# taz.de -- Kool Keith Konzert in Berlin: Ein Frauenarzt vom Jupiter | |
> "Ein guter Pullover kann einfach gestrickt sein": Rapper Retrogott und | |
> vor allem Kool Keith begeisterten beim Konzert in Berlin mit | |
> Rollenwechsel, Rhythmus und Reimereien. | |
Bild: Er fickt das System: Kool Keith in Concert 2009. | |
Es gibt keinen einflussreicheren Rapper als Kool Keith. Bereits 1988 hat er | |
mit seiner Crew Ultramagnetic MCs die Messlatte im HipHop für alle | |
Ewigkeiten astronomisch hochgehängt. | |
Wo Weggefährten stets auf die knallharte Abbildung der Ghettorealität | |
setzen, bewegt sich Kool Keith von Beginn an eskapistisch zwischen den | |
freudschen Bewusstseinsetagen von Ich, Über-Ich und Unterbewusstsein. Und | |
reist angstfrei durch die Geschwindigkeit seiner Gedanken: "Travelling at | |
the speed of thought", noch heute ungeschlagen in seiner Comic-Anmutung, | |
ist ein Rap-Track, der sich frei und virtuos allein mit der Kraft der | |
Sprache aus der Hölle der South Bronx herausmanövriert. | |
Die Ultramagnetic MCs wurden nie zu Stars der Generation MTV und lösten | |
sich schließlich Mitte der neunziger Jahre in Wohlgefallen auf. Kool Keith | |
begann von nun an in schicksalsbedingter Narrenfreiheit verrückte | |
Bühnenfiguren zu entwickeln. Seine berühmteste ist die Figur des Dr. | |
Octagon, ein Frauenarzt vom Planeten Jupiter. | |
Das Debütalbum von Dr. Octagon aus dem Jahre 1996 gehört zu den | |
visionärsten HipHop-Alben der Neunziger. Auch am Mittwochabend im gut | |
gefüllten Festsaal Kreuzberg ist man vollkommen überwältigt, wie etabliert, | |
ja wie kultiviert etwa der schizopathische HipHop-Gruseltrack "Blue | |
Flowers" mit Dr. Octagon als irrem Gynäkologen am Mikrofon funktioniert. | |
Welt und Wetter werden immer verrückter - keine Frage. An diesem Abend | |
schlüpft der selbsternannte "God of Rap - Lord of Music" in seinen | |
multiplen Persönlichkeitsraps von Rolle zu Rolle, vom Schwarzen Elvis zu | |
Dr. Doom und vom irdischen "Sex Style" hin zum notgeilen Astronautenrap. In | |
"G-Spot", einem dem Gräfenberg-Punkt gewidmeten Freistilrap, erzählt er | |
detailgenau von Sex mit einer deutschen Frau, die im flotten Dreier mit | |
seinem DJ endet. Der afroamerikanische HipHop-Humor, der seine | |
Unabhängigkeit vom weißen Rockpop-Establishment gerne durch | |
radiountauglichen, extra schmutzigen Sexismus zum Ausdruck bringt, | |
entfaltet sich an diesem Abend bei den Berliner Homies, Ladies und Bitches | |
vollends: Kool Keith fickt unser System! | |
Am Ende der Show sieht man den fast 50 Jahre alten Rapper mit seinem | |
Glitzerkopftuch umgeben von jungen Frauen, die auf die Bühne gebeten | |
werden. Eine blondierte Frau im roten Dress wünscht sich sehnlichst das | |
Stage-Diving, und das Publikum erfüllt ihr diesen Wunsch, während die | |
frisch gebackenen Tänzerinnen begeistert ihre Hintern über die Bühne | |
schwingen. Trotz aller expliziten Sexdarstellungen in den Raps liegt in | |
keinem Moment miefiger Sexismus in der Luft. | |
Hier schlägt Afrofuturismus den Sexismusverdacht in unseren Köpfen mit | |
seinen gebrochenen Beats, die nicht von dieser Welt sind. Weil jemand wie | |
Kool Keith eben einfach nicht von dieser Welt sein will. Was in Berlin | |
aufgeführt wird, ist Realsatire und Science-Fiction-Comedy, | |
intergalaktischer Sozialdarwinismus, irgendwo zwischen "Men in Black" und | |
den "Simpsons". | |
Aus deutscher Sicht, um auf den harten Boden der Tatsachen zurückzukommen, | |
gab es an diesem Abend aber noch ein weiteres Highlight: Der Kölner Rapper | |
Retrogott, der für Kool Keith anheizte, wäre allein schon das Eintrittsgeld | |
wert gewesen. Endlich gibt es im HipHop-Untergrund im vielleicht | |
unfunkiesten Land der Welt mal wieder einen MC, der den Biss und die | |
Sprachgewalt besitzt, Synapsen-Berge zu versetzen. Man hat seit dem jungen | |
Dendemann zu Eins-Zwo-Zeiten keinen plausibleren Rapper mehr am Mikrofon | |
gehört: "Ein guter Pullover kann einfach gestrickt sein." Word! | |
25 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Maurice Summen | |
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