| # taz.de -- Kochen: Die wunderbare Welt des Grünkohls | |
| > Winterzeit ist Grünkohlzeit, denn erst nach dem ersten Frost schmeckt der | |
| > Kohl so richtig lecker. Er will aber auch richtig zubereitet sein: mit | |
| > Pinkel, Kassler und Kartoffeln. Und am besten schmeckt der Brassica | |
| > oleracea, wenn man ihn mehrere Tage hintereinander isst. | |
| Bild: Der Grünkohl ist ein Wintergemüse - das heißt in diesem Fall, man soll… | |
| Kohl und Pinkel nennt man in der Wesermarsch das, was anderswo "Grünkohl | |
| mit Kassler", "Kohl und Speck" oder auch "Grünkohl mit Brühwurst" heißt. In | |
| Bremen, wo die Betriebe und Behörden im Winter "Kohl und Pinkel"-Ausflüge | |
| aufs Land unternehmen, schmeißt man alle möglichen Fleischsorten in den | |
| Grünkohl, den man hier auch "Braunen Kohl" nennt, dazu kommen dann noch | |
| viel Schmalz, kurz angebratene Zwiebeln und halbierte, kurz gekochte | |
| Kartoffeln sowie etliche Pinkel- und Brühwürste. | |
| Um genaue (Gewichts-)Angaben für die Zubereitung von "Kohl und Pinkel" zu | |
| geben, würde es hier inzwischen reichen, auf [1][www.kochmeister.com] zu | |
| verweisen, wo man ein genau abgewogenes Rezept für "Kohl mit Pinkel 'Bremer | |
| Art'" findet - zugeschnitten auf vier Personen. Allerdings schmeckt dieses | |
| Gericht nach jedem Tag, an dem man es wieder aufwärmt, besser, so dass man | |
| die im Kochmeister-Rezept angegebenen Mengen, wenn man zu viert ist / isst, | |
| eigentlich mindestens mal drei nehmen sollte, um drei Tage lang "Kohl und | |
| Pinkel" essen zu können. | |
| Dabei ist zu beachten, dass der Grünkohl beim Kochen zusammenfällt. Erst | |
| kriegt man nicht alles in den Topf, der sehr groß sein muss - und dann ist | |
| es vielleicht am Ende sogar zu wenig. Und tiefgefrorenen Grünkohl zu | |
| nehmen, sollte man tunlichst vermeiden. Er schmeckt längst nicht so gut wie | |
| frischer, der in Zwei-Kilogramm-Plastikbeuteln angeboten wird. | |
| Brassica oleracea convar. acephala var. sabellica L., so der linnéische | |
| Name des Kohls, gehört zur Familie der Kreuzblütengewächse (Brassicaceae). | |
| Es ist ein Wintergemüse und eine Zuchtform des Kohls (Brassica oleracea). | |
| Wintergemüse - das heißt in diesem Fall, man sollte den ersten Frost | |
| abwarten, bevor man die Grünkohlstrünke vom Feld erntet, was neuerdings oft | |
| erst im Januar oder Februar der Fall ist. | |
| Und das ist dann auch die Zeit der Bremer | |
| "Kohl-und-Pinkel"-Betriebsausflüge, auf denen sich die Teilnehmer alberne | |
| bunte Plastikeierbecher an roten Bändern um den Hals hängen, aus denen sie | |
| unterwegs in regelmäßigen Abständen Korn bzw. Doppelkorn trinken - auf | |
| Kosten des Chefs und der Vorgesetzten, die sich deswegen später in einem | |
| Tanzsaal - in gehobener Stimmung, wie sie sagen - regelmäßig dazu hinreißen | |
| lassen, den weiblichen Mitarbeitern an den Arsch zu gehen, wie diese das | |
| nennen. | |
| In Bremen, Braunschweig, Hannover, Magdeburg wird der Grünkohl übrigens | |
| auch "Braunkohl", "Hochkohl" oder "Krauskohl" genannt. Letzteres trifft es | |
| ziemlich gut, denn der Grünkohl besteht nicht wie der Rot- und Weißkohl aus | |
| "Köpfen", sondern aus geschrumpelten einzelnen Blättern, die aus der Mitte | |
