| # taz.de -- Junkies in Kiel ohne Ersatzdroge Remedacen | |
| > Arzt gibt Praxis wegen Prozeß auf / Kassen wollen Remedacen nicht zahlen | |
| > / Ärztekammer: „Ersatzstoff nur auf Privatrezept“ - was 800Mark monatlich | |
| > bedeutet / Staatsanwaltschaft behauptet, Arzt habe Tod eines Süchtigen | |
| > fahrlässig herbeigeführt ■ Aus Kiel Jürgen Oetting | |
| Ab heute erhalten 400 Exjunkies aus Hamburg und Schleswig -Holstein keine | |
| Heroin substituierenden Medikamente mehr. Ihr Kieler Arzt Gorm Grimm hat | |
| vorerst seine Praxis geschlossen. Er begründete diesen Entschluß mit der | |
| „erheblichen Belastung“ durch den Prozeß. Gegen ihn wird seit eineinhalb | |
| Wochen vor dem Kieler Landgericht wegen des Verdachts der fahrlässigen | |
| Tötung eines medikamenten- und alkoholabhängigen Patienten verhandelt. | |
| Damit ist der Alptraum Realität geworden, vor dem sich Hunderte ehemaliger | |
| FixerInnen seit Jahren fürchten: Grimm versorgt sie nicht mehr mit der | |
| Ersatz-Ersatzdroge „Remedacen“. Mit diesem codeinhaltigen Hustenpräparat | |
| ersetzte Grimm das Heroin, aber auch die klassische Ersatzdroge Methadon, | |
| deren Vergabe in der Bundesrepublik immer noch durch die Bestimmungen des | |
| Betäubungsmittelgestzes erschwert, wenn nicht sogar verhindert wird. | |
| Remedacen macht - laut PatientInnenangaben | |
| -nicht euphorisch, drückt aber die Schmerzen und Depressionen des | |
| Heroinentzuges weg. | |
| Das klappt jedoch nur, wenn relativ große Mengen „Remis“ verschrieben und | |
| eingenommen werden, denn das Medikament ist schließlich nicht für die | |
| Substitionsbehandlung Süchtiger konzipiert, sondern als Mittel gegen | |
| Hustenanfälle. So war es am Kieler Bahnhof schon fast ein gewohntes Bild, | |
| wenn sich Grimm-PatientInnen mit ganzen Plastiktüten voller Drogen auf die | |
| Heimfahrt nach Hamburg machten. Etwa 150 seiner 400 SuchtpatientInnen | |
| kommen aus der Hansestadt. Einige wenige von ihnen behandelte Grimm mit | |
| ausdrücklicher Genehmigung der Hamburger Gesundheitsbehörde und Ärztekammer | |
| mit der umstrittenen Ersatzdroge Methadon. | |
| Derartige Kooperation gibt es mit der schleswig -holsteinischen Ärztekammer | |
| und auch der Kassenärztlichen Vereinigung nicht. Seit 13 Jahren - so lange | |
| praktiziert Grimm seine Substitionsbehandlung - wird der medizinische | |
| Außenseiter von seinen Fachkollegen angefeindet und mit Zivilprozessen | |
| überzogen wegen vermeintlicher Fehlbehandlung und Verschwendung von | |
| Kassengeldern. Seine Behandlungsmethode diene nicht ausdrücklich der | |
| Heilung hieß es jüngst zynisch in einer juristischen Auseinandersetzung vor | |
| dem Kieler Sozialgericht -, sondern höchstens der Linderung. Die | |
| Bereitstellung von Finanzmitteln für diesen Zweck sei nicht Aufgabe der | |
| Kassen. Grimm hielt dagegen, daß seine Behandlung durchaus der Heilung | |
| diene, langfristig würden seine PatientInnen den Ausstieg schaffen. Und | |
| auch während der Behandlungszeit könnten sie durchaus das Alltagsleben | |
| meistern. | |
| Zu Beginn der vorigen Wochen teilte Grimm seinen Beschluß, vorerst nicht | |
| weiter zu praktizieren, dem schleswig -holsteinischen Sozial- und | |
| Gesundheitsminister Günther Jansen mit. Er bat ihn nachdrücklich, dafür | |
| Sorge zu tragen, daß seine PatientInnen mit der ausreichenden Menge | |
| Remedacen versorgt bleiben, solange er an der Ausübung des Berufes | |
| gehindert ist. Jansens Staatssekretär Claus Möller legte daraufhin die | |
| Angelegenheit in die Hände der Ärztekammer. Deren Sprecher teilte sogleich | |
| mit, Remedacen werde künftig | |
| -wenn überhaupt - nur auf Privatrezept verschrieben. Das bedeutet für den | |
| durchschnittlichen Grimm-Patienten 800 Mark im Monat. | |
| Grimm selbst hat derzeit andere Sorgen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im | |
| laufenden Strafprozeß vor, 1984 den Tod des damals 32jährigen Gerd | |
| Süverling durch Verschreiben „exzessiv hoher Dosen“ von Medikamenten | |
| fahrlässig herbeigeführt zu haben. Süverling war in seiner Wohnung tot | |
| aufgefunden worden und starb nach Auffassung von Gerichtsmedizinern an | |
| Atemlähmung und Herzversagen. | |
| Nach fünf Verhandlungstagen häufen sich die Ungereimtheiten. Es wurde | |
| bekannt, daß Süverling von zwei weiteren Ärzten starke Beruhigungsmittel | |
| verschrieben bekam. Mehrfach bediente er sich am selben Tag - auch in | |
| zeitlicher Nähe zu seinem Tod - gleich bei zwei Medizinern. Exakte | |
| Nachuntersuchungen des von den Pathologen zerstückelten Leichnams sind | |
| jedoch nur noch bedingt möglich. Im Mai 1987 wurden eingefrorene Organe und | |
| Blut des ehemaligen Grimm -Patienten „versehentlich“ weggeworfen. | |
| Derzeit streiten sich die Gutachter um die Frage, nach wievielen Tabletten | |
| ein Süchtiger stirbt. Der Prozeß wird heute fortgesetzt. Vielen | |
| ZuhörerInnen im stets vollbesetzten Verhandlungssaal werden „Remis“ fehlen. | |
| 28 Aug 1989 | |
| ## AUTOREN | |
| jürgen oetting | |
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