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# taz.de -- Immer noch steht Safwan Eid vor Gericht. Er soll als Brandstifter d…
## Im Zweifel für den Angeklagten
Richter Rolf Wilcken gilt in Kollegenkreisen als besonnener und liberaler
Mann. Ein Jurist, der durch gelegentlich nachlässige Kleidung auffällt,
aber keinen Spaß kennt, wenn es um die Anwendung des Rechts geht. Er leitet
seit 54 Verhandlungstagen das Verfahren gegen den Libanesen Safwan Eid vor
der Jugendstrafkammer des Lübecker Landgerichts. Eid ist angeklagt, in der
Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1996 das Asylbewerberheim in der Lübecker
Hafenstraße angezündet zu haben. Zehn Menschen starben.
Zu Beginn des Prozesses Mitte September, als der Gerichtssaal kaum
ausreichte, die Interessierten aufzunehmen, damals, als nicht nur Lübeck
das Gerichtsverfahren um den Brand in einem Flüchtlingsheim ein
Gesprächsthema ersten Ranges war, da wirkte der Richter fast unwirsch ob
der Aufmerksamkeit, die ihm und anderen Prozeßbeteiligten gezollt wurde.
Wilcken gab lange nicht zu erkennen, wie er dem Aufmarsch der Zeugen und
Sachverständigen gegenüberstand. Am 23. April jedoch, kurz vor Beginn der
vierwöchigen Verhandlungspause, ging er aus der Deckung. In einer
vorläufigen Beweiswürdigung gab Wilcken zu verstehen, wie er, seine zwei
Richterkollegen und die beiden Schöffen die Beweisaufnahme, die mehr als
100 Zeugen und Sachverständigen verstanden haben: Die vorgelegten Beweise
reichten nicht für eine Verurteilung des Angeklagten aus. Vor allem aber
erscheine ihm ein mögliches Tatmotiv Safwan Eids „sehr, sehr fragwürdig“.
Aus Kreisen der Staatsanwaltschaft hieß es gestern mit Blick auf den
heutigen 55. Verhandlungstag, daß mit dieser richterlichen Würdigung die
Anklage als gescheitert betrachtet werden müsse. Mehr noch: Würden
Verteidigung und Staatsanwaltschaft ihre etwa 50 noch anstehenden
Beweisanträge zurückziehen – wozu die Staatsanwaltschaft bei entsprechendem
Verhalten der Verteidigung bereit sei –, wäre die Beweisaufnahme beendet,
der Weg frei für die Plädoyers von Anklage und Verteidigung. Und das hieße:
Staatsanwalt Michael Böckenhauer wird sich dem Begehren der Verteidigung
anschließen und auf Freispruch plädieren. Schon Anfang des Jahres, nachdem
die ersten Hausbewohner als Zeugen vernommen worden waren, hatte
Böckenhauer mitgeteilt, daß sein Seelenfrieden nicht davon abhänge, daß Eid
verurteilt wird: „Grundsätzlich ist mir der Freispruch eines Schuldigen
lieber als die Verurteilung eines Unschuldigen.“
In der Tat haben die Verteidigerinnen Gabriele Heinecke und Barbara
Klawitter die Anklageschrift im Laufe der Verhandlung gründlich zerbröselt.
Vor allem auf drei Säulen stützte sich die Anklage: Der Rettungssanitäter
Jens L. will in einem Omnibus gehört haben, daß Safwan Eid „Wir war'n 's“
gesagt hat. Zudem hatten etliche Nachbarn der Eid-Familie und andere
Hausbewohner in ersten polizeilichen Vernehmungen ausgesagt, daß es Stunden
vor dem Brand zu Zwistigkeiten im Flüchtlingsheim gekommen sei, in die auch
der später Angeklagte verstrickt gewesen sei. Und als die
Staatsanwaltschaft die Gespräche Eids in der Untersuchungshaft abhören
ließ, wurde auf einem Tonträger festgehalten, wie der Bruder des
Angeklagten mitteilt, die Hausbewohner in ihren Aussagen auf Linie gebracht
zu haben.
