# taz.de -- Klimaangst und Aktivismus: Wir brauchen Panik auf der Titanic | |
> Lina Schinköthe ist 20 und hat Klimaangst. Diese Angst vor der | |
> Klimakatastrophe ist ihr Antrieb, um zu handeln. Dafür geht sie auch ins | |
> Gefängnis. | |
Bild: »Die gesellschaftliche Ignoranz macht mir Angst«: Polizist versucht, fe… | |
Von LEA LUTTENBERGER | |
»Ich würde mich manchmal gern einfach in die Sonne setzen, mir | |
Skateboardfahren oder ein Instrument beibringen. Ich habe aber nicht die | |
innere Ruhe dazu, weil ich mich durch die Klimakrise bedroht sehe. Die | |
gesellschaftliche Ignoranz zu sehen, macht mir Angst.« Lina Schinköthe ist | |
Studentin, 20 Jahre alt und erlebt Klimaangst – ein Begriff, den das | |
Grist-Magazin 2019 als »popkulturellen Trend« ausgerufen hat. | |
Die Psychologists for Future verstehen Klimaangst als eines von | |
verschiedenen unangenehmen Gefühlen, die im Zusammenhang mit dem | |
Klimawandel entstehen können. Wie sich diese Angst äußert, ist sehr | |
individuell. Menschen erleben sie zum Beispiel als Furcht, Unruhe, | |
Gedankenkreisen, diffuse körperliche Beschwerden oder konkrete Sorgen. »Es | |
ist dabei wichtig zu verstehen, dass Klimaangst in erster Linie nichts | |
Pathologisches ist«, sagt Katharina van Bronswijk, Psychotherapeutin und | |
Sprecherin der Psychologists for Future. Es gibt keine psychiatrische | |
Diagnose, die so lautet. Klimaangst sei eine angemessene Reaktion auf die | |
reale Bedrohung durch die Klimakrise. »Das Problem ist aber, dass Emotionen | |
wie Angst in unserer Gesellschaft immer noch kaum zugelassen werden, weil | |
sie unangenehm sind. Viele Menschen verdrängen sie. Zu viel Angst kann | |
tatsächlich lähmend wirken. Als Signalgeber kann Angst jedoch ebenso | |
konstruktiv sein, mutig machen und zum Handeln anregen«, sagen die | |
Psychologists of Future. | |
Lina Schinköthe ist in »behüteten Verhältnissen« aufgewachsen, wie man so | |
sagt. »Angst vor den von der Wissenschaft vorausgesagten Horrorszenarien | |
hatte ich zum ersten Mal, als mir beim Schauen einer Dokumentation bewusst | |
wurde, wie stur und mächtig die Vertreter des fossilen ›Weiter so‹ sind«, | |
sagt sie. Diese Angst hat sie Ende Februar dieses Jahres dazu gebracht, | |
sich beim Aktionsbündnis Letzte Generation zu engagieren. Diese | |
Aktivist*innen begreifen sich als die letzte Generation, die durch ihr | |
Handeln die Folgen der Klimakrise überhaupt noch beeinflussen kann. Sie | |
unterstellen der Bundesregierung »verbrecherisches Handeln«. Ihre Methode, | |
sie in ihrem Sinn zu läutern, ist ziviler Ungehorsam – beispielsweise | |
Straßenblockaden, die Verteilung containerter Lebensmittel oder die | |
Blockade von Ölpipelines. Die Kritik an der Letzten Generation reicht von | |
Springer-Medien und CDU bis zum Grünen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, | |
der in der Rechtswidrigkeit mancher Aktionen eine Gefahr für eine | |
Klimaschutz-Mehrheit sieht. Lina Schinköthe sagt, sie nehme an allen | |
Aktionen mit ihrem Klarnamen teil und sei angesichts der Dringlichkeit, zu | |
handeln, bereit, die rechtlichen Konsequenzen ihrer rechtsverletzenden | |
Aktionen zu tragen. »Für den Klimaschutz ins Gefängnis zu gehen, ist für | |
mich eine Investition in die Zukunft«, sagt Schinköthe. | |
## Klimaangst ist kein individuelles Problem | |
»Naja, Gefängnis ist schon mehr als eine Investition, eher ein Opfer«, sagt | |
Solvig Schinköthe, Mutter von Lina, die sich dem Bündnis ebenfalls | |
anschloss. Sie ist 42, trägt Kurzhaarschnitt, von Beruf ist sie | |
Psychologin. Im April wurden Mutter und Tochter Schinköthe zweimal bei | |
Autobahnblockaden festgenommen und mussten hinterher mehrere Tage im | |
Gefängnis verbringen. »Niemand von uns hat Lust, ins Gefängnis zu gehen«, | |
sagt Solvig Schinköthe. »Wenn wir eine Straße blockieren und die Autoampel | |
auf Grün schaltet, haben wir alle Angst. Aber die Angst vor den Folgen der | |
Klimakrise ist größer.« Der Umgang mit Klimaangst sei überwiegend dem | |
Individuum überlassen. Es ginge darum, die eigene Resilienz zu stärken, | |
Medien bewusst zu konsumieren, Konsum-, Ernährungs- und Mobilitätsverhalten | |
zu hinterfragen. Was fehle, sei eine gesellschaftliche Angst, die sich eben | |
diese Fragen stellt. | |
Dass Klimaangst kein individuelles Problem und mehr ist als ein | |
popkulturelles Phänomen, verdeutlicht eine 2021 publizierte Studie. 10.000 | |
junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren aus zehn verschiedenen Ländern | |
(sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen Süden) wurden über ihre | |
