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# taz.de -- Im „Verein“ ist nichts mehr, wie es war
> Der Kreuzberger „Verein SO 36“ wird fünfzehn Jahre alt / Vom Motor der
> behutsamen Stadterneuerung zur Flickschusterei in einem Bezirk, der
> einmal mehr mit dem Rücken zur Wand steht  ■ Von Uwe Rada
„Kreuzberg. Abgeschrieben. Auferstanden“ – mit dieser optimistischen
Prognose titelte der „Verein SO 36“ Mitte 1989 seinen ersten Band der
Kreuzberger Stadtteilgeschichte. Heute hat sich nicht nur das Gesicht des
Bezirks geändert, auch im „Verein“, wie er im Kiez ganz selbstverständlich
genannt wird, ist nichts mehr, wie es war. Nachdem die Gelder für die
Kreuzberger Stadterneuerung zusammengestrichen wurden, mußte der
Mieterladen des Vereins in der Wiener Straße geschlossen und der Laden in
der Cuvrystraße teilweise untervermietet werden. Wenig Grund zum Feiern
also. Die Senatsgelder sind auf 255.000 Mark geschrumpft. Von der
Mieterberatung mußte sich der „Verein SO 36“ Ende 1990 lösen, geblieben i…
die Gemeinwesenarbeit im Kiez: mit Gewerbetreibenden, SchülerInnen,
ImmigrantInnen, Mieterinitiativen und sozialen Projekten, gegen Verdrängung
durch Mieterhöhungen und Verkehrslawine.
Die Geschichte des „Vereins SO 36“ ist eng verbunden mit der
Stadterneuerung im Kreuzberger Südosten. Verlief die Kahlschlagsanierung
durch den SPD-Senat im Weddinger Sanierungsgebiet Gesundbrunnen noch
reibungslos, stieß sie am Kottbusser Tor auf den wachsenden Widerstand von
Anwohnern und Stadtteilinitiativen. Die Abrißbirne geriet ins Trudeln,
Stadtreparatur wurde das Gebot der Stunde. Insbesondere für den hinteren
Teil von SO 36, um den Görlitzer Bahnhof, die Reichenberger und die
Wrangelstraße sollten neue „Strategien“ der Stadterneuerung erprobt werden.
1977 schließlich war es soweit. Nