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# taz.de -- Jugendliche Massenmörder: Der doppelte Kontrollverlust
> Wer die Ursachen von Amokläufen verstehen will, muss die Bedingungen
> beachten, unter denen Jugendliche aufwachsen - und die Konsequenzen
> mangelnder Anerkennung.
Bild: Warum ist das Geschehen? Diese Frage stellt sich nach dem Amoklauf von Wi…
Diese Analyse ist nicht auf den Vorgang in Winnenden bezogen. Belastbares
Wissen über diesen Fall kann nicht vorliegen. Stattdessen basiert dieser
Text auf desintegrations- und jugendtheoretischen Überlegungen sowie
empirischen Auswertungen der Vorgänge in Littleton (1999), Erfurt (2002)
und Emsdetten (2006).
Insbesondere der Amoklauf an der Columbine Highschool steht im Mittelpunkt,
weil dieser als Vorbild für weitere Taten gilt. Dies ist insbesondere mit
der Kommunikation der virtuellen Fangemeinde im Internet belegbar, an der
nicht wenige weibliche Jugendliche teilnehmen.
Um diese Abläufe angemessen zu analysieren, soll hier von einer These
ausgegangen werden, die auf einen doppelten Kontrollverlust fokussiert. Der
Kontrollverlust bei den Tätern besteht im Anerkennungszerfall und damit im
Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Auf der gesellschaftlichen
Seite gibt es einen Kontrollverlust, weil zwar vielfältige
Hintergrundkonstellationen bekannt sind, es aber keine Kenntnisse über die
situativen Auslöser gibt, sodass die Verhinderung kaum gelingt. Dies hat
Effekte.
Die Einordnung solcher Massaker durch Öffentlichkeit und Politik folgt
immer wieder typischen rituellen Erklärungsmustern, sodass die
Kontrollverluste überdeckt werden. Von "Heimsuchung" sprach etwa 2002 der
Ministerpräsident Thüringens, von einem "psychisch schwer gestörten Täter"
ein kriminalpsychologischer Experte per Ferndiagnose im Fernsehen.
Die ersten Einordnungen erklären solche Verbrechen zum quasi
übernatürlichen Ereignis oder pathologisieren sie. Beiden Erklärungen
gemeinsam ist ihre Distanz zur sozialen Realität. Es werden
gesellschaftlich entlastende Deutungen geliefert, um schnell wieder
"Normalität" herzustellen: Gegen eine "Heimsuchung" kann man nichts tun,
weil sie schicksalhaft ist. Und pathologische Täter können von einer
ansonsten angeblich intakten Gesellschaft isoliert werden.
Beide Interpretationen lassen die konstitutiven Merkmale von Gewalt
unberücksichtigt: Gewalt ist eine für jedermann verfügbare und
hocheffektive Ressource. Sie hat immer eine Vorgeschichte und ist stets,
gegen wen sie sich auch richtet, eine Machtaktion. Diese Einsicht
verunsichert ebenso, wie die Tatsache, dass Massaker jederzeit möglich und
kaum zu vermeiden sind, eben Kontrollverluste erzeugt.
Um sich nicht mit den Ursachen des strukturellen Kontrollverlusts
auseinandersetzen zu müssen und um sich zu beruhigen, zielt der
dominierende öffentliche Diskurs darauf, derartige Phänomene von
gesellschaftlicher Normalität abzutrennen.
Wo aber sind die beunruhigenden Quellen dieser Prozesse zu suchen? Ist es
die anthropologische Grundausstattung? Die Forderung nach Aufrüstung der
Polizei zwecks Überwachung "anfälliger" Institutionen wie Schulen, Kirchen
und Stadien ist populär, zielt aber nur auf Symptome. Um in die Tiefe zu
gehen, muss man bei den Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen
ansetzen.
Diese zeigen ein Doppelgesicht: Die Gestaltbarkeit von Lebenswegen wird
größer, aber der Gestaltungszwang nimmt zu. Allerdings ohne dass junge
Menschen genau wissen, ob sie Chancen und Optionen haben - und ohne dass
sie wissen, für welche davon sie sich entscheiden sollen, um in der
Gesellschaft eine Stellung und Anerkennung zu erreichen. Dabei gibt es für
sie drei Möglichkeiten: über Leistungen in der Schule, über äußerliche
Attraktivität oder über die Demonstration von Stärke. Das gesellschaftlich
Leitbild besagt, dass eine anerkannte Stellung nur zu erreichen ist, wenn
man andere unter "Kontrolle" hat und man sich von anderen unterscheidet.
Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen, und wer nicht wahrgenommen
wird, ist ein Nichts.
