# taz.de -- Maoisten in Indien: Krieg im Roten Korridor | |
> Bewaffnete Maoisten kämpfen gegen den Staat und das Kastenwesen. | |
> Menschenrechts-Gruppen werfen sowohl dem Staat wie auch den Maoisten | |
> massive Menschenrechts-Verletzungen vor. | |
Bild: Indische Paramilitärs nehmen maoistische Aktivisten in Gewahrsam. | |
Gaddar tanzt den Maoismus, er singt ihn. Der kleine Mann aus dem | |
südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh heißt eigentlich Gummadi Vittal | |
Rao. Er ist Sprecher der maoistischen Guerilla. Und er ist ein Volkssänger, | |
gehasst und bewundert zugleich. Dass er überhaupt noch tanzen kann, ist | |
erstaunlich. "Es war 1997, sechs Schüsse trafen mich in den Oberkörper, | |
eine Patrone steckt immer noch in meinem Rückgrat. Die Regierung wollte | |
mich für immer zum Schweigen bringen", erzählt er, "aber die Feudalisten | |
haben es nicht geschafft, ich bin immer noch die Stimme des Volkes." | |
Noch heute klingt Gaddars Hymne auf die Autorikschafahrer, geschrieben in | |
den Siebzigerjahren, aus tausenden scheppernden Boxen der gelben | |
Autorikschas. Der weißhaarige 60-Jährige gleicht einer Mischung aus Karl | |
Marx und Adriano Celentano. Er legt, verschmitzt lächelnd, eine Pistole auf | |
den Tisch. "Ich muss mich gegen die Angriffe der Herrschenden verteidigen", | |
sagt er lakonisch. | |
Wie kaum ein anderer kann der Barde vom Volkskrieg erzählen. Von der | |
Notwendigkeit, den US-Imperialismus zu bekämpfen. Von der | |
wissenschaftlichen Erkenntnis des Marxismus-Leninismus. Und, natürlich, vom | |
Maoismus. Der Sohn von "Unberührbaren" sitzt in seinem Büro vor großen | |
Plakaten, die ihn in Revolutionärspose zeigen. | |
Gaddar ist eine Ikone in Andhra Pradesh. Diese Region markiert das südliche | |
Ende des "roten Korridors", in dem die maoistische Guerilla operiert. Bis | |
in den hohen Norden des Bundesstaates Westbengalen zieht sich der Streifen. | |
Seit über 30 Jahren kämpfen in diesem riesigen Areal Guerillatruppen mit | |
dem Staat. Anfangs mit Erfolg. | |
Doch inzwischen hat der Staat die Oberhand gewonnen. Die Reihen der | |
Maoisten in Andhra Pradesh haben sich gelichtet. Etliche Kämpfer sind in | |
angrenzende Bundesstaaten geflohen, viele wurden erschossen. "Killed in | |
encounters" heißt es gewöhnlich in den Polizeiberichten, "Getötet in | |
Gefechten". Doch meist handelt es sich um standrechtliche Erschießungen. | |
Selbst die staatliche Menschenrechtskommission geht von landesweit mehreren | |
hundert Fällen außergesetzlicher Exekutionen in den letzten Jahren aus. | |
Entsprechend angespannt ist die Stimmung bei den Aktivisten der Naxaliten. | |
Noch vor wenigen Jahren wurden Medienschaffende aus aller Welt von | |
professionellen PR-Teams der Guerilla in die Wälder geführt, militärische | |
Übungen und auswendig gelernte Loyalitätsbekundungen von Bauern inklusive. | |
Doch die Zeiten des süffisant so genannten Maotourismus sind vorbei, | |
zumindest in Andhra Pradesh. | |
Erst nach vielen Treffen mit Kontaktpersonen, die in der Legalität leben, | |
ist ein Treffen mit zwei Kämpfern möglich. Die Guerilleros, ein Mann und | |
eine Frau, beide etwa Mitte zwanzig, wirken aufgeräumt und entspannt. Wie | |
gewöhnliche Studenten gekleidet, machen sie klar: "Sollte dies eine Falle | |
sein, werden wir schießen. Es sind noch andere Genossen in der Nähe, und | |
wir werden Sie zur Verantwortung ziehen." | |
