# taz.de -- Leistung lohnt sich nicht | |
> Anfang März erscheinen neue Pisa-Resultate in Form eines detaillierten | |
> Bundesländervergleichs. Einen Reim kann man sich heute schon auf die | |
> Schule machen: Sie bevorzugt Kinder von Privilegierten und versperrt | |
> Aufsteigern den Weg ins Gymnasium | |
von SYLKE VIOLA SCHNEPF | |
Ein Jahr nach Pisa, der so viel diskutierten internationalen | |
Bildungsstudie, ist in Deutschland ein schlechter Nachgeschmack verblieben. | |
Die Medienwelt polemisiert die von Pisa aufgedeckte deutsche Leseschwäche | |
mit Detailergebnissen einzelner Studien. Die Fachwelt dagegen versucht, | |
sich ein Gesamtbild zu machen. | |
Im momentanen Boom von unterschiedlichen internationalen Bildungsstudien | |
gewinnt der Vergleich der komplexen statistischen Methoden, der | |
Aussagekraft und Ergebnisse der unterschiedlichen Schülerstudien an | |
Gewicht. Ein erster ambitionierter Versuch hierzu ist die Unicef-Studie "A | |
League Table of Educational Disadvantage in Rich Nations", die | |
unterschiedliche Bildungsstudien unter einen Hut bringt. | |
Die Untersuchung scheint zunächst nur das altbekannte Lied zu wiederholen: | |
Das deutsche Bildungssystem erhält eine weitere schlechte Note. Unicef geht | |
es jedoch um die Fairness von Bildungssystemen - also das fundamentale | |
politische Ziel der Chancengleichheit. Die Benachteiligung von Schülern | |
wird dabei sowohl durch einen absoluten internationalen Maßstab als auch | |
durch einen Vergleich relativer Bildungsunterschiede innerhalb der Länder | |
gemessen. Der absolute Maßstab deckt auf, dass ein Fünftel der deutschen | |
15-Jährigen elementare Leseaufgaben nicht lösen kann, während in Ländern | |
wie Korea und Finnland "nur" sieben Prozent der Schüler an solch | |
alltäglichen Problemen scheitern. Wenn man den Anteil der Schüler mittelt, | |
die (gemessen an der Mathematikstudie Timss und Pisa) das Bildungssystem in | |
den Fächern Mathematik, Physik und Lesen nicht ausreichend vorbereitet hat, | |
zeigt sich: 18 von 24 Ländern sind erfolgreicher als Deutschland, den | |
Anteil von Risikoschülern niedrig zu halten. | |
Deutschland rückt sogar noch weiter ins Abseits, wenn man die relativen | |
Bildungsungleichheiten betrachtet. Unterschiede zwischen durchschnittlichen | |
und den leistungsschwächsten fünf Prozent der Schüler sind in Finnland, | |
Spanien und Portugal vergleichsweise am geringsten. Deutschland, Neuseeland | |
und Belgien bilden das Schlusslicht. Was heißt das in Schuljahren | |
ausgedrückt? Basierend auf Timss-Ergebnissen müssen deutsche | |
leistungsschwache Achtklässler fünf Schuljahre aufholen, um an das | |
Durchschnittsniveau ihrer Mitschüler heranzureichen. Das heißt: Die Lücke, | |
die in Deutschland zwischen schwachen und durchschnittlichen Schülern | |
klafft, ist größer als in fast allen anderen Industrienationen. | |
Natürlich kann man argumentieren, dass eine gewisse Ungleichheit von | |
Schülerleistungen gut und notwendig ist, damit gute Schüler gefördert | |
werden und weniger leistungsstarke Schüler keinem zu großen Leistungsdruck | |
ausgesetzt werden. Allerdings zeigen die Ergebnisse der Unicef-Studie, dass | |
diese weit verbreitete These im internationalen Vergleich nicht haltbar | |
ist: Gute Schülerleistungen müssen nicht auf Kosten der Benachteiligung | |
schwächerer Schüler erreicht werden. Im Gegenteil, Länder wie Finnland, | |
Korea und Kanada schaffen es, gute und leistungsschwache Schüler gemeinsam | |
zu fördern - und dennoch internationale Spitzenleistungen hervorzubringen. | |
Die beträchtliche Bildungsungleichheit in Deutschland kann man also kaum | |
mit einem "naturgegebenen" unterschiedlichen Leistungspotenzial von | |
Schülern rechtfertigen. Vielmehr lassen die Ergebnisse den Schluss zu, dass | |
die äußerst geringen Chancen deutscher leistungsschwacher Schüler, einen | |
Mindeststandard an Bildung zu erlangen, ein wesentlicher Grund für das | |
schlechte Abschneiden Deutschlands in internationalen Bildungstests ist. | |
Die Zuwanderer sind nicht das Problem | |
Ein anderes Thema ist das Problem der Integration ausländischer Schüler. Im | |
Jahr 2000 waren mehr als 15 Prozent der 15-jährigen Schüler in Deutschland | |
ausländischer Herkunft. Dieser sehr hohe Zuwandereranteil wird nur von | |
Neuseeland, der Schweiz, Kanada und Australien übertroffen. Die Unicef- | |
Studie macht deutlich, dass, auch wenn alle an Pisa partizipierenden Länder | |
den gleichen Ausländeranteil an Schülern hätten, sich das Ranking der | |
Länder nach Chancenungleichheiten des Bildungssystems nur unwesentlich | |
verändern würde. Es ist also nicht der hohe ausländische Schüleranteil im | |
deutschen Schulsystem, der zu den großen Bildungsungleichheiten führt. Auch | |
die Bildungsausgaben, die Einkommensungleichheit oder das | |
Lehrer-Schüler-Verhältnis können laut Report die Unterschiede in der | |
Chancengleichheit nicht erklären. | |
Ein wesentliches Ergebnis ist, dass für alle Industrienationen ein klarer | |
Zusammenhang zwischen dem Schulerfolg der Kinder und dem sozialen und | |
wirtschaftlichen Status sowie dem Bildungsniveau der Eltern besteht: Je | |
niedriger der Status der Eltern, desto schlechter sind die schulischen | |
Leistungen ihrer Kinder. Diese Reproduktion von Bildungsungleichheiten ist | |
in Finnland, Irland und Polen noch am geringsten ausgeprägt. In diesen | |
Ländern haben Kinder aus weniger gebildetem Elternhaus im Vergleich zu | |
Kindern mit höherem Bildungshintergrund ein 1,4faches größeres Risiko, im | |
schlechtesten Viertel zu landen. Besonders groß ist jedoch der Einfluss des | |
Elternhauses in den im Ranking ganz unten liegenden Ländern Deutschland und | |
Mexiko. Hier haben Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsstand im | |
Vergleich zu ihren Altersgenossen aus "besserer" Familie eine drei- bis | |
viermal höhere Wahrscheinlichkeit, nur einen unterdurchschnittlichen | |
Schulerfolg zu erzielen. | |
Eine weitere Unicef-Studie (A Sorting Hat that Fails? The Transition from | |
Primary to Secondary School in Germany) demonstriert, dass beim Übergang | |
von der Grundschule in die Hauptschule, Realschule und das Gymnasium in | |
Deutschland keinesfalls das Prinzip der Chancengleichheit vorherrscht. Die | |
Bildungsbenachteiligung ist vor allem nach der Auslese von Grundschülern in | |
verschiedene Schulen hoch: Ungefähr 40 Prozent der Achtklässler in der | |
Realschule und 8 Prozent der Hauptschüler erbringen bessere | |
Mathematikleistungen als das schlechteste Viertel der Gymnasiasten. | |
Interessant ist, dass diese Haupt- und Realschüler, die ihren | |
Mathematikleistungen gemäß besser im Gymnasium aufgehoben wären, aus | |
bildungsferneren Familien kommen. Aus einer Studie an Hamburger Schulen | |
geht hervor, dass sozial schwächere Schüler bessere Leistungen als ihre | |
Mitschüler erbringen müssen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu | |
erhalten. | |
Aber auch Eltern mit verschiedenen Bildungsniveaus treffen unterschiedliche | |
Entscheidungen für die Schulausbildung ihrer Kinder. Eine Studie aus | |
Rheinland-Pfalz zeigt, dass nur 10 Prozent der Eltern mit Abitur ihre für | |
das Gymnasium empfohlenen Kinder nicht auf das Gymnasium schicken, jedoch | |
entscheiden sich ganze 30 Prozent der Eltern mit Hauptschulabschluss gegen | |
die Gymnasiumempfehlung ihres Kindes. | |
Ernüchterndes Ergebnis: Leistung zählt nicht | |
Ob es nun wesentlich das Elternverhalten oder das Bildungssystem an sich | |
ist, die Chancenungleichheiten bewirken - das Endergebnis ist erschreckend: | |
Bei gleicher Leistung haben Kinder aus gut gebildetem Elternhaus eine 30 | |
Prozent höhere Chance, aufs Gymnasiums zu gehen, als ihre ebenso begabten | |
Mitschüler, die einem schwächeren Sozialstatus entstammen. | |
Die Aussage, dass das Gymnasium für die leistungsstärksten Schüler bestimmt | |
ist, wird damit in der Praxis teilweise widerlegt. Denn das Gymnasium | |
sammelt offensichtlich zusätzlich auch Kinder aus gut gebildetem | |
Elternhaus. Allerdings unterscheiden sich Zuwandererkinder nicht von | |
deutschen Kindern in ihrer Chance, das Gymnasium zu besuchen, wenn sie | |
gleiche Leistungen zeigen. Jedoch findet man heute als Mädchen eine | |
leichtere Aufnahme ins Gymnasium, auch wenn ein Mitschüler gleiche | |
Schulleistungen zeigt. Und auf dem Land zu leben bedeutet gleichsam, nicht | |
dümmer als in der Stadt zu sein, aber eben doch einiges mehr an Glück zu | |
brauchen, um die gymnasiale Schulbank zu drücken. | |
Ja, aber, könnte man denken, begabte Kinder haben doch die Möglichkeit, | |
auch nach dem Übergang in die Sekundarschule in eine "bessere" Schulform zu | |
wechseln. Dazu gibt es theoretisch in allen Bundesländern die Möglichkeit. | |
Jedoch schaffen laut Pisa nur etwa sechs Prozent von 15-Jährigen während | |
ihrer fünfjährigen Sekundarschulzeit den Sprung in eine prestigehöhere | |
Schulform. Der Abwärtstrend ist mit elf Prozent um einiges größer. Damit | |
ist die so oft gepredigte Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen | |
Schulformen offensichtlich in der Praxis nicht gegeben. | |
Folglich wird Chancenungleicheit während der Sekundarschulzeit noch | |
konserviert: Unfaire Auswahlentscheidungen, die benachteiligte Schüler | |
während des Übergangs zur Sekundarschule erfahren haben, sind für sie so | |
gut wie nicht mehr korrigierbar. Und das hat Auswirkungen für | |
Zukunftschancen. Im Durchschnitt verdient ein Mann mit Abitur 54 Prozent | |
mehr als ein ehemaliger Hauptschüler und 32 Prozent mehr als ein ehemaliger | |
Realschüler gleichen Alters. Und natürlich sind die beruflichen | |
Möglichkeiten und damit persönlichen Entwicklungspotenziale, die einem | |
Gymnasiasten offen stehen, viel größer als die eines Haupt- oder | |
Realschülers. | |
Ist die Gesamtschule | |
die Lösung? | |
Wenn die Auslese von Grundschülern in das dreigliedrige Schulsystem zu | |
Ungleichheiten führt, sollte man dann nicht gleich nur noch für die | |
Gesamtschule plädieren? Eher nein. Die Leistungstests zeigen für | |
Deutschland übereinstimmend, dass Schüler deutscher Gesamtschulen nur | |
marginal bessere Leistungen erzielen als Hauptschüler. Förderung im | |
Gymnasium scheint hingegen grundsätzlich zu funktionieren. Die Leistungen | |
deutscher Gymnasiasten lassen sich mit denen der besseren Länder messen - | |
auch wenn die Anzahl unserer Spitzenschüler als gering zu bewerten ist. | |
Erfolg versprechender erscheint es daher, Chancengleichheit durch | |
verschiedene Mechanismen herzustellen. Chancenungleichheiten entstehen sehr | |
früh. Benachteiligte Kinder brauchen daher schon im Kindergarten und in der | |
Vorschule eine spezielle, auf sie abgestimmte Förderung. Zudem werden | |
Kinder in Deutschland schon im Alter von zehn Jahren "sortiert", was nach | |
internationalem Maßstab sehr früh ist und den stark variierenden | |
Entwicklungsphasen von Kindern nicht gerecht wird. Selbst wenn es | |
theoretisch eine Durchlässigkeit des Bildungssystems gibt, müsste man die | |
praktische Durchlässigkeit der Schulformen beträchtlich vergrößern, um | |
Ungleichheiten auszubügeln. | |
Die Unicef-Studien sind kostenlos zum Downloaden erhältlich unter | |
[1][www.unicef-icdc.org/publications/] | |
19 Feb 2003 | |
## LINKS | |
[1] http://www.unicef-icdc.org/publications/ | |
## AUTOREN | |
Sylke Viola Schnepf | |
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