| der Pflanze herauswachsen. In der Schweiz ist er unter dem Namen | |
| "Federkohl" bekannt, in Ostwestfalen als "Lippische Palme", weiter nördlich | |
| als "Oldenburger" oder "Friesische Palme". In den Kochtopf kommen die | |
| Kohlblätter ohne das harte Blattgerippe, man muss sie also vorher | |
| auseinanderreissen. | |
| Nun zur Bremer Besonderheit - der "Pinkel"-Wurst, an der man ebenfalls | |
| nicht sparen sollte. Ihren Namen hat sie von einem bestimmten Teil des | |
| Rinderdarms, in dessen Wand folgende Zutaten eingefüllt werden: Nierenfett, | |
| grüner Speck, Rinderfett und viel Weizengrütze, dazu Salz, Pfeffer, Nelken | |
| und Piment. Die Pinkel-Wurst kann man aufschneiden und den Inhalt in den | |
| Topf mit dem Kohl geben. Nicht so die Koch-, Bregen-, Brühwürste oder | |
| Schinkenpfefferle, die man ebenfalls mitkocht, jedoch im Ganzen. Sie sind | |
| wie die Pinkel-Wurst regional unterschiedlich gefüllt, was sich auch in | |
| ihrem Namen niederschlägt. Man muss also, je nachdem wo man gerade ist / | |
| isst, gucken, was es im Angebot gibt. | |
| In Berlin nehmen viele Krakauer, Mettenden oder polnische Würste. Am | |
| leckersten sind aber geräucherte Brüh- oder Schinkenwürste, was genau | |
| genommen jedoch nur eine Sammelbezeichnung für Wurstarten ist, die bei der | |
| Herstellung durch Brühen, Braten oder auf andere Weise hitzebehandelt | |
| wurden. Ihr Inhalt besteht oder sollte im Wesentlichen bestehen aus magerem | |
| Fleisch und Speck sowie aus Gewürzen und Kochsalz. | |
| Schließlich braucht man noch ein wirklich ordentliches Stück "Kassler" - | |
| gepökeltes und leicht geräuchertes Fleisch vom Schwein (Nacken, Bauch oder | |
| Schulter), das in dicke Scheiben geschnitten ebenfalls unter den Kohl | |
| gebracht wird. Die Bezeichnung Kassler hat nichts mit der Stadt Kassel zu | |
| tun, sondern bezieht sich auf einen Einzelerfinder - den Berliner | |
| Schlachtermeister Cassel. | |
| So wie auch das Märchen von den "Bremer Stadtmusikanten" nichts mit Bremen | |
| zu tun hat, sondern von hessischen Auswanderern aus dem "Bremer Grund" | |
| stammt. Diese armen Menschen mussten in Bremen manchmal monatelang auf eine | |
| günstige Schiffspassage warten, wobei die Bremer sie gehörig ausnahmen: Man | |
| brachte sie in leer geräumten Schweineställen unter und nahm ihnen für jede | |
| noch so kleine "Unterstützung" enorm viel Geld ab. Schließlich klaute man | |
| ihnen auch noch das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. | |
| Zurück zum Kohl & Pinkel: Es fehlen noch einige fingerdicke Scheiben | |
| Bauchspeck sowie Gänseschmalz. Mit letzterem kann man erst einmal die klein | |
| geschnittenen Zwiebeln andünsten, bevor man beides zusammen in den Topf mit | |
| dem inzwischen auf kleiner Flamme kochenden Kohl gibt. Der Wirt der "Blauen | |
| Maus" in Eggolsheim bei Bamberg meint: "Auf Schmalz und Hafergrütze kommt | |
| es an" - beim "Kohl und Pinkel"-Gericht, das er "Event" nennt. Denn "ohne | |
| die Grütze bleibt der Kohl wässrig. Aber erst zum Schluss reintun (etwa 10 | |
| Minuten mitkochen) sonst brennt der Kohl zu leicht an." Für die Bremer | |
| Variante des Gerichts brauchen wir allerdings keine Hafergrütze, denn die | |
| aufgeschnittenen zwei bis vier Pinkel-Würste erfüllen mit der in ihnen | |
| enthaltenen Weizengrütze bereits den selben Zweck. Aber der Tipp vom | |
| "Blauen Maus"-Wirt, sie erst nach einer ganzen Weile aufzuschneiden und | |
| dann den Inhalt unter den Kohl zu mischen, damit der nicht anbrennt, | |
| scheint ganz brauchbar zu sein. Schließlich werden auch noch die | |
| angekochten und halbierten Kartoffeln dem Kohl beigegeben. Und dann muss | |
| das Ganze zwischen anderthalb Stunden und einem halben Tag vor sich | |
| hinbrutzeln - ohne Deckel auf dem Topf, wobei man das Ganze immer mal | |
| wieder um- bzw. aufrührt. Die notwendige Kochdauer bemisst sich nach dem | |
| Drängeln der Gäste, dem Geruch beim Umrühren und dem Geschmack beim | |
| vorsichtigen Probieren, optisch geben einem vielleicht auch die Farben der | |
| Kassler-Scheiben Gewissheit. Durch Umschichten von oben nach unten lässt | |
| sich die eine oder andere Zutat be- bzw. entschleunigt genießbar machen. | |
| Der fertige "Kohl und Pinkel"-Eintopf ist ein schweres Gericht, man braucht | |
| deswegen zwischendurch beim Essen immer mal wieder einen erleichternden | |
| Schnaps. Neuerdings wird dieses Essen zur Kalorienreduktion mit immer | |
| weniger Zutaten gekocht - für den modernen Menschen (am Computer) sei es zu | |
| fett, so wird argumentiert. Außerdem wird daran kritisiert, dass seine | |
| Zubereitung zu simpel, zu bäuerlich und somit eigentlich keine Kunst sei. | |
| Dazu ist zu sagen: Gegenüber der Kunst - allen Kunstwerken - hat das | |
| Kochen, die Speisezubereitung, schon mal den Vorteil, dass das Endergebnis | |
| gegessen wird und damit weg ist, also nicht mehr zu anderen Zwecken benutzt | |
| werden kann. Anders gesagt: Eine Speise wird gegessen, verdaut und die | |
| Reste ausgeschissen, ein Bild dagegen, sagen wir ein Tafelbild, kann | |
| immerhin noch zum Fetisch werden oder zu einem Spekulationsobjekt oder was | |
| auch immer. Demgegenüber ist das Essen im Vorteil: Es geht dabei einzig um | |
| die Kunst-Produktion. Ein alter Streit in der Philosophie geht ja darum: | |
| was ist wichtiger, der Weg oder das Ziel? Beim Kochen ist die Sache ganz | |
| einfach: Es wird aufgegessen, das ist eine ganz direkte Rezeption. Für das | |
| Essen einer Speise braucht deswegen auch niemand eine Rezeptionsanleitung, | |
| was heißt, dass sich die Wirkung eines Gerichts jedem sofort erschließt. | |
| Wenn man einen giftigen oder ungenießbaren Pilz isst, fällt man um oder es | |
| wird einem schlecht, ein ungenießbares Bild dagegen wirkt nicht so | |
| eindeutig auf den Betrachter. Für eine Suppe braucht man keine | |
| Rezeptionsanleitung, entweder sie schmeckt einem, oder sie schmeckt einem | |
| nicht. Das ist der Grund, warum jede Kunstgattung vom Kochen etwas lernen | |
| kann. | |
| Speziell für die Zubereitung von "Kohl und Pinkel" gilt - wegen seiner | |
| hohen Fleisch- und Fett-Anteile: Dass man die getöteten Tiere, von denen | |
| sie stammen, bei der Zubereitung im Topf wieder auferstehen lassen kann: | |
| Bei der Zubereitung entscheidet sich, ob man ein Koch oder ein Mörder ist. | |
| 23 Dec 2009 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Hoege | |
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