Es gehört zur Ideologie der Aufstiegsgesellschaft, dass Jugendliche
zumindest den Status ihrer Herkunftsfamilie erreichen müssen. Am besten
aber verbessern sie diesen noch. Das allerdings fällt immer schwerer, denn
heute sind eher prekäre Lebensplanungen und Lebensläufe der Normalfall.
Ambivalenz wird zum zentralen Lebensparadigma: Die Chancen zur eigenen
Lebensgestaltung steigen, aber die Berechenbarkeit der Lebensplanung nimmt
ab. Die prekäre Normalität wird zum Normalfall.
Wir fühlen uns sicher, wenn wir von Normalität sprechen, also in unserer
Welt nichts "auffällig" ist. Entsprechend groß ist die Irritation, wenn ein
scheinbar "ganz normaler" Junge unfassbare Gewalt anwendet. Es liegt dann
nahe, ihm den Stempel "psychisch schwer gestört" aufzudrücken. Sobald wir
ihn als "Anormalen" aus unseren Kreisen ausgegrenzt haben, können wir uns
behaglich zurücklehnen und uns in "unserer Normalität" wieder sicher
fühlen.
Normalität - das heißt in dieser Gesellschaft: Ein Mensch identifiziert
sich in hohem Maße mit den zentralen prämierten Werten wie Leistung,
Selbstdurchsetzung und Aufstieg. Diese Botschaft ist auch bei den
Jugendlichen angekommen und erzeugt einen hohen Druck.
An dieser Normalität, an diesen festen wie rigiden Normen zu scheitern, ist
umso schmerzhafter, je intensiver man diese Wertvorstellungen aufnimmt und
verinnerlicht; also wenn man zum Beispiel mit allen Mitteln das Abitur
machen will. Die Erschütterung der Normalität ist vorprogrammiert, wenn es
nicht klappt oder wenn Statusdruck erzeugt wird, aber kaum entsprechende
Statuspositionen zur Verfügung stehen. Eine mögliche Folge: Die Reaktionen
des "Gescheiterten" werden - gerade wenn er sich wie bei einem
Schulverweis, der tief in das weitere Leben eingreift, ungerecht behandelt
fühlt - außer Kontrolle geraten. Es entsteht ein "Tunnelblick", der kaum
noch ein anderes Konfliktlösungsmuster als die Gewalt zulässt. Erfurt hat
z. B. deutlich gemacht, wie prekär die gesellschaftliche Normalität ist,
wie schnell sie fundamental erschüttert werden kann.
Deshalb ist die Frage zu stellen, was Gewalt hervorbringt, warum ein Mensch
das Leben, auch das eigene, so radikal abwertet und so extrem auf die
Demonstration von Macht setzt.
Die Antworten führen in die Richtung sozialer Desintegration. Damit geht es
um das Problem der Anerkennung und im negativen Fall um
Anerkennungszerfall, wenn Jugendliche keine befriedigende Antwort auf die
basalen Fragen bekommen: Wer braucht mich? Wer hört mir zu? Wozu gehöre
ich? Bin ich gleichwertig? Werde ich gerecht behandelt? Werden meine
Gefühle akzeptiert?
Bedenkt man, dass niemand auf die Dauer ohne Anerkennung leben kann und
insbesondere Jugendliche unter den skizzierten Bedingungen der Ambivalenz
der Aufwachsens in einer prekären Normalität leben, dann ist hohe
Aufmerksamkeit auf das gesamte Setting der Anerkennungsquellen des sozialen
Umfeldes, der Entscheidungs- und Handlungskompetenzen des Täters sowie auf
die Beeinflussungsfaktoren wie vor allem den Medienkonsum zu richten. Diese
drei Komponenten sind in ihrem Zusammenwirken zu betrachten, um einschätzen
zu können, ob und wie sich in einem weiteren Schritt ein Eskalationsprozess
abzeichnen kann. Die Anerkennungsquellen stellen den zentralen Ansatzpunkt
dar.
Für Jugendliche sind drei Erfahrungsbereiche von höchster Relevanz: Die
Schule stellt vielfältige Anerkennungsressourcen bereit, insbesondere über
Leistung, um Voraussetzungen für eine positionale Anerkennung im späteren
Leben zu erwerben. Zugleich ist die Institution von Missachtungsaktivitäten
durch die Lehrerschaft, vor allem auch Mitschüler und Mitschülerinnen
durchsetzt.
Die Familie variiert in ihrer Bedeutung mit dem Lebensalter, gleichwohl
bleibt die Anerkennungsquelle der Liebe, mithin die emotionale Anerkennung.