Doch all diese Indizien konnten während der Verhandlung nicht erhärtet
werden. Die Aussage des Rettungssanitäters klang redlich, doch blieb offen,
ob er sich womöglich verhört hatte. Die Aussagen der überlebenden
Hausbewohner wirkten zwar während der Verhandlung wie einstudiert, doch
ließ sich nicht klären, ob ihre ersten Mitteilungen vor der Polizei nicht
mit dem Vorsatz interpretiert wurden, sie den Vorwürfen dem Festgenommenen
gegenüber anzupassen. Zwar wurden Mißstimmungen unter den Hausbewohnern
sichtbar – aber weder konnten sie beweisen noch nahelegen, daß Eid sie als
Anlaß genommen haben könnte, das Feuer zu legen.
Zudem waren sich die Brandgutachter, gestützt durch etliche Zeugenaussagen,
zwar weitgehend einig, daß das Feuer im ersten Stock des Hauses
ausgebrochen ist. Doch letzte Zweifel an einem zweiten Ursprungsbrandherd,
beispielsweise im Parterre des Hauses, konnten nicht ausgeräumt werden –
womit die Möglichkeit eingeräumt wurde, daß das Feuer durch Mitwirkung von
außen gelegt worden sein könnte. Und nicht zuletzt macht die Entscheidung
des Gerichts, die Abhörprotokolle nicht als Beweismittel zuzulassen, ein
Plädoyer im Sinne der Klageschrift unmöglich.
All diese Erwägungen zusammengenommen, kann Staatsanwalt Böckenhauer nur zu
einem Schluß gekommen sein: Seine Verdachtsmomente samt einem auch von ihm
nie benannten möglichen Tatmotiv reichen für eine Verurteilung nicht aus.
Was prozessual jetzt noch folgt, falls sich die Nebenkläger dieser Regie
fügen, ist absehbar: Die Plädoyers fänden in einer Woche statt, der
abschließende Richterspruch wiederum acht Tage später. Mitte Juni könnte
der Prozeß beendet sein – und damit die Aufenthaltsduldungen sowohl des
Angeklagten, seiner Familie sowie der anderen Hausbewohner hinfällig.
Tragisch bleibt, daß sich die Brandkatastrophe, die ein Teil der
Unterstützer Safwan Eids stets als rechtsradikalen Brandanschlag
interpretiert wissen will, vermutlich nie wird aufklären lassen. „Es ist
nur schwer verständlich“, heißt es in einer Erklärung der Internationalen
Unabhängigen Untersuchungskommission zum Lübecker Flüchtlingsheimbrand,
„warum das Verfahren gegen die ursprünglich Verdächtigten aus Grevesmühlen
kurz nach ihrer Festnahme fallengelassen wurde.“ Die dem Angeklagten
gewogene Kommission aus niederländischen, britischen, italienischen und
französischen Juristen fordert wie auch Verteidigerin Heinecke eine
Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die früh verdächtigten Skins und
Neonazis aus Grevesmühlen.
Daß die polizeilichen Recherchen vor allem in der linksliberalen
Öffentlichkeit immer unter dem Verdacht standen, Rechtsradikale zu
begünstigen, daß die Ermittlungen unter dem öffentlichen Druck litten,
möglichst rasch einen kahlgeschorenen Täter festzunehmen, wird kaum in
Rechnung gestellt. Gegen die Grevesmühlener, die das Klischee der
vermuteten Täter perfekt bedienten, ließ sich der Verdacht jedenfalls nicht
erhärten. Die jungen Männer verfügen über nahezu wasserdichte Alibis für
die von allen Brandsachverständigen angenommene Brandzeit – geglaubt wird
diesem Umstand seitens der Eid-Unterstützer aber nicht.
Der Tod von zehn Flüchtlingen wird somit Stoff für Legenden bleiben. Neue
Tatsachen über das, was vor dem Brandausbruch in und um das Haus in der
Lübecker Hafenstraße passierte, sind vielleicht nicht mehr zu erwarten.
28 May 1997
## AUTOREN
Jan Feddersen
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