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# taz.de -- Klaus Töpfer im Interview: Die Perfektion der Wohlstandslüge
> Wie kriegt man Konservative dazu, ernsthafte Klimapolitik zu machen,
> Klaus Töpfer?
taz FUTURZWEI: Herr Töpfer, die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat den
Satz gesagt: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«. Sagen wir im
politischen Raum die Wahrheit über das Notwendige beim Klimaschutz?
KLAUS TÖPFER: Ich verweise auf ein Interview, das Fritz Vorholz 1992, also
nach der Rio-Konferenz, mit mir für die Zeit gemacht hat. Die Überschrift
ist: »Ende mit der Wohlstandslüge«. Einige Wahrheiten sind also schon seit
Längerem bekannt, wurden den Menschen auch zumutbar gemacht. Aber: In der
Breite der Gesellschaft wurde dies nicht akzeptiert, wurde verdrängt,
führte nicht zu Maßnahmen. Diese Haltung ist jetzt nur noch schwer zu
vertreten: Die dramatischen Klimaprobleme sind unübersehbar.
Man kann auch den gegenteiligen Eindruck haben, dass die Wohlstandslüge
ausgeprägter ist denn je. Jetzt sind wir in einer Situation, in der sehr
viel mehr anders werden muss, als es gegenwärtig diskutiert wird.
Sicherlich stimmt, dass die Lücke zwischen ehrlicher, wissenschaftlich
basierter Analyse und dem daraus resultierenden notwendigem Handeln
schneller überbrückt werden muss. Diese Wahrheit ist nicht nur zumutbar,
die Menschen sind immer mehr bereit, ihre Einstellung zu ändern, sich vor
den Konsequenzen des Zustands der Natur nicht wegzuducken. Es muss klar,
deutlich und vor allem zuverlässig informiert werden. Vertrauen in
Wissenschaft und in politisches Handeln sind unerlässlich. Immer mehr
Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verbraucher müssen auf diese Reise
mitgenommen werden, müssen bei der Entwicklung von Handlungskonzepten
Subjekt und nicht Objekt sein.
Die Frage ist nur: Was ist der Weg? Es gibt ein Zitat von Volker
Mosbrugger, Leiter des Senckenberg-Museums: »Den Menschen ging es noch nie
so gut wie heute und der Erde noch nie so schlecht.« Das beschreibt im
Grunde genommen unser politisches Problem: Dass auf der positiven Seite
zivilisatorische und materielle Fortschritte stehen, von denen die Leute
profitieren. Aber die Voraussetzung für diese Verbesserungen ist
Zerstörung. Das ist die Situation, deshalb gibt es Fridays for Future.
Daher stellt sich die Frage, ob jetzt nicht harte Konfrontation mit dieser
Realität angesagt ist?
Auch für die härteste Radikalkur gegen die Wohlstandslüge wird in einer
offenen parlamentarischen Demokratie die Mehrheit überzeugt werden müssen.
Ich zitiere aus Laudato si’, der Umweltenzyklika des Papstes: »Darum können
wir stumme Zeugen schwerster Ungerechtigkeiten werden, wenn der Anspruch
erhoben wird, bedeutende Vorteile zu erzielen, in dem man den Rest der
Menschheit von heute und morgen die extrem hohen Kosten der
Umweltzerstörung bezahlen lässt.« Diese ethische Position ist im besten
Sinne des Wortes eine konservative Aussage. Diese Position mehrheitsfähig
zu machen, mag auch eine harte Konfrontation beinhalten. Aber diese
Konfrontation kann den Menschen zugemutet und die daraus folgenden
Handlungsnotwendigkeiten können durchgesetzt werden.
Nicht der Konfrontation wegen. Wir haben ja über lange Zeit einen Weg
zurückgelegt, der in vielerlei Hinsicht verdienstvoll und produktiv war.
Trotzdem gilt der Mosbrugger‘sche Satz.
Natürlich sind erfolgreiche umweltpolitische Programme umgesetzt worden.
Unsere Flüsse weisen eine bessere Wasserqualität auf, die Luftbelastung
wurde wesentlich verringert, die Kreislaufwirtschaft ist bei der
Bewältigung der Abfallmengen erfolgreich entwickelt worden. Die negativen
Folgen des wirtschaftlichen Wachstums der Vergangenheit wurden durch
Gesetze bekämpft, vermindert oder beseitigt. Es zeigt sich dabei: Zunehmend
wachsen wir wirtschaftlich nur noch durch die Beseitigung negativer
Konsequenzen vorangegangenen Wachstums. Wachstum läuft insofern leer.
Jetzt wird es interessant.
Das Kriterium der Bewertung von Natur und Umwelt wird vornehmlich mit der
Nützlichkeit für den Menschen verbunden. So haben wir sicherlich aktuell
mehr Hühner und Schweine als früher. Gleichzeitig ist jedoch die Vielfalt
der Arten bei Hühnern und Schweinen rückläufig. Wir verarmen im Reichtum.
Das Bienenvolksbegehren in Bayern zeigt, dass diese Abnahme von Vielfalt
Menschen unruhig und nachdenklich macht. Dass die Ursachen, die Vielfalt
infrage stellen, etwa im Einsatz von Pflanzenschutz, zurückgeführt werden
müssen.
Die Mitteilungen der Klimawissenschaft gehen in etwa so: Wir haben jedes
Jahr dramatischere Befunde auf der empirischen Ebene und eine Verkürzung
des Handlungszeitraumes. Dann wird aber gleichzeitig gesagt: Noch ist Zeit.
Dann kommt die ganze Arie mit »Wir können ja unseren Wohlstand behalten und
trotzdem Klimaschutz machen …«. Ist es nicht höchste Zeit, mit diesem
magischen Narrativ aufzuhören?
Eine Post-Wachstumsgesellschaft wird immer intensiver erörtert. Änderungen
im Verhalten der Menschen machen dieses veränderte Wachstumsnarrativ
umsetzbar: Die Nachfrage nach vegetarischer und veganer Ernährung steigt
weit überproportional an. Lassen Sie mich aber hinzufügen: Acht Jahre lang
habe ich in Afrika, konkret in Nairobi, Kenia gelebt, und das
Umweltprogramm der Vereinten Nationen geleitet. Eine junge Bevölkerung, ein
in der Breite der Bevölkerung extrem niedriger Wohlstand: Wirtschaftliche
Entwicklung ist da zwingend. Diese wirtschaftliche Entwicklung erfordert
Energie, und die Aufgabe eines technologisch führenden Landes wie
Deutschland ist es daher, wettbewerbsfähige Energietechniken zu entwickeln,
die wirtschaftliches Wachstum ohne negative Konsequenzen für Natur und
Umwelt ermöglichen. Die Solarenergie ist dafür ein wichtiger Beleg. In
Nairobi wird von vielen Menschen die Post-Wachstumsgesellschaft nicht
ernsthaft akzeptiert.
Heißt?
Gegenwärtig leben knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde. Als ich 1938
geboren wurde, waren es nur 2,6. Das Bevölkerungswachstum ist aber in
unserer Welt sehr unterschiedlich verteilt. Als ich vor einigen Tagen die
»Bevölkerungsuhr« befragte, zeigte sie, dass in Deutschland bis dahin an
diesem Tag etwa 1.500 Kinder geboren wurden, dass in der gleichen Zeit etwa
1.700 Menschen gestorben sind. In Indien waren im gleichen Zeitraum 75.000
Kinder geboren, die Sterbefälle lagen deutlich darunter. Wirtschaftliche
Entwicklung muss eine Antwort auf diese Unterschiede geben können. Dabei
geht es für mich nicht um die große Transformation. Wichtig sind flexible,
auch rückholbare Maßnahmen. Da wir Menschen stets bei unvollkommenen
Informationen entscheiden, müssen nicht beachtete negative Folgen unseres
Handelns aufgefangen und neu bewertet werden können. Dabei ist der Hinweis
auf unvollkommene Informationen und Risiko keineswegs ein Alibi für ein
ständiges Verschieben des Handelns. Das Vorsorgeprinzip, das 1992 in Rio
gegen den großen Widerstand der USA durchgesetzt wurde, ist
Handlungsauftrag!
Die Union ist doch eine Law-and-Order-Partei und hat auch zum Teil eine
Law-and-Order-Kundschaft. Könnte man das nicht auf das Klimaproblem
übertragen? Heute wird ja Law and Order zunehmend als etwas Unstatthaftes
betrachtet.
Immer wieder weise ich darauf hin, dass in einem Rechtsstaat
ordnungsrechtliche Festlegungen zwingend geboten sind. Klares
ordnungspolitisches Handeln ist nicht Law and Order, das ist Rechtsstaat.
Die in unserem Gespräch bereits genannten Beispiele für umweltpolitisch
erreichte Verbesserungen von Luft- und Wasserqualität sind durch
Ordnungsrecht erzielt worden. Ein konkretes Beispiel: In den 80er-Jahren
des letzten Jahrhunderts waren wir in Deutschland mit einem Waldsterben
konfrontiert. Die wissenschaftliche Analyse kam zum Ergebnis, dass die
Schwefeldioxidemissionen, vornehmlich aus Kohlekraftwerken dafür
verantwortlich waren. Von vielen wurde gefordert, deswegen eine Steuer oder
eine Abgabe auf SO2 zu legen.
Diesem Rat sind Sie nicht gefolgt.
Nein. Es wurde vielmehr eine Großfeuerungsanlagen-Verordnung erarbeitet mit
einem klaren Grenzwert von 300 Milligramm SO2 pro Kubikmeter. Der Protest
dagegen war gewaltig in der Wirtschaft, die Wirkung wurde bezweifelt. Das
Ergebnis: Rauchgasentschwefelungsanlagen wurden entwickelt. Die Emissionen
von SO2 sanken in kürzester Zeit drastisch. Ein Mehr an SO2 wurde verboten.
Freiwilligkeit allein oder ein SO2-Preis hätte diese Zielsetzung nicht
erreicht. Das Ordnungsrecht hatte den Wettbewerb um die kostengünstigsten
Techniken zur Vermeidung von SO2-Emissionen sichergestellt. Nochmals: Es
ist rechtsstaatlich geboten. Mein finanzwissenschaftlicher Lehrer an der
Universität in Münster hat darauf hingewiesen: Wer durch Steuern steuern
will, wird sein Ziel nicht erreichen.
Aber heute sitzen die sogenannten Realpolitiker immer da und sagen, wir
setzen auf Anreize, wir setzen auf die Einsicht und so weiter.
Anreize sind durchaus ergänzende Maßnahmen, vor allem dann, wenn neue
Techniken entwickelt und erst später wirtschaftlich erfolgreich werden.
Wieder ein Beispiel: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat Anreize für die
großtechnische Anwendung und die technologische Weiterentwicklung dieser
Energiegewinnung sinnvoll eingesetzt. Dadurch ist es möglich geworden, dass
die Kosten für eine Kilowattstunde Solarenergie in vergleichsweise kurzer
Zeit drastisch gesunken sind: von fünfzig auf fünf Eurocent. Einsicht und
das Mitdenken und Mithandeln jedes einzelnen Bürgers, so wertvoll und
hilfreich es ist, kann einen klaren ordnungsrechtlichen Rahmen nur
ergänzen, nicht aber ersetzen. Eine Privatisierung der Klimapolitik ist
nicht die zwingend notwendige Antwort auf die dramatische Externalisierung
der Kosten unseres Wohlstands auf die Natur. Die Externalisierung auf den
Menschen ist mit der sozialen Marktwirtschaft beantwortet worden. Mit Blick
auf die Externalisierung, auf die Schöpfung, auf die Natur und Umwelt,
erfordert die gleiche Konsequenz eine ökologische Marktwirtschaft.
Was wir echt nicht mehr hören können, ist, wenn irgendein CDU-Politiker,
Sie nicht, daherkommt und sagt: »Ja, wir sind ja für die Bewahrung der
Schöpfung!« Das ist so ein entleerter Begriff!
Dass Begriffe durch inflationären Gebrauch inhaltsleer werden, bedeutet
nicht, dass sie in ihrem Kern nicht richtig sein können. Um noch einmal
Laudato si’ zu zitieren. Dort wird festgehalten: Der Schrei der Armen und
der Schrei der Natur müssen zusammengehört werden. Der Papst fordert eine
ganzheitliche Ökologie. Frei übersetzt nenne ich dies eine ökologische und
soziale Marktwirtschaft. Dabei spreche ich bewusst von Schöpfung. Der
Begriff Umwelt ist sehr anthropozentrisch – hier der Mensch, dort die
Umwelt, die der Mensch ausbeuten kann. Schöpfung macht klar, dass diese
Objekt- und Subjektbeziehung zwischen Mensch und Umwelt falsch ist.
Das beständig wiederholte magische Denken bis weit in die Grünen hinein
sagt, dass dieses Wohlstandsniveau aufrechtzuerhalten ist, und trotzdem
kann man die Dritte Welt befreien, den Klimawandel bekämpfen, die große
Transformation machen. Da ist die Frage: In welcher Weise kann man das in
eine politische Kommunikation produktiv einbringen zu sagen: »Scheiße, das
könnt ihr vergessen.« Das geht nicht.
Es ist leider ein recht verbreitetes Verhalten, die Beantwortung einer
Frage, die Lösung eines Problems, damit zu umgehen, dass man eben nicht
»Scheiße, das könnt ihr vergessen!« sagt, sondern: »Das müssen wir noch
weiter durchdenken, da müssen wir eine Lösung finden.« oder ähnlich. Dieses
Verhalten kann man sicherlich als repressive Toleran bezeichnen. Die
Antwort wird verschoben mit dem Ziel, sie eigentlich nicht beantworten zu
können und wollen.
Jetzt kommt der Töpfer mit Marcuse um die Ecke!
Wenn es den Tatbestand trifft, warum nicht?
Repressive Toleranz bei Marcuse bedeutet: Ich verhalte mich tolerant
gegenüber falschen Verhältnissen. Ich stelle Einigkeit darüber her, dass
man etwas nicht skandalisiert und weiter so laufen lässt. Der Begriff ist
hier auch richtig am Platz, weil ja die konservative Politik in Sachen
Klima die falschen Verhältnisse die ganze Zeit toleriert und noch weiter
befördert?
Dass dies nicht nur bei der von Ihnen genannten konservativen Politik der
Fall ist, sondern in der Breite unserer Gesellschaft reales Handeln
kennzeichnet, werden Sie sicherlich bestätigen. Die Konsequenz daraus muss
doch sein, dass ein konservatives, an einen Wertekanon gebundenes Denken
diesen Weg nicht geht. Gerade deswegen halte ich es für dringend geboten,
ein konservatives Narrativ nicht als inhaltsleere Forderung zu zerreden,
sondern substanziell auszufüllen. In den letzten Jahren und sogar
Jahrzehnten ist diese Herausforderung nicht aufgegriffen worden. Der
spezifische, aus den eigenen Werten abgeleitete konservative Ansatz für
Klima- und Umweltpolitik ist nicht entwickelt worden – eine Lücke, die eben
nicht durch repressive Toleranz ausgefüllt werden kann.
Wir haben durch Fridays for Future eine gesellschaftliche Dynamik pro
Klimapolitik und die Union denkt sich: »Naja, das könnte ja auch wieder
weggehen und wenn wir uns jetzt zu sehr bewegen, dann machen wir vielleicht
einen Fehler und dann frisst uns die AfD auf.« Wie schätzen Sie das denn
ein?
Zygmunt Bauman, der große Sozialwissenschaftler, hat kurz vor seinem Tod in
einem Spiegel-Interview gesagt: »Die Macht verlässt die Politik.« Die Macht
verschiebt sich von der Politik hin zu Finanzmärkten, zu wirtschaftlichen
Großstrukturen, besonders dabei zu IT-Unternehmen. Gleichzeitig stellt sich
die Frage, inwieweit der Mensch die Technik beherrscht oder bereits die
Technik den Menschen. Der Papst nennt dies das »technokratische Paradigma«.
Wiederum: Dies ist eine tief in konservativem Denken zu verankernde Ethik.
Die Sozialpsychologie würde immer sagen: Werte folgen der Praxis und nicht
umgekehrt. Und wir haben ja jetzt gegenwärtig eine realpolitische
Situation, wo alles das, was wertbezogen ist durch das, was man tut – sei
es Verhalten zu kriegerischen Konflikten, sei es die Frage der
Klimapolitik, sei es vieles andere –, maximal weit von den vorgetragenen
Werten entfernt ist. Die Lücke zwischen dem, was man postuliert und dem,
was man tut, führt auch zu einer totalen Orientierungslosigkeit, die bis in
das politische Handeln selbst hineinreicht. Und insofern stimmt ja alles,
was Sie sagen. Nur: Wo gibt es den Move, dass das ein neuer Konservatismus
wird?
Zunächst belastet es mich wenig, wenn dafür nicht oder noch nicht breite
Mehrheiten konstatiert werden können. Der evangelische Pfarrer und
Philosoph Martin Schweizer hat treffend formuliert: »Wo kämen wir hin, wenn
alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wo wir
hinkämen, wenn einer ginge.« Dass ich als 81-Jähriger gerne als Beleg für
dieses konservative Narrativ zitiert werde, macht man nicht mir zur Freude,
sondern als Konkretisierung der Lücke, die in meiner Partei entstanden ist.
Es ist mehr ein Arschtritt für andere als ein Lob für mich.
Aber wer ist denn in der CDU da außer dem stellvertretenden
Parteivorsitzenden Andreas Jung?
Wenn du über einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, die Wohlstandslüge
nicht als Problem gesehen oder akzeptiert hast, kann es nicht verwundern,
dass dies Auswirkungen auf die Personalstruktur hat. Diese Lücke
aufzuarbeiten wird wohl ein längerer Weg sein. Dieses Profil zu gewinnen,
fällt äußerst schwer, wenn im besonderen Maße dadurch auch wirtschaftliche
Parameter grundsätzlich hinterfragt werden. Diese Nachdenklichkeit ist
jetzt aufgebrochen, der Nährboden für dieses konservative Narrativ ist
fruchtbarer geworden, als er es bisher gewesen ist. Was sagt doch der
Volksmund: »Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor dreißig Jahren.
Die zweitbeste ist jetzt.«
Nun haben wir diese Situation mit einer großen Diskrepanz zwischen Werten
und Handeln, eine Entleerung des Konservatismus in sozial-ökologischer
Hinsicht. Jetzt haben wir aber auch Fridays for Future. Jugendbewegungen
können ziemliche Dynamiken entfalten, insbesondere dann, wenn der
Widerspruch zwischen den herrschenden Gruppen und den nachrückenden jungen
Gruppen zu groß wird. Jetzt könnte es doch eine Möglichkeit geben, dass der
Druck, der von unten kommt, so groß wird, dass plötzlich eine Position wie
Ihre von einer konservativen, vielleicht sogar jüngeren Person aufgegriffen
wird. Denkbar oder nicht?
Ich halte das nicht nur für denkbar, ich halte das auch für realisierbar
und umsetzbar mit klarer politischer Strategie. Ich konkretisiere das: Die
soziale Marktwirtschaft muss zu einer ökologisch, sozialen Marktwirtschaft
weiterentwickelt werden, nicht als schöne Floskel, sondern mit Substanz und
klarem Wertebezug. Das ist machbar. Was wir dafür dringend brauchen, ist
wie gesagt ein konservatives Narrativ. Bei einer Partei mit dem »C« im
Namen ist dies mit dem Bezug auf den christlichen Wertekanon ebenso
möglich, wie es das bei der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft war.
In einer solchen Partei kannst du nicht Politik machen, ohne dass du
dieses, was ich jetzt doch Schöpfung nenne, zum Kern deiner Politik machst.
Aber wir haben es mit einem Paradoxon zu tun, dass ökologisch das
Konservative das Progressive ist. Das verwirrt sowohl die Progressiven als
auch die Konservativen.
Ich sehe darin keineswegs ein Paradoxon, aber auch kein
Alleinstellungsmerkmal. Ich bin nicht der Meinung, dass es hilfreich ist,
darauf hinzuweisen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist.
Das hat Angela Merkel zur Verteidigung des sogenannten Klimapakets der
Bundesregierung gesagt.
Politik ist für mich die Kunst, das Notwendige möglich zu machen.
Die 1969er Willy-Brandt-Regierung hat mit einer knappen Mehrheit eine große
Veränderung gemacht. Sind wir jetzt auch an einem Punkt, wo wir auf eine
knappe Mehrheit zielen müssen von 51 Prozent oder 52, um zu sagen: Wir
machen das jetzt und dann gibt es einen richtigen Clash mit den anderen?
Kann man das, muss man das der Gesellschaft zumuten, und wo bleibt die CDU
dann?
Im Zweifel werden Mehrheiten nur noch zustande kommen, wenn vorher nie
gesehene Koalitionen gedacht und umgesetzt werden. Die 68er-Revolution hat
bewirkt, dass aus einer Bewegung eine neue Partei entstanden ist. Eine
Bewegung muss sich politisch aktivieren. Das ist Grundbedingung für eine
parlamentarische Demokratie. Eine Bewegung ist nicht verantwortlich. Aber
ich möchte alles daransetzen, dass demokratische Verantwortung übernommen
wird. Dafür, was entschieden wird. Also: Macht doch Politik! Da werden Sie
möglicherweise bei meiner Partei auch nicht nur freudig begrüßt werden.
Bis sich eine Bewegung zu einer politikfähigen Partei entwickelt, kann es
dauern.
Wie erreiche ich es, dass die Zeitachse mit der Notwendigkeit im Einklang
steht? Die großen Protestierer von früher sind heute sehr aktive Politiker.
Wenn ich den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg sehe, komme ich
nicht auf die Idee, dass er ein Revolutionär geblieben wäre.
Nochmal zu der Kernfrage: Sowohl die CDU als auch die Sozialdemokratie und
die gesellschaftsliberalen Kräfte haben alle auf der Grundlage von fossilem
Industrialismus ihre Interessen vorangetrieben. Wie ändert man das?
Die ökologische und soziale Marktwirtschaft ist kein abgeschlossenes
Kapitel. Das muss immer wieder neu erfunden und weiterentwickelt werden,
sowohl der Sozialstaat als auch der ökologische Staat. Zu glauben, jetzt
habe man die richtige Lösung gefunden, jetzt bräuchte man nicht mehr zu
denken, ist ein großer Fehler. Da wird beim Ökologischen genauso sein. Man
muss es in eine permanente Veränderungsdynamik einbringen.
Welche fünf ordnungspolitischen Maßnahmen würden Sie zügig umsetzen?
Bei der Frage höre ich schon alle rufen: »Gesetze! Um Gottes willen!«
Also?
Also: Wir müssen gesetzlich festlegen, wie hoch der CO2-Ausstoß im Auto
sein darf und diesen Grenzwert dynamisch nach unten entwickeln, verlässlich
und damit für alle planbar. Das ist für die Mobilität zentral. Ob diese
Werte besser mit Elektromobilität oder mit synthetischen Kraftstoffen oder
mit Wasserstoff zu erreichen sind, ist der technischen Dynamik zu
übergeben. Dabei vergisst man allzu häufig, dass für den Klimaschutz dann
auch hinreichend Strom aus erneuerbaren Energien verfügbar sein muss. EnBW
baut in Mecklenburg-Vorpommern den größten Solarpark. Über 450.000 Panels
erzeugen dann Solarenergie. Das finde ich mal eine positive Nachricht, dass
wir das bei uns jetzt ernst nehmen, ohne jede öffentliche Förderung, nur
mit Beibehaltung der Priorität auf Erneuerbare. Das ist doch schon mal ein
Wort. Das Gegenbeispiel: Die unglaubliche Krise der Windenergie!
Was noch?
Wir zahlen achtzig Milliarden Euro Energiesteuer in völliger
Klimablindheit. Eher ist das Gegenteil der Fall. Wir haben die
Mehrwertsteuer angeblich unter sozialen Gesichtspunkten gesplittet – in
vielen Fällen fraglich genug. Unter ökologischen Gesichtspunkten? Null! Das
muss sich ändern.
Nummer drei?
Der gesamte Wärmebereich kann durch Ordnungsrecht klimaneutral gestaltet
werden. Im Klimapaket der GroKo sind dafür Beispiele zu finden, die aber
kaum erörtert werden und denen eher zu wenig Beachtung geschenkt wird.
Gerade in diesem Bereich müssen Anreize insbesondere die sozialen
Konsequenzen abfedern.
Nummer vier?
Nochmals zurück zu den erneuerbaren Energien: Die EEG-Umlage wird nur von
den Stromkunden gezahlt, wobei die Großverbraucher noch weitgehend
ausgenommen sind. Die sauberste Energie, regenerativer Strom, wird damit am
höchsten besteuert. Eine grundlegende, rechtlich basierte Änderung muss
sicherstellen, dass die Refinanzierung der Forschungs- und
Entwicklungskosten der erneuerbaren Energien auch im Verkehrs- und
Wärmebereich getragen werden.
Nummer fünf?
Die Klimakatastrophe ist eine globale Katastrophe. Wir müssen uns darüber
im Klaren sein, dass wir dafür Verantwortung tragen – auch für eine
klimaneutrale Energieversorgung etwa in Afrika. Dabei ist Entwicklung und
Klimaneutralität gemeinsam zu verfolgen. Die Produktion von Solarpaneln,
die Gründung von mittelständischen Handwerksbetrieben zur Installation und
Wartung, müssen vor Ort erfolgen. Bemühungen unserer
Entwicklungszusammenarbeit, die zweifellos beachtlich sind, müssen weiter
verstärkt und rechtlich abgesichert werden.
Interview: [1][Peter Unfried] und [2][Harald Welzer]
30 Jan 2020
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