie sehr erfolgreich waren? | |
Na ja, so viel weniger Patienten kommen nun auch nicht. Früher haben wir | |
täglich bis zu 30 Patienten behandelt. Aber in der regulären Arbeitszeit | |
haben wir das nie geschafft, nur mit Überstunden. Und danach waren wir auf | |
Spendensuche. Natürlich hat sich die Situation verbessert. Jetzt kommen | |
vielleicht auch ein paar weniger. | |
Inwiefern ist es besser geworden? | |
Berlin muss sich nicht mehr schämen. Die offensichtliche Verwahrlosung am | |
Ostbahnhof haben wir quasi abgeschafft. Es gibt weniger Gewalt, weniger | |
Suizidversuche. Das ist unsere Leistung. Darum kann ich nicht verstehen, | |
wieso ausgerechnet jetzt, da die Praxis endlich funktioniert, das große | |
Kürzen anfängt. | |
Die Trägergesellschaft MUT hat Ihren Vollzeitvertrag zum 30. September | |
gekündigt und Ihnen eine halbe Stelle angeboten, da haben Sie gekündigt. | |
Ja, weil das keine Lösung ist. Es geht doch nicht um mich, ich würde sofort | |
irgendwo 15 Stunden zusätzlich arbeiten können, nur um Geld zu verdienen. | |
Aber was passiert, wenn ich den Kürzungen zustimme? Wozu haben wir und die | |
Spender das alles gemacht? Wozu war ich ständig auf Spendensuche? Wozu | |
haben sich meine Patienten vor der Presse entblößt und ihre Krankheiten | |
vorgezeigt? | |
Aber es nützt doch nichts, es wird gekürzt, auch ohne Sie. | |
Nicht „auch ohne mich“, sondern „aber ohne mich“. Meine Kündigung ist | |
Protest. Ich will darauf aufmerksam machen. Ich habe gerne jede Einladung | |
angenommen, obwohl es meine Freizeit war, weil es wichtig ist, dass die | |
Spender wissen, wofür sie spenden. Ich muss das tun, für meine Patienten. | |
Ich leihe ihnen meine Stimme, weil sie selbst kaum eine haben. Es ist meine | |
Pflicht – als Bürgerin dieser Stadt, als Mensch und als Ärztin. | |
Dann hätten Sie doch gerade weitermachen müssen. | |
Aber doch nicht so. Man kann das doch nicht einfach als gegeben | |
voraussetzen. Man kann nicht kürzen und erwarten, dass alles so weiterläuft | |
– mit Überstunden und Abendterminen. Das Problem wird doch nicht kleiner. | |
Aber so bekommt man es nicht in den Griff. Man muss weiter versuchen, die | |
Menschen zu integrieren. Das ist übrigens auch sehr ökonomisch, wenn man | |
schon mit Zahlen operiert. | |
Inwiefern ökonomisch? | |
Ein Obdachloser ist viel teurer als ein normaler Sozialhilfeempfänger. | |
Einmal, weil die Behandlung wahnsinnig zeitintensiv ist. Am Anfang sind wir | |
der Rettungswagen-Zentrale ordentlich auf den Geist gegangen. Durch unsere | |
Praxis ist das viel seltener geworden. Und die Obdachlosenheime sind zum | |
Teil viel teurer als Wohnungen zu mieten. Noch ökonomischer und sozialer | |
wäre es, Obdachlosigkeit zu verhindern. Aber für Prophylaxe ist noch | |
weniger Geld da. | |
Kamen die Kürzungen denn überraschend für Sie? | |
Einigermaßen. Wir haben zwar ab und an den Hinweis bekommen, wir müssen die | |
Patientenzahlen steigern. Aber wie soll das gehen? Mit 25 Stunden | |
Öffnungszeit in der Woche geht das erst recht nicht. Außerdem ist es | |
schizophren, eigentlich sollten wir doch die Zahlen senken. | |
Befürchten Sie, dass bei kürzeren Öffnungszeiten weniger Patienten kommen? | |
Exakt. Ich war wahnsinnig stolz darauf, dass es eine Einrichtung in Berlin | |
gibt, die Obdachlosen den ganzen Tag zur Verfügung steht. Vollzeit! Wenn | |
ich den Kürzungen jetzt zustimme, dann besteht die Gefahr, dass noch | |
weniger Patienten kommen, und dann müssen Sie noch weiter kürzen. Das ist | |
ein Teufelskreis. Das geht so nicht. | |
Ihre Motto lautet: Eine Gesellschaft, die so reich ist wie die deutsche, | |
muss es sich leisten, sich um die Ärmsten zu kümmern! | |
Richtig. | |
Leisten wir uns zu wenig? | |
Die grundsätzliche Finanzierung, die die Stadt mitträgt, ist die Stelle für | |
die Ärztin und die Schwester und eine halbe Sozialberaterin. Mehr nicht. Da | |
kann man keine Abstriche machen. Bei tausenden von Obdachlosen, die hier es | |
gibt, muss es doch eine Arztpraxis geben, allein für sie. Und zwar voll | |
finanziert. Diese Praxis lebt seit neuneinhalb Jahren praktisch nur von | |
Spenden. Wir waren ständig unterwegs, um Spenden aufzutreiben. | |
Warum brauchen Obdachlose überhaupt eine eigene Praxis, viele Ärzte klagen | |
doch über Patientenmangel? | |
Obdachlose gehen in keine normale Praxis. Sehr viele sind einfach nicht | |
wartezimmerfähig – betrunken, oft ungewaschen, viele psychisch gestört. | |
Doch vor allem: Es sind keine Leute, die artig im Wartezimmer sitzen. | |
Manche haben Klaustrophobie, andere haben Angst, dass die Freunde | |
weglaufen. Selbst in unserer Praxis habe ich mir oft zwei, drei Patienten | |
ins Zimmer geholt, damit sie nicht unbehandelt abhauen und nicht wieder | |
kommen. Das ist Intensivbetreuung, das geht nicht schneller. | |
Am Ende der Behandlung sagen Ärzte immer: Sie brauchen jetzt viel Bettruhe! | |
Was sagen Sie? | |
Das ist doch das Problem. Das macht diese Arbeit aus. Ich kann nach der | |
Behandlung nicht einfach „Gute Besserung“ sagen. Ich muss überlegen, wo | |
bringe ich diesen Menschen unter. Dann muss man telefonieren, hier und | |
dort, wo ist etwas frei, wer zahlt das. Das dauert lange. Da sind die | |
Schicksale wichtig und nicht die Zahlen. | |
Ist es nicht frustrierend, dass die meisten Patienten immer wieder mit | |
denselben Beschwerden kommen? | |
Ja, wenn Sie das so sehen, dann sind Sie jeden Tag frustriert. Da kommt ein | |
Patient und sagt: Bitte, helfen Sie mir. Okay, ich habe diese Tabletten. | |
Sagt der: Nein, Tabletten nehme ich nicht. Können Sie vergessen. Oder Sie | |
weisen jemanden per Rettungswagen ins Krankenhaus ein, dann kann es | |
passieren, dass er zwei Stunden später wieder auf der Matte steht und sagt: | |
Frau Doktor, helfen Sie mir. | |
Wussten Sie eigentlich damals 1994, worauf Sie sich eingelassen haben? | |
Nein, ich habe mir das viel einfacher vorgestellt. Ich musste viel lernen. | |
Am Anfang habe ich es mir leicht gemacht, ich dachte, wir haben doch ein | |
Sozialamt, da kann jeder hin. Wo ist das Problem? Ich schicke den Patienten | |
hin, dort bekommt er seinen Krankenschein und fertig. Das Sozialamt hat ihm | |
eine Unterkunft zu gewähren und Ende. Das ist das Gesetz. Aber ganz so | |
einfach ist es eben nicht. | |
Was macht es so schwierig? | |
Obdachlose sind keine Kinder, die man zu ihrem Glück zwingen kann. Viele | |
haben Jahre gebraucht, um das Leben auf der Straße zu aktzeptieren. Nur | |
weil ich finde, dass kein Mensch so leben darf, kann ich nicht als gutes | |
Engelchen kommen und sagen, das ändern wir jetzt aber gleich. Das dauert. | |
Es nützt kein Schulterklopfen, kein „Wird schon werden“ und keine Parole, | |
sondern nur das ganz konkrete Hilfsangebot. Entweder sie können das | |
annehmen oder nicht. | |
Sie sprechen die ganze Zeit im Präsens, dabei hören Sie auf. Wie geht es | |
denn weiter? | |
Ich habe im vorigen Jahr eine Stiftung für Obdachlose gegründet … | |
… die Jenny De la Torre Stiftung mit dem Preisgeld von der Goldenen Henne, | |
die Sie bekommen haben. | |
Ja, genau. Wir müssen jetzt sehen, wie wir das Grundkapital für die | |
Stiftung zusammenbekommen. Die 25.000 Euro Preisgeld reichen nicht. Man | |
braucht 50.000 Euro, und nur was darüber liegt, darf sofort verwendet | |
werden. Ich muss sehen, wie ich meinen Patienten etwas Stabileres bieten | |
kann. Etwas, das unabhängig finanziert wird und nicht ständig ums Überleben | |
kämpfen muss. | |
Also ein Konkurrenzbetrieb? | |
Auf keinen Fall. Es gibt ja noch andere Brennpunkte in dieser Stadt – in | |
Kreuzberg zum Beispiel. Die Ostbahnhof-Praxis muss bleiben. Es gibt einen | |
Arzt, einen Zahnarzt, sie können hier essen, sich umziehen, duschen. Aber | |
wir brauchen Sozialarbeiter, Psychologen, Rechtsberater. Wenn es so ein | |
Zentrum gäbe, auf Basis dieser Stiftung, das wäre ideal. Das wäre mein | |
Traum. Ich rufe alle Bürger dieser Stadt dazu auf, die Obdachlosen dabei zu | |
unterstützen. | |
Was erwarten Sie vom Senat? | |
Ich hoffe trotzdem auf Unterstützung. Es kann doch nicht nur um Sparen | |
gehen. Vielleicht würde es schon helfen, dafür zu sorgen, dass die | |
Mitarbeiter auf den Sozialämtern, die einen sehr schweren Job haben, noch | |
sensibler vorgehen. Viele Obdachlose macht allein der Gedanke an das | |
Sozialamt aggressiv. Manche brauchen Jahre, um überhaupt hinzugehen, ein | |
falsches Wort, ein falscher Blick und sie sind wieder draußen. | |
Bliebe denn künftig noch Zeit, als Ärztin zu behandeln? | |
Es muss, ich bin Ärztin, das ist mein Traumberuf. Ich weiß nur noch nicht, | |
wie das künftig funktionieren soll. Ich hoffe einen Träger zu finden, der | |
bereit ist, mit mir so eine Praxis aufzubauen. Irgendwo muss jedenfalls das | |
Geld dafür herkommen. | |
In Peru gäbe es für Sie doch sicher auch viel zu tun? | |
Ja, bestimmt, aber Sie müssen die Möglichkeit haben, dort zu helfen. Ich | |
habe sie nicht. Zwei Mal habe ich versucht, in Peru als Ärztin anerkannt zu | |
werden. Das ist sehr schwierig, sehr bürokratisch. Beim ersten Mal hätte es | |
drei Jahre gedauert. Die Zeit habe ich lieber dafür genutzt, in Deutschland | |
Fachärztin zu werden. Der zweite Anlauf war auch nicht besser. Vielleicht | |
probiere ich es später noch einmal. | |
Nie daran gedacht, selbst einmal viel Geld zu verdienen? | |
Nein, es gibt Wichtigeres. Eine Zeit lang war bei uns in der Praxis ständig | |
das Fernsehen, damals habe ich sehr viele lukrative Angebote bekommen von | |
überall. Ich hätte nur zugreifen brauchen, das wäre mein Lottegewinn | |
gewesen. Es ist ja nicht so, als wäre das nur schön, jedes Jahr von neuem | |
zu bibbern, ob die Gelder wieder kommen. Aber ich gehöre hierher – zu den | |
Obdachlosen. Ich habe das angefangen und das mache ich weiter. Irgendwie. | |
Kein Wunder, dass man Sie den „Engel der Obdachlosen“ nennt. | |
Pff, Engel. Man kann nichts geben, was man nicht hat. Das ist das Problem. | |
Und ohne die Spender hätten wir rein gar nichts. Außerdem konnte ich die | |
Bezeichnung „Engel“ noch nie leiden. | |
Warum? | |
Es entmutigt die Leute, weil es so klingt, als müsste man ein Engel sein, | |
um das tun zu können. Wenn schon Engel, dann gibt es nicht nur einen, | |
sondern viele Engel in Berlin. Alle, die diese Praxis erst möglich gemacht | |
haben. Die meisten sieht man bloß nicht. | |
6 Oct 2003 | |
## AUTOREN | |
JAN ROSENKRANZ | |
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