Emotionen bezüglich des Klimawandels und der Zukunft befragt. Neu an der | |
Studie war, dass den Jugendlichen sowohl positive als auch negative Gefühle | |
als Antwortoptionen ermöglicht wurden. Bis zu 60 Prozent der Befragten in | |
allen Ländern gaben an, »sehr« oder »extrem besorgt« hinsichtlich des | |
Klimawandels zu sein. Dabei war das Ausmaß negativer Emotionen in | |
denjenigen Ländern am höchsten, die durch Extremwetterereignisse bereits | |
direkt vom Klimawandel betroffen waren. | |
Panu Pihkala, Mitforschender an der Studie, sagt: »Dass sich diese | |
komplexen negativen Gefühle bei jungen Menschen weltweit zeigen, | |
verdeutlicht, dass es sich nicht um eine Luxusangst oder ›Klimahysterie‹ | |
von Jugendlichen des Globalen Nordens handelt.« Auch wenn die | |
Forschungsgruppe erwartet hatte, dass sich Zukunftsängste in den | |
Umfragewerten äußern, sei sie über deren Ausmaß überrascht, sagt Pihkala. | |
»Faktoren, die Klimaangst auslösen, sind Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit | |
und Unkontrollierbarkeit.« Auch wenn es sich bei Klimaangst um einen vagen | |
Begriff handle, sei es hilfreich, einen Namen für ein global auftretendes | |
Phänomen zu haben. Auch im Märchen verlor Rumpelstilzchen seine Kraft, als | |
die Prinzessin seinen Namen erfuhr. »So kann es helfen, den eigenen | |
negativen Gefühlen einen Namen geben zu können und zu wissen, dass es | |
vielen anderen ebenso geht«, sagt Pihkala. | |
Viele Generationen sind Teil der »Letzten Generation«, so wie Mutter und | |
Tochter Schinköthe. Der Grund, sich – auch rechtswidrig – zu engagieren, | |
sei für alle Generationen gleich, sagen sie. Was sich jedoch unterscheide, | |
seien die Möglichkeiten, sich mit dieser Klimaangst auseinanderzusetzen. | |
»Für eine 50-jährige Person im Berufsleben ist es kein Problem, ein hohes | |
Bußgeld zu zahlen, wohingegen eine Nacht in der Einzelzelle aber die | |
Gesundheit von Älteren angreifen kann. Ich als Studentin habe kein Geld, | |
kann meine Strafe aber ohne gesundheitliche Folgen absitzen«, sagt Lina | |
Schinköthe. | |
## Angst als Motor politischen Handelns | |
Ein weiterer Faktor ist Zeit. Der Vater unterstützt den Aktivismus seiner | |
Familie. Wenn Lina und Solvig bei Aktionen mitmachen oder in Haft sind, | |
kümmert er sich um die drei anderen Kinder. »Ich studiere wieder. Mir fehlt | |
nur noch die Masterarbeit, die ich gerade zeitlich nach hinten verschiebe. | |
Insofern habe ich den Luxus, viel Zeit in meinen Aktivismus stecken zu | |
können«, sagt Solvig Schinköthe. Und sie sagt: »Ich glaube, wenn man | |
Kindern zu viel Angst macht, dann resignieren sie«. | |
Ihren neunjährigen Sohn konfrontiert sie daher nicht mit den Fakten, die | |
ihr selbst Angst machen, sondern macht ihn vielmehr darauf aufmerksam, dass | |
Handlung gefordert ist. Seit der ersten Klasse ist er bei Fridays for | |
Future aktiv. »Er weiß darüber Bescheid, dass ich mich an Aktionen | |
beteilige und hat mich auch zweimal in der Gefangenensammelstelle besucht | |
und die Beamten gefragt, wann seine Mutter zurückkommt. Ich möchte aber | |
nicht, dass er sieht, wie ich bei Aktionen Gewalt erfahre«, sagt Solvig | |
Schinköthe. | |
Die Angst vor dem Klimawandel geht häufig mit Fragen bezüglich der | |
Zukunftsplanung einher. »Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als | |
später Kinder zu haben und mit ihnen und meinen Geschwistern gemeinsam auf | |
einem großen Hof zu wohnen. Ich frage mich aber, ob es möglich sein wird, | |
diesen Traum zu erfüllen«, sagt Lina Schinköthe. | |
Einige aus dem Aktionsbündnis »Letzte Generation« haben die Schule kurz vor | |
dem Abschluss abgebrochen. »Nicht das fehlende Abitur, sondern die | |
Klimakrise und das Versagen der Regierung macht mich perspektivlos!«, sagt | |
Jakob Pförtner vom Aktionsbündnis. Auch Lina Schinköthes Schwester steht | |
kurz vor dem Abitur. Über die Entscheidung, die Schule zu Ende zu bringen | |
oder abzubrechen, wurde in der Familie gesprochen. »Die Entscheidung, | |
Kinder zu bekommen oder die Schule zu beenden, war schon immer eine | |
individuelle«, sagt Solvig Schinköthe. Sie könne beide Entscheidungen – | |
dafür oder dagegen – verstehen. | |
»I don’t want you to be hopeful, I want you to panic«, sagte Greta Thunberg | |
2019 beim Weltwirtschaftsforum in Davos – »and then I want you to act«. | |
Klimaangst ist demnach für sie eine konstruktive kollektive Angst, die kein | |
Gefühl bleibt, sondern Motor politischen Handelns ist. | |
5 Aug 2022 | |
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