Gleichzeitig ist der Entzug durchaus relevant, wenn etwa das
Statusverhalten von Eltern ausgeprägt ist, d. h. Leistung und
Aufstiegsambitionen an emotionale Anerkennung gebunden werden.
Die Gleichaltrigengruppe ist gerade in der Jugendphase von höchster
Relevanz sowohl bei gleichgeschlechtlichen wie geschlechtlich
unterschiedlichen Gruppen. Die Anerkennungsquellen sind Zugehörigkeiten und
Stärke sowie erwiderte Attraktivität.
Für Jugendliche stellt sich aus desintegrationstheoretischer Sicht nun die
Frage nach der Anerkennungsbilanz. Ist sie positiv, oder muss sich der
Jugendliche mit einem subjektiv empfundenen Anerkennungszerfall
auseinandersetzen?
Da es sich immer um Interaktionsprozesse mit Lehrern, Eltern und
Gleichaltrigen handelt, sind diese Kontakte oder Beziehungen bei einem
Anerkennungszerfall immer mit Ohnmachtsgefühlen verbunden. Da jede Person
immer darum bemüht ist, eine positive Identität aufzubauen und zu sichern,
stellt sich die Frage, wie Auswege aus dieser Ohnmacht bzw. Unterlegenheit
gelingen können. Dabei sind die Kompetenzen zur Bewältigung solcher
Konflikte vielfältig verteilt. Eine Variante ist die Überwindung der
negativen Anerkennungsbilanzen und damit verbundener Ohnmacht durch
Machtdemonstration. Gewalt ist die effektivste Variante, der die
Gewaltfantasien gewissermaßen "zwischengeschaltet" sind, sie vermitteln
also zwischen den Ohnmachtsempfindungen und der einsetzenden Planung von
Gewalthandlungen.
Diese Planungen sind zum Teil langfristig angelegt. Im Columbine-Fall
dauerte es über ein ganzes Jahr, denn es müssen die als effektiv
angesehenen Verhaltensstrategien ausgewählt werden. So werden, wie im Fall
von Emsdetten, die Gänge der Schule im Computer nachgebaut. Die medial
bereitgestellten Gewaltspiele stellen Verhaltensmuster dar, um das "Wie" zu
klären. Solche Einflüsse können also allenfalls die "Strategien"
beeinflussen, die der Gewalttäter wählt. Sie sind aber meist nicht
ausschlaggebend für die Entscheidung, das eigene Leben und das Leben
anderer auszulöschen. Von größerem Gewicht dafür ist etwas anderes: dass
der spätere Täter auf die oben genannten Fragen keine Antworten gefunden
hat.
Das "Ob", also die Gewaltfähigkeit, wird nicht durch das Medienangebot bzw.
die Mediennutzung erzeugt, sondern durch die nicht ertragbare negative
Anerkennungsbilanz hervorgerufen. Dies reicht aber zur Taterzeugung noch
nicht aus, denn es braucht Gewaltrechtfertigungen ("Warum"), um
Gewaltschwellen abzusenken. Das heißt, es geht um Schuldzuweisungen für die
negativen Anerkennungsbilanzen. Die Schule und die Gleichaltrigen sind
zentrale Ziele dieser Zuweisungen, die zugleich zeitlich und örtlich
berechenbar als Aktionsfeld der Machtdemonstration zur Verfügung stehen, um
eine möglichst hohe Opferzahl zu erzeugen. Die Täter in Columbine wollten
250 Opfer. Schließlich gehört zum Setting die Handlungs-, das heißt die
Waffenkompetenz ("Womit"), um tatsächlich die Unsterblichkeit, die
endgültige, zeitgeschichtliche Anerkennung, zu erreichen.
Die genannten Bedingungen sind die Voraussetzungen für einen äußerlich
unauffälligen, zunächst verdeckten Eskalationsprozess, dessen Richtung
zunächst offenbleibt.
Dieser Prozess kann zur Anerkennungssucht, zum Streben nach Überlegenheit
führen. Auch das Ziel der Gewalttat ist die Wiederherstellung von
Anerkennung. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Umwelt darauf negativ oder
positiv reagiert. In der Wahrnehmung eines Täters ist es schon positiv,
wenn er mit seinem Verbrechen berühmt wird. Grandios erscheint ihm die
Aussicht, sich durch Exzesse wie in Erfurt oder Littleton unsterblich zu
machen.
Rache als Ausdruck von Hass stellt nur ein vordergründiges Motiv für Gewalt
dar. Rache ist das letzte Glied in einer langen Ursachenkette. Man hat es
mit Anerkennungszerfall zu tun - mit einem Gefühl, das entweder nur
befürchtet wird oder sich auf Erfahrungen stützt.
Ein solcher Prozess greift die Substanz eines jeden Menschen an, wobei der
Punkt, wann dieser Anerkennungszerfall einsetzt und wann er einen
"Grenzwert" erreicht, von Fall zu Fall variiert. Es gibt keinen
Automatismus, der in Gewalt gegen andere mündet. Das bedeutet aber auch,
dass es kaum Vorwarnungen an die Außenwelt gibt. Dies ist der
gesellschaftliche Kontrollverlust. Deshalb führen solche Taten zu einer so
tiefen Verunsicherung der ganzen Gesellschaft.
Der Anerkennungszerfall ist also ein Prozess. Zentrale Normen wie die der
Unantastbarkeit menschlichen Lebens respektiert der Betroffene nur noch,
wenn er sich selbst von den anderen ausreichend anerkannt fühlt. Das heißt:
Die Anerkennung von Personen und der Respekt von Normen stabilisieren sich
gegenseitig. Dieser Prozess ist allerdings äußerst störanfällig, wenn
Lehrer oder Eltern das Gerechtigkeitsgefühl verletzen. Die Folgen: Soziale
Bindungen, emotionaler Rückhalt können verloren gehen. Dieser Weg in die
Einsamkeit kann für einen Menschen so bedrohlich werden, dass er die Folgen
seines Tuns für andere nicht mehr berücksichtigt. Die anderen verlieren an
Bedeutung und damit aber auch die sie schützende Norm der Unversehrtheit:
Die Gewaltschwelle sinkt bzw. löst sich völlig auf.
Der Prozess des Anerkennungszerfalls lässt sich am Beispiel des Massakers
in Littleton nachzeichnen, wo zwei Jugendlichen 15 Menschen ermordeten. Die
beiden Täter entwickelten gesellschaftlich durchaus prämierte
Überlegenheitsfantasien, mussten aber gleichzeitig erkennen, dass sie nicht
anerkannt waren. Sie wurden ignoriert, sodass sie ihre Einstellungen zum
Leben insgeheim über einen längeren Zeitraum radikalisierten: Ihr Hass
entlud sich gerade an besonders anerkannten Mitschülern, den Sportlern,
aber auch an den besonders verachteten Personen, den Hispanics. Während der
Tat lachten und kicherten die Mörder, um ein einziges und letztes Mal ihre
Überlegenheit gegenüber denen zu demonstrieren, die ihnen Anerkennung
verweigert hatten.
Die öffentliche Debatte über die Konsequenzen dreht sich immer wieder um
schärfere Kontrollen, vor allem aber um die Werteerziehung junger Menschen.
Doch empirische Studien zeigen: Unabhängig von ihrem persönlichen Schicksal
und ihrem Scheitern sind oft gerade Jugendliche mit eigenen rigiden
Normvorstellungen besonders gewaltbereit gegenüber anderen, die diese
Normen missachten. Die Aufwertung der Moral, auch der Forderungen nach
Gewaltfreiheit kann schnell ins Gegenteil umschlagen, wenn sich
Enttäuschung über die Nichtrealisierbarkeit von Lebensplänen einstellt.
Überdies: Wir haben es nicht mit einem "Werteverfall", sondern mit einer
Wertepluralisierung zu tun. Aber auch Wertepluralisierung erzeugt Probleme
der Geltung von Normen: Grenzen werden strittiger und Grenzüberschreitungen
häufiger.
Die Debatte setzt auf die Verbreitung von proklamierten Werten wie
Menschlichkeit und Solidarität. Doch die gesellschaftliche Realität wird
von anderen Werten bestimmt, von Werten, die auch besonders belohnt werden:
der Verabsolutierung von Selbstdurchsetzung, dem Aufstieg um jeden Preis,
dem Erfolg auf Kosten anderer. Dieser Wertefundus ist längst durchgesetzt.
Und die Jugendlichen haben die Doppelbödigkeit dieser Wertedebatte längst
durchschaut. Die Frage der Zukunft muss deshalb lauten: Woher bekommen
junge Menschen, die nicht mithalten können, ihre Anerkennung?
Die strukturellen Ursachen des Kontrollverlusts zur Vermeidung von
Amokläufen können nicht aufgehoben werden, weil wir die trigger causes,
also die situativen Auslöser, in der Regel nicht kennen. Die einzig
sinnvolle Konsequenz ist eine gesellschaftliche Debatte über eine neue
Kultur der Anerkennung. Dafür gibt es derzeit keinerlei Anzeichen, das
heißt, die Probleme des doppelten Kontrollverlustes werden weiterbestehen.
19 Mar 2009
## AUTOREN
Wilhelm Heitmeyer
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