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# taz.de -- Mach meine Mutter nicht an!
> HipHop am Scheideweg: „Hass“ von Mathieu Kassovitz zeigt die grausame
> Jugend der Pariser Vorstädte  ■ Von Harald Fricke
Der Einstieg hält alles zusammen. Während Jugendliche sich eine
Straßenschlacht mit der Polizei liefern und dabei ihre eigene
Hochhaussiedlung am Rande von Paris auseinandernehmen, singt Bob Marley.
Bei aller Gewalttätigkeit erinnert die Szene an Clips auf MTV, der
Reggae-Beat schleppt sich im Schnittempo dahin, die Scheiben zersplittern
in weichen Zeitlupen. Vermummte schieben sich schattenreich in
Großaufnahmen vor die Kamera und tauchen in der sich zurückziehenden Menge
ab. Kurz darauf füllen militärisch aufmarschierende Hundertschaften und
Panzerwagen die Leinwand, ohne das die Musik sich ändert. Ein all-over aus
Schlagstöcken und Molotowcocktails. Flackernd und grobkörnig wie
Amateurvideos, aber doch mit einem feinen Auge für den Bildaufbau gedreht,
endet die Schlacht mit dem Film-Still eines steineschmeissenden
Demonstranten. Dann erst wird ein Nachrichtensprecher eingeblendet, der die
Ereignisse in der Cité des Muguets kommentiert; und Marley hört auf zu
singen.
Ob die Krawalle nachgestellt sind oder ob der französische Filmemacher
Mathieu Kassovitz Dokumentarmaterial für die Ouvertüre von „Hass“ verwend…
hat, läßt sich kaum festmachen. Zu dicht bewegt sich die Kamera aus der
Perspektive der Rebellierenden am Geschehen entlang, als daß die Aufnahmen
aus dem Fernsehen stammen könnten. Zugleich würde kein Einsatzkommando vor
offener Kamera mit einer solchen Brutalität vorgehen wie zu Beginn von
„Hass“. Doch als der Film auf Initiative des französischen Premiers Alain
Juppé in einer Sondervorstellung vor dem Kabinett und Vertretern der
Polizei lief, war man auch dort begeistert: „Dieser Film ist ein
wunderbares Beispiel für das Kino als eine Kunstform, die uns auf gewisse
Realitäten aufmerksam machen kann“, so ein Sprecher der Polizei.
Tatsächlich geht „Hass“ auf eine wahre Begebenheit zurück. 1992 wurde der
achtzehnjährige Makomé während eines Verhörs in einem Pariser Polizeirevier
von einem Sicherheitsbeamten durch Kopfschuß getötet. Im Film liegt ein
Maghreb-Franzose names Abdel nach den Ausschreitungen im Koma. Wie in einer
griechischen Tragödie hängt alles weitere Schicksal davon ab, ob er
überlebt. Was wird passieren, wenn der Junge stirbt? Vermutlich noch eine
Straßenschlacht mehr, oder wie Kassovitz den Teufelskreis in einem
Interview beschreibt: „Die Jugendlichen gehen auf die Bullen los, die auf
die Jugendlichen losgehen, die auf die Bullen losgehen ...“
Kassovitz hat sich anders entschieden: „Hass“ beobachtet, wie drei dieser
Kids 24 Stunden lang durch Polizeistuben, Abrißbuden, Bars,
Kunstvernissagen und Vorstadtzüge irren, während sie darüber grübeln, wann
und wie Gewalt legitim ist. Mal diskutieren sie aufgebracht, dann schweigen
sie sich wütend an oder albern zugeraucht auf ihrem Weg durch Paris herum.
Keiner von ihnen hat eine Lösung, das Trio dient mehr als Allegorie auf die
sozialen Mißstände. Der Schwarze Hubert ist Pazifist und würde doch gerne
als Boxer Karriere machen; Said schwankt zwischen Islam und Straßendeals,
und Vinz gibt einen verhärmten jüdischen Jugendlichen ab, der glaubt, daß
man sich im Ghetto der Suburbs nur „mit Haß über Wasser halten kann“ – …
klingt verdächtig nach dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Pikanterweise besitzt er eine gestohlene 44er Smith & Wesson, benutzen aber
wird sie schließlich Hubert – um den Tod von Vinz zu rächen.
Was immer hier an multikulturellen Klischees von der Randgruppe
herbeikonstruiert wurde, die drei Schauspieler ergänzen sich zu einem prima
Team. Joints werden geteilt, jeder Streit löst sich in zärtliche Umarmungen
auf. HipHop als Roadmovie. Dennoch bleibt der Druck spürbar, unter dem sich
die Wut über die eigene Hilflosigkeit bis zum zufällig eingefädelten
Showdown um sechs Uhr morgens staut. Bei allem bekifften Gekicher und dem
üblichen Blödsinn, den Jugendliche machen (minutenlang gackern sich die
drei wie Marx-Brothers in einem geklauten Auto an, weil keiner einen
Führerschein besitzt), sucht Kassovitz nach einem Rest Psychologie, der
sich unter der tristen Ödnis verbirgt. Anstelle monoton ablaufender Gewalt
will er den Knacks zeigen, der aus Durchschnitts-Losern Täter macht. So
sieht man etwa Vinz immer wieder De Niros Amoklauf aus „Taxi Driver“ vor
dem Spiegel üben, bis er einem Skinhead seine Kanone an die Schläfe drückt.
Statt wie sein Filmidol zu schießen, muß er sich übergeben.
Die Botschaft, daß bei aller Wut auf die Umstände mit Mord und Totschlag
nichts zu bewegen ist, unterscheidet den Film vom Gros der mißmutigen
Gen-X-Serienkiller-Moritaten, in denen der Triumph über das Opfer mit dem
Sieg des Individuums verwechselt wird. Aber das war schon Thema von „...
denn sie wissen nicht, was sie tun“. Faul ist an dieser Einsicht dagegen
die Art und Weise, wie Kassovitz das fiebrige Chaos im Hirn seiner
jugendlichen Delinquenten zum Rundumschlag gegen Spätkapitalismus,
Rechtsruck und Medien ausnutzt. Auf die Klagen eines aufgebrachten kleinen
Hi-Fi-Händlers, dessen Auto bei den Unruhen abgefackelt wurde, weiß Said
nur als Antwort: „Dein Wagen hat 50.000 Francs gekostet, ja und, was willst
du? Ist doch bloß Geld.“ Als ein Kamerateam die Jugendlichen nach den
Straßenschlachten befragen will, wird es mit Steinen vertrieben, weil „das
Fernsehen an allem schuld ist“. Überhaupt scheinen an jeder Ecke
Großbildschirme in Big-Brother-Manier herumzustehen. Doch auf die Paranoia
vor der kalten Technomoderne reagiert der Film lediglich, indem er mit
Tradition und Familie liebäugelt. Die Jungs träumen von Sexorgien und
achten doch penibel auf die Ehre der kleinen Schwestern. Nicht
„Motherfucker“ ist mehr die gängige Floskel des Rap-Slang, sondern ein
empörtes „So redest du nicht über meine Mutter!“. Selbst HipHop wird kaum
mehr als Möglichkeit wahrgenommen, das System spielerisch zu unterwandern,
sondern dient zum Leitbild für eine bessere Ordnung von unten. Unter dem
Beat, den ein DJ aus dem Fenster dröhnen läßt, ordnet sich die
Hochhaussiedlung wie ein wohl angelegter Freizeitpark, über den die Kamera
hinwegschwebt. Zielstrebig werden auch in „Hass“ nur Rollen verteilt, darin
ist er frühen Spike- Lee-Filmen wie „Do the Right Thing“ ähnlich.
Ebenfalls allzu durchschaubar fügt Kassovitz in die zumal deprimierendsten
Passagen pädagogische Leitmodelle ein, als wollte er street-credibility und
Bildungsroman vermischen. Plötzlich steht beim Streit auf einer
öffentlichen Toilette ein älterer Herr mitten im Geschehen und erzählt
seine Geschichte von der Judendeportation in Rußland: Während einer
Betriebspause durften alle Juden den Transportzug verlassen, um zu
scheißen. Ein Mann, dem das gemeinsame Geschäft unangenehm war, verzog sich
weit abseits ins Gestrüpp. Als der Zug wieder anfuhr, konnte er nicht mehr
rechtzeitig aufspringen. Immer wenn ihm jemand die Hand reichte, rutschte
seine Hose herunter und er mußte sie wieder festhalten. Schließlich fuhr
der Zug ohne ihn davon, und der Häftling erfror im tiefen Schnee.
Kassovitz, selbst Enkel von KZ-Überlebenden, nennt diese Herangehensweise
„einen gewissen toughen jüdischen Humor“, mit dem sich das Elend der
eigenen Existenz in Geschichten auflösen läßt: Solange man noch in Frieden
miteinander aufs Klo gehen kann, besteht kein Grund zur Besorgnis.
Der Film ist nur Teil eines übergreifenden „La Haine“-Projekts. Zeitgleich
zum französischen Start wurde im Sommer eine CD veröffentlicht, auf der
diverse Rap- Crews ihre Version der Story darlegen sollten. Außerdem
veranstaltet das Maison de la Villette eine Ausstellung, in der die Misere
der Vorstädte dokumentiert wird. Das diskursive Umfeld ist offensichtlich
gut versorgt: Als hätte Jugend immer erst als Bild für gesellschaftliche
Mißstände Existenzberechtigung, wurde „Hass“ mit der Goldenen Palme für …
beste Regie ausgezeichnet – ein versöhnendes Symbol gegen die zunehmende
Entfremdung im eigenen Land. Die Jugendlichen, von denen „Hass“ handelt –
sämtliche Nebenrollen sind mit Laiendarstellern vor Ort besetzt –, ist in
den Suburbs rund um Paris aufgewachsen, gemischtrassig und ohne
Schulabschluß. Mathieu Kassovitz gehört jedoch nicht dazu: Der 28 Jahre
alte Regisseur stammt aus einer Familie von Filmemachern und liebt HipHop
oder Basketball ebenso wie Jean-Luc Godard. Sein Debütfilm 1991 spielte mit
dem Vorbild „Fierrot le Pou“. Mitunter merkt man seine Liebe zur Nouvelle
vague, etwa wenn Said, Vinz und Hubert auf einer Vernissage zwischen
Kunstwerken herumtollen und mit Mädchen flirten, bis sich das Ganze in
einem politischen Manifest entlädt. Schnell, unvermittelt und ziellos, wie
der Straßenkampf am Anfang. Dazwischen werden zu viele Probleme auf die
gleiche Weise nicht gelöst.
„Hass – La Haine“. Von Mathieu Kassovitz. Mit Vincent Cassel, Hubert
Koundé, Said Taghmaoui Frankreich 1995, 95 min.
26 Oct 1995
## AUTOREN
Harald Fricke
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