"Warum ich bei der Guerilla bin?" Die junge Frau, sie nennt sich Tamara, | |
muss sich sichtlich überwinden, zu antworten. Ihr Englisch ist holprig. | |
"Meine Eltern sind Unberührbare. Wir haben nichts, müssen für unser | |
Überleben auf den Feldern der Höherkastigen arbeiten. Die beuten uns aus, | |
ein reicher Bauer vergewaltigt immer wieder Dalit-Mädchen aus unserem Dorf. | |
Wenn sich die Familie wehrt, zahlt er einfach keinen Lohn. Irgendwann hat | |
er meine Schwester vergewaltigt. Meine Eltern hatten Angst, ich aber bin | |
zur Polizei." | |
Tamara nimmt einen Schluck Kaffee und blickt sich um. Keine Polizei in | |
Sicht. "Auf der Wache boten sie an, etwas zu unternehmen. Im Gegenzug | |
wollten sie Sex mit mir." Sie lacht bitter auf. Ihr Genosse Azad pflichtet | |
bei: "Das System ist so korrupt. Es heißt zwar Demokratie, aber es ist | |
Feudalismus, die Herrschaft der Reichen und Höherkastigen." Auch Azad ist | |
ein Dalit, ein Unberührbarer. Beide betonen immer wieder, dass der | |
bewaffnete Kampf der einzige Weg sei, das Kastensystem in Indien zu | |
beseitigen. | |
Auf Feldwegen geht es in einem Kleinwagen zu einem Dorf indigener Gruppen | |
im Distrikt Warangal, einer der letzten Bastionen der Naxaliten in Andhra | |
Pradesh. Auf der Rückbank sitzt Symala Gogu. Vier Jahre lang war die kleine | |
Frau Untergrundkämpferin der Maoisten, fast zwei Jahre saß sie im | |
Gefängnis. "Die Naxaliten geben zwar vor, für die Rechte der Dalits und | |
Adivasis zu kämpfen, aber auch dort sind alle Führungspositionen von | |
Brahmanen besetzt." Die Brahmanen bilden die früher bestimmende | |
Priesterkaste. | |
Heute ist die agile Vierzigjährige in mehreren NGOs für Dalitrechte aktiv. | |
Den Naxaliten steht sie ambivalent gegenüber. Während der Fahrt berichtet | |
sie über die militärische Struktur der Naxaliten und den Kadavergehorsam in | |
der Truppe. "Die Brahmanen entwickeln die Strategie, und die Dalits | |
riskieren ihr Leben. Fast alle unsere Märtyrer sind Dalits." Doch bei aller | |
Kritik spricht Symala Gogu immer noch von "wir", wenn es um die Guerilla | |
geht, der sie vor fast 20 Jahren den Rücken zukehrte. | |
Der Wagen hält am Rande einer kleinen Adivasi-Siedlung aus Lehmhütten. Wie | |
denken die Dorfbewohner über die Guerilla? Offen will hier keiner reden. | |
Erst vor wenigen Monaten wurde ein Mitglied der Gemeinde erschossen. | |
Öffentlich exekutiert von den Naxaliten, die ihn als "einen Volksverräter, | |
der als Polizeiinformant gearbeitet hätte", verurteilt haben. Das berichtet | |
ein älterer Mann hinter vorgehaltener Hand. Und fügt hinzu: "Aber das | |
stimmt nicht, und alle wissen es. Er hat nur laut protestiert, als die | |
Maoisten uns wieder einmal Essen abnahmen." | |
In den Gemeinden, die provisorisch von den Naxaliten regiert werden, hat | |
sich wenig Grundlegendes geändert. Dass sich das Leben hier nicht gebessert | |
habe, sei dem Kriegszustand geschuldet, so die Standardbegründung der | |
Naxaliten. Das aber ist bestenfalls die Hälfte der Wahrheit. Wie viele | |
andere Kritiker aus der indischen Linken meint auch Gita Ramaswamy, dass es | |
den meisten Guerilleros heute nur noch um Macht ginge - der Anspruch, für | |
eine befreite Gesellschaft zu kämpfen, sei zu reiner Rhetorik verkommen. | |
Die 55-Jährige stammt aus einer Brahmanen-Familie, schloss sich aber schon | |
mit 17 Jahren der linksradikalen Bewegung an und ging wenig später in den | |
