# taz.de -- Kurz vor dem Kollaps | |
> SOZIALARBEIT Dienstleistungen müssen sich rechnen. Die Branche ist im | |
> Umbruch. Das trifft unter anderem Projekte für Alkoholiker | |
VON MANUELA HEIM (TEXT) UND KARSTEN THIELKER (FOTOS) | |
Über den Konflikt will keiner reden. Zu viel Unerfreuliches war in den | |
vergangenen Monaten in den Zeitungen zu lesen. Negativschlagzeilen über das | |
Vorzeigewohnheim in der Kreuzberger Nostizstraße, in dem obdachlose | |
Alkoholiker eine letzte Heimat finden und das zur renommierten | |
Heilig-Kreuz-Passions-Gemeinde gehört. So soll ein profitorientierter | |
Pfarrer die alte Führung rausgeschmissen haben. Nichts mehr da vom | |
Idealismus, klagt der ehemalige Wohnheimleiter und Mitbegründer des | |
Projekts, der in der Anfangszeit noch mit den Bewohnern im Haus schlief. | |
„Damit immer jemand da war“, sagt er später. Heute ginge es nur noch um | |
Defizite und Vollbelegung, um Senkung der Personalkosten und Rentabilität. | |
Es ist ein Gespenst, das seit 25 Jahren in der Sozialbranche umgeht: Das | |
Gespenst der Ökonomisierung. Anfang der 90er unter dem Schlagwort | |
„Sozialmanagement“ eingeführt, beherrschen inzwischen | |
betriebswirtschaftliche Gedanken und Begriffe die Welt der Hilfsprojekte | |
für Alte, Arme, Behinderte, Süchtige und Straffällige. | |
Häufig im Geiste der Achtundsechziger gegründet, bezeichnen sich die | |
Einrichtungen heute selbst als „moderne soziale Dienstleister“ und fallen | |
ein in den Sprech der Controller, abrechnenden Behörden, Kosten- und | |
Leistungsrechner. „Wer als Unternehmer bezeichnet wird, verhält sich auch | |
so“, sagt Mechthild Seithe, Verfasserin des „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ | |
und schärfste Kritikerin des Wirtschaftlichkeitstrends, der taz. Eine | |
Entwicklung, die auch vor den kirchlichen Betreibern sozialer Projekte | |
nicht Halt macht, bestätigt Hannes Wolf, Vorsitzender vom Berliner | |
Landesverband des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH). | |
Dabei, auch das sagen die KritikerInnen, könnte die Qualität sozialer | |
Arbeit heute so gut sein wie nie zuvor. | |
## Ein „nasses“ Wohnprojekt | |
Im Wohnprojekt Nostizstraße für alkoholkranke Männer, kurz nach 10 Uhr | |
morgens: Unten im Eingangsbereich sitzen ein paar der Bewohner um einen | |
Tisch, bei Bierchen und Kippen. Zwischen 6 und 10 Uhr darf in den | |
Gemeinschaftsräumen nicht getrunken werden – Schnaps sowieso nur auf dem | |
Zimmer. Später gibt es im Speisesaal Schweinebraten mit Rotkohl; nach dem | |
Essen wird das Taschengeld verteilt. Eine Handvoll Männer macht sich dann | |
auf den Weg, wie jeden Tag. Im typisch ungleichmäßigen Gang der | |
Langzeit-Alkoholiker watscheln sie nach nebenan zur Tankstelle. Die hat, so | |
erzählt ein Mitarbeiter, schon in den Anfangsjahren des Projekts – damals | |
in den Neunzigern –, ihr Alkoholsortiment um Billigmarken erweitert. | |
Im Wohnheim leben 46 Männer zwischen 37 und 77 Jahren. 44 von ihnen sind | |
nasse Alkoholiker. Die meisten trinken täglich – und den ganzen Tag, außer | |
wenn sie schlafen. Und geschlafen wird wenig am Stück in einem | |
Alkoholikerleben. Der typische Nostizstraßenbewohner ist älter als 50, hat | |
lange auf der Straße gewohnt und diverse Begleiterkrankungen wie Abszesse | |
oder Ekzeme. | |
Das Wohnprojekt Nostizstraße wurde 1998 von einem Pfarrer und einem | |
Sozialarbeiter als letzte Heimat für die gegründet, die sonst ungesehen in | |
U-Bahn-Schächten und auf Friedhöfen verrecken. Im vergangenen Jahr starben | |
