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# taz.de -- Internationaler Tag der Pressefreiheit: Das Internet ist noch ein Z…
> Immer mehr türkische Medien versuchen, dem staatlichen Druck in den
> sozialen Medien zu entkommen. Wie lange geht das noch gut?
Bild: Printmedien geraten in der Türkei zunehmend unter Druck – und weichen …
In türkischen Tageszeitungen ist Kritik an der Regierung nicht erwünscht.
Deshalb weichen Journalist*innen wie Leser*innen immer mehr auf die
sozialen Netzwerke aus. Schon während der Gezi-Proteste 2013 informierten
sich viele Menschen bei Twitter, da die traditionellen Medien den Aufstand
verschwiegen. In den folgenden Jahren, in denen der Druck der Regierung
zunahm, entstanden neue Plattformen, die Nachrichten ausschließlich per
Livestream auf Periscope oder YouTube senden. Der Vorteil: Im Netz gibt es
noch relative Freiräume für kritische Berichterstattung – bislang.
Der Internet-TV-Sender Medyascope verbreitet seit 2015 Live-Nachrichten
über YouTube und Periscope. Rund 1,2 Millionen Menschen sehen jeden Monat
zu. Seit Januar arbeitet auch die ehemalige Cumhuriyet-Journalistin Canan
Coşkun in dem Team von 30 Personen. Die 32-Jährige war sechs Jahre
Gerichtsreporterin für Cumhuriyet, die älteste Zeitung der türkischen
Republik. Als auf Druck der Regierung die Spitze der Zeitung wechselte,
kündigte sie.
Im Vergleich zu ihrem früheren Arbeitgeber sei Medyascope liberaler, sagt
sie: „Das war eine sperrige Struktur dort. Hier hat man viel mehr
Freiräume, und das Team ist jünger.“ Weil sie im Internet publiziere, stehe
sie nicht mehr so stark unter Druck, sagt Coşkun. Obwohl sich die Meldungen
viel schneller verbreiten, hat sie allerdings zuweilen das Gefühl, dass die
Wirkung noch nicht so stark ist wie bei gedruckten Zeitungen: „Die
Leser*innen in der Türkei haben sich an das Internet noch nicht gewöhnt.
Den traditionellen Medien bleibt aber nichts anderes übrig, als sich zu
wandeln.“
Wegen ihrer Berichte in der Cumhuriyet hatte die Staatsanwaltschaft sechs
Verfahren gegen sie eingeleitet, Richter verurteilten sie vier Mal zu Haft-
und Geldstrafen. Wenn die Berufungsinstanz die Urteile bestätigt, muss
Coşkun ins Gefängnis.
## Internet-Medien unter Druck
Eine ihrer ersten Fragen bei Medyascope war: Wurden gegen Mitarbeiter
bereits Prozesse angestrengt? Die Antwort fiel negativ aus. Nur einmal war
eine Meldung gesperrt worden. „Das Internet ist ein Meer“, sagt Coşkun.
„Ich spürte, dass es ein Zufluchtsort ist. Die Regierung hat die Bedeutung
des Internets noch gar nicht richtig verstanden.“ Ob das so bleiben wird,
ist indes unsicher: „Dass wir hier momentan frei von Repression sind, heißt
natürlich nicht, dass es auch so bleiben wird.“
Die Regierung hat das Internet und seine Macht inzwischen sehr wohl im
Auge. Mit dem Vorwurf der Terrorunterstützung wurden dem türkischen
Innenministerium zufolge 2018 rund 110.000 Social-Media-Profile überwacht,
gegen 7.000 Nutzer*innen wurde ermittelt. Im September 2018 hat das
Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem Radio- und Fernsehsender mit
Internet-Auftritten sowie reine Internet-Medien eine Lizenz bei der
Rundfunkregulierungsbehörde RTÜK erhalten müssen. Darunter fallen auch
Medien, die aus dem Ausland auf Türkisch in die Türkei senden.
Viel passiert ist bislang nicht. İsmet Demirdöğen, RTÜK-Mitglied von der
oppositionellen CHP, vermutet hinter der Verzögerung wirtschaftliche
Interessen. Derzeit verhandelt die Regierung mit Netflix und
regierungsnahen Geschäftsmännern, deren Plattformen ebenfalls von dem
Gesetz betroffen sind. Aber Demirdöğen fürchtet: „Wenn die Verordnung erst
einmal durchgesetzt wird, wird es zu großen Beschränkungen im Internet
kommen.“
Denn ein Artikel des Gesetzes erlaubt es, Inhalte ohne Ermittlungen eines
Richters zu löschen oder den Zugang zu blockieren. Regierungsvertreter
beteuern zwar, sie wollten nicht die Meinungsfreiheit einschränken, doch
die Journalist*innen sind misstrauisch. Einem Länderbericht der NGO Freedom
House zufolge gehörte die Türkei von Mitte 2017 bis Mitte 2018 zu den
Ländern, die Twitter und Facebook am häufigsten aufforderte, Inhalte zu
löschen.
## Journalismus mit dem Telefon
Das neue Gesetz könnte auch die Plattform Özgürüz mit Sitz in Berlin
betreffen, die über Periscope sendet. Wenige Tage bevor Özgürüz 2017 online
ging, wurde die Website in der Türkei gesperrt. Um die Blockade zu umgehen,
wich Özgürüz in die sozialen Medien aus: „Wir sagten uns, dann senden wir
über Periscope. Und wir nutzen die sozialen Medien als Fernsehsender“, sagt
Zübeyde Sarı, die Özgürüz mit Can Dündar leitet. Vor den Wahlen im Juni
2018 habe Özgürüz monatlich 61 Millionen Zuschauer*innen erreicht. „Ich
hätte gelacht, wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, du musst mit
dem Telefon arbeiten. Und zwar nur mit dem Telefon.“
Die meisten Reporter*innen, die für Özgürüz arbeiten, haben inzwischen
keinen Presseausweis mehr. Bei Recherchen sei sie immer wieder von Polizei
behindert worden, in Gerichtssäle durfte sie nicht, sagt die 36-Jährige.
Özgürüz kann deshalb nicht länger für die Sicherheit seiner Reporter*innen
in der Türkei garantieren. „Wenn dort jemandem etwas passiert, sind uns
hier die Hände gebunden“, sagt Sarı. Özgürüz sendet derzeit ausschließl…
per Internetradio. Sarı hält das inzwischen für einen Vorteil: „So
erreichen wir jede Ecke in der Welt. Wir jammern nicht, sondern suchen nach
Methoden, wie wir Widerstand leisten und unsere Stimme hörbar machen
können.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
3 May 2019
## AUTOREN
Ali Çelikkan
## TAGS
taz.gazete
Politik
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