Untergrund. Zehn Jahre lang lebte sie illegal in Hyderabad, heute betreibt | |
Gita Ramaswamy einen linken Verlag in der Stadt und veröffentlicht selbst | |
immer wieder Bücher zu sozialen Themen, vor allem zu der Situation der | |
Dalits. Sie ist Vollzeitaktivistin geblieben, ein bürgerliches Leben, wie | |
es ihre vier Schwestern in den USA führen, ist für sie unvorstellbar. | |
Gleichzeitig weiß sie um ihre Position in der indischen Gesellschaft als | |
Brahmanin: "Auch ich behandle den Taxifahrer, den Teejungen oder den | |
Straßenfeger ganz anders als andere, höherkastige Menschen. Das ist leider | |
normal hier. Indien ist ein Feudalstaat." | |
Früher gab Gita Ramaswamy in der Guerilla eine Zeitschrift der Naxaliten | |
heraus. Sie organisierte den Aufbau mehrerer Vorfeldorganisationen und | |
managte die Aktivitäten des ranghöchsten Maoisten in Andhra Pradesh. "Ich | |
wäre für diesen Mann, für die Bewegung gestorben. Aber seine arrogante Art | |
brach mir das Herz." In perfektem Englisch berichtet die resolute Frau von | |
selbstherrlichen Brahmanen in den obersten Rängen der Maoisten. | |
Sie blickten auf das niedrigkastige Fußvolk herab und gönnten sich selbst | |
Luxusgüter, die den einfachen Guerilleros verwehrt werden. "Einige andere | |
Frauen und ich wollten das thematisieren. Aber es hieß immer: Das hier ist | |
ein bewaffneter Kampf, kein Debattierclub! Letztlich habe ich die Bewegung | |
verlassen, da es nicht möglich war, intern etwas zu verändern." | |
Mit solcher Kritik konfrontiert, flüchten sich die Naxaliten schnell in | |
Allgemeinplätze. Gaddar sieht die zunehmende Gewalt der Guerilla in den | |
Dörfern als Problem: "Wir sind in einem Krieg, und da müssen wir | |
revolutionäre Disziplin durchsetzen. Wenn wir die Macht ergriffen haben, | |
werden wir diese Vorfälle aufarbeiten." | |
Menschenrechtsgruppen werfen sowohl dem Staat wie auch den Maoisten massive | |
Menschenrechtsverletzungen vor. Die elenden Bedingungen der Armen in Indien | |
und deren Rechtfertigung durch das Kastensystem macht ein Aufbegehren | |
verständlich. Doch der sogenannte Volkskrieg verspricht keine bessere | |
Zukunft. Weder Worte noch Taten der Maoisten bieten Anlass zur Hoffnung. | |
Mit verstaubter Rhetorik, das Handeln in einer militärischen Logik | |
verfangen, manövrieren sich die Gruppen zunehmend ins politische Abseits. | |
Nicht mehr zeitgemäß | |
Auch Volkssänger Gaddar sieht Handlungsbedarf. "Wir nutzen zwar die neuen | |
technologischen Möglichkeiten, wir bloggen und sind im Internet aktiv. Aber | |
letztlich sind wir nicht mehr zeitgemäß." Wenige Tage nach dem Gespräch | |
entgeht Gaddar nur knapp der Verhaftung. Die Anklage: Polizistenmord. Doch | |
bereits nach zwei Wochen im Untergrund kann er zurück in sein altes Leben. | |
"Das Volk hat für mich demonstriert und die Feudalisten mussten den | |
Haftbefehl zurückziehen", berichtet Gaddar gut gelaunt am Telefon. | |
Tatsächlich gingen einige Tausende für Gaddar in Hyderabad auf die Straße. | |
Nicht mehr denkbar sind jedoch Massenkundgebungen wie 1990, als über | |
200.000 Menschen zu einem Auftritt Gaddars - und damit zu einer | |
Naxaliten-Veranstaltung - kamen. Nur die Poster in seinem Büro erinnern an | |
bessere Zeiten. Doch die sind vergilbt. Das Porträt Maos ist von einer | |
dicken Staubschicht bedeckt. | |
10 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
David Schwarz | |
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