in dem Wohnprojekt vier Männer, zwei wurden wegen Gewaltbereitschaft | |
rausgeschmissen – ansonsten gibt es kaum Gründe, das Haus wieder zu | |
verlassen. Trocken wird hier so gut wie keiner mehr. | |
Joachim Ritzkowsky hieß der Pfarrer, der die Idee zu diesem deutschlandweit | |
einzigartigen sozialen Projekt hatte. Ein feiner Mann mit weißem Bart, von | |
dessen Charisma sie hier alle auch elf Jahre nach seinem Tod noch | |
schwärmen. Damals an seiner Seite: Sozialarbeiter Werner Neske, lange Zeit | |
der einzige Festangestellte im Projekt, engagierter Spätachtundsechziger | |
ohne Bezug zur Kirche. | |
## Ein einzigartiges Projekt | |
Am Anfang mussten sie die Obdachlosen davon überzeugen, ins Haus zu kommen, | |
in Betten zu schlafen, sich medizinisch versorgen zu lassen. Um die 20 | |
Männer waren es, die hier einfach sein durften, ohne etwas leisten zu | |
müssen, ohne abstinent sein zu müssen wie in den anderen Suchtprojekten. | |
Die meisten der MitarbeiterInnen, die in den Anfangsjahren zu dem Projekt | |
stießen, sind noch immer dabei, inzwischen fest angestellt. Um die | |
mittlerweile knapp 50 Männer kümmern sich acht Menschen: Sozialarbeiter, | |
Reinigungskräfte, Hausmeisterin, Bürokraft, dazu einige Nachtwachen als | |
Honorarkräfte. Pro Tag zahlt der Bezirk dem Projekt 37 Euro für das belegte | |
Einzelzimmer und 32 Euro für belegte Betten in den drei Doppelzimmern. | |
Sachspenden wie Matratzen kommen von einem großen Berliner Hotel. | |
„Als ich hier anfing, sollte ich gleich erst mal den Haushalt aufstellen“, | |
sagt Ulrich Davids, der sich selbst nur Uli nennt. Seit einem Jahr leitet | |
er das Projekt, davor war er 25 Jahre lang Sozialarbeiter im Jugendbereich | |
und zuletzt Politiker in Mitte. Im Dezember 2013 hatte er den Posten als | |
Stadtrat für Jugend und Schule hingeschmissen, weil er nicht mehr der | |
„Sparonkel“ sein wollte. „Die Anforderungen an die Professionalität waren | |
enorm, die Sparzwänge aber noch viel größer“, sagt Davids. | |
Dann kam die neue Herausforderung für den 57-Jährigen: die Arbeit mit alten | |
Alkoholikern statt mit Jugendlichen, in einem Projekt, das durch | |
Haushaltsdefizite und Führungslosigkeit Schlagseite bekommen hatte. Die | |
Vorstellungen von Gemeindeleitung und alter Führung hätten nicht mehr | |
zueinander gepasst, so hatte der zuständige Pfarrer vor einem knappen Jahr | |
gegenüber der taz die drastischen Personalmaßnahmen gerechtfertigt, bei | |
denen es Abmahnungen, Hausverbote und viele böse Worte gehagelt hatte. | |
Nun sollte es also einen Neuanfang geben, auch wirtschaftlich. „Ich habe | |
gedacht, hier ist die Zeit stehen geblieben“, erinnert sich Davids an | |
seinen ersten Besuch im Haus. Die Konzeption sei noch aus den Neunzigern | |
gewesen. „Genau so hätte ich es damals auch gemacht“, sagt Davids, der | |
selbst vor vielen Jahren in seiner damaligen Heimat Salzgitter mit viel | |
Enthusiasmus, unbeschwert und ohne Ahnung von Verwaltung einen Hort | |
gründete. Heute gebe es deutlich mehr Verwaltungsaufwand, aber eben auch | |
mehr Kontrolle der Projekte, die mit Menschen arbeiten und mit öffentlichen | |
Geldern umgehen. „Das ist erst mal gut“, sagt Davids. | |
Im Jahr seit seinem Antritt habe es Veränderungen geben müssen, in den | |
Arbeitsplatzbeschreibungen, im fachlichen Austausch mit bezirklichen | |
Arbeitsgemeinschaften, an den Hygienestandards, in der Weiterbildung. „Die | |
vier Sozialarbeiter haben die vergangenen zehn Jahre keine einzige | |
Fortbildung gemacht“, sagt Davids. Das durch die Haussanierung entstandene | |
Defizit bestehe immer noch, aber inzwischen sorge rasche Wiederbelegung für | |
Umsatzsteigerung. „Wenn einer stirbt, zieht zwei bis drei Tage später ein | |
neuer Bewohner ein“, so Davids. Die Nachfrage nach Plätzen in dem Wohnheim | |
ist enorm. | |
## Soziales wird ökonomisiert | |
Hannes Wolf ist Vorsitzender im Berliner Landesverband des Deutschen | |
Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH). Die Ökonomisierung der sozialen | |
Arbeit habe auch positiven Einfluss auf die Professionalität gehabt: durch | |
das Schaffen von Qualitätsstandards und Wirksamkeitsmessung (siehe dazu | |
Interview auf Seite 45). Vor allem in den vergangenen 10 bis 15 Jahren habe | |
sie aber zu einem grundsätzlichem Strukturwandel geführt: Wo früher die | |
Stadt selbst zuständig war, gebe es immer mehr freie Träger. | |
So sind etwa im Suchthilfebereich rund 90 Prozent der Einrichtungen in | |
Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege oder anderer gemeinnütziger | |
Träger. Und die müssten eben vor allem um ihre eigene Existenz statt um die | |
optimale Bearbeitung sozialer Probleme kämpfen, so Wolf. Bei 90 Prozent | |
Personalkosten im Sozialbereich geschehe das vor allem über | |
Arbeitsbedingungen und Entlohnung. „Die Logik des Marktes ist hier nur | |
begrenzt anwendbar“, sagt Wolf. Im Bereich der sozialen Arbeit führe sie | |
inzwischen zu einer Deprofessionalisierung. | |
Diese Tendenz betreffe alle Bereiche sozialer Arbeit, aber der Prozess sei | |
unterschiedlich weit fortgeschritten – abhängig von den Kosten, die ein | |
Bereich verursacht, und vom volkswirtschaftlichen Nutzen der „Klienten“. So | |
stehe etwa die Kinder- und Jugendhilfe viel stärker im Fokus | |
betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnung als die Arbeit mit | |
Behinderten, Drogensüchtigen oder Menschen ohne festen Wohnsitz. | |
## Schweinebraten zu Mittag | |
In der Nostizstraße steht Jürgen* mit Gehwagen im zweiten Stock. Heute ist | |
der Fahrstuhl defekt. Seit der Sanierung passiert das selten, das alte | |
Modell aus den Sechzigern machte dagegen regelmäßig schlapp. „Soll ich dir | |
das Essen hochbringen lassen?“, fragt Wohnheimleiter Davids den alten Mann. | |
„Wat jibt’s denn?“ „Schweinebraten“, entgegnet Davids. „Denn bring … | |
hoch“, sagt Jürgen, „danke Uli!“ | |
Ulrich Davids betreut neben seiner Leitungsfunktion selbst zwölf der | |
Bewohner als Sozialarbeiter, die Freiheit nimmt er sich. In seinem | |
Kellerbüro hängt ein Jackett, das er nur zu offiziellen Terminen überwirft. | |
„Der Uli ist ein Profi, der mitgestaltet“, sagt Wolfgang Gersdorff, einer | |
der Sozialarbeiter, die fast von Anfang an in dem Wohnheim arbeiten. Er | |
selbst sei damals einfach vorbeigekommen und habe mitgemacht. „Da hat | |
keiner groß nach der Qualifikation gefragt, wir haben einfach losgelegt.“ | |
Inzwischen seien er und das Projekt bei den Behörden etabliert – ein großer | |
Vorteil. Dass jetzt einer wie Ulrich Davids Leiter ist, „fachlich | |
hervorragend und gut vernetzt“, sei ein großes Glück. | |
Auch Marion war schon auf der Baustelle dabei, damals noch als Mädchen für | |
alles. Inzwischen ist sie fest angestellte Hausmeisterin. In den | |
Anfangsjahren habe es mehr Enthusiasmus gegeben, mehr Muße und Zeit, viel | |
Improvisation und Kreativität. Da saß man auch nach Feierabend noch mit dem | |
ein oder anderen Bewohner und eigenen Freunden, die vorbeischauten, | |
zusammen, „Da war Arbeit auch Leben“, sagt Marion. Heute sei alles | |
professioneller. „Das hat beides etwas.“ Mehr Struktur erleichtere auch | |
viel. „Ich bin ja selbst älter geworden.“ | |
Ganz oben im Wohnheim, unter dem Dach, wohnt Harald* in einem kleinen | |
Apartment. Mit 75 ist er einer der Ältesten hier, seit 2007 im Haus. Den | |
Schweinebraten hat er sich mit hochgenommen. Was sich verändert hat in den | |
den acht Jahren? „Sind einige gestorben“, sagt Harald, der auch hier | |
sterben will und dann ins Gemeinschaftsgrab, dass noch Pfarrer Ritzkowsky | |
für die Bewohner hatte anlegen lassen und in dem er selbst begraben liegt. | |
„Der Uli ist auch prima“, sagt Harald. | |
Das Wohnheim Nostizstraße ist noch immer ein Nischenprojekt, dessen | |
Bewohner niemand mehr zu „nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft“ | |
aktivieren will. Es kostet vergleichsweise wenig Geld, ist inzwischen in | |
ganz Berlin etabliert – PolitikerInnen schmücken sich gern damit. Ein Glück | |
für Bewohner und MitarbeiterInnen. Pläne, das Projekt an einen großen | |
kirchlichen Träger zu übertragen, sind erst einmal in die Ferne gerückt. | |
## Ein düsteres Bild | |
Im Kleinen versuchen SozialarbeiterInnen vieler Projekte noch, ihr Bestes | |
zu geben, sagt Mechthild Seithe. Die emeritierte Professorin hat 2010 mit | |
dem „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ die wohl schärfste Kritik an den | |
Arbeitsbedingungen und der Qualität der Sozialen Arbeit in Deutschland | |
vorgelegt. Dafür hat sie zahlreiche MitarbeiterInnen in öffentlichen und | |
privaten Einrichtungen befragt. | |
Das Bild, das sie zeichnet, ist düster. Die Aufgabe des | |
„Non-Profit“-Prinzips in einem neoliberalen Umfeld bedeute das Ende einer | |
auf die Menschen ausgerichteten Sozialarbeit. „Und immer wenn ich in die | |
Praxis schaue, ist es noch einen Schlag schlimmer, als ich erwartet habe“, | |
so Seithe. Ihre Bücher und Appelle schreibe sie inzwischen nur noch als | |
Orientierung für die wenigen kritischen Stimmen in der Branche. Aber | |
auflehnen sei ja nicht mehr „in“, auch an den Hochschulen werde inzwischen | |
für den Markt ausgebildet, und die, die im System steckten, merkten gar | |
nicht, wie sehr sie selbst die Schere im Kopf hätten. | |
Dass etwas gehörig schiefläuft, sei den allermeisten in der Branche schon | |
bewusst, sagt dagegen Hannes Wolf vom Berufsverband. So wie jetzt könne es | |
mit der Kosten-Leistungs-Rechnung im Sozialbereich nicht weitergehen. Nicht | |
für die MitarbeiterInnen, nicht für die Betreuten und nicht in einer | |
Gesellschaft, die solidarisch sein will. Lange Zeit erzeugte gerade die | |
Vereinzelung in den vielen kleinen Trägern Ohnmacht und Hilflosigkeit, so | |
Wolf. Aber seit einigen Jahren hätten sich etwa die Arbeitskreise für | |
Kritische Soziale Arbeit, eigentlich eine Idee der Achtundsechziger, | |
wiederbelebt. Seit 2012 engagierten sich auch BerufseinsteigerInnen und | |
StudentInnen gegen die prekären Arbeitsbedingungen. | |
„Das System muss kollabieren“, prophezeit Wolf und gibt sich | |
kämpferisch-optimistisch. Ökonomische Gesichtspunkte dürften die soziale | |
Arbeit durchaus beeinflussen, aber nicht länger deren Leitmotiv sein. Was | |
dann kommen könnte, da ist wiederum auch Mechthild Seithe, die seit 25 | |
Jahren nur Qualitätsverschlechterung sieht, optimistisch: „Mit all der | |
wissenschaftlichen Weiterentwicklung wäre ja theoretisch sogar eine bessere | |
Sozialarbeit als früher möglich.“ | |
* Name geändert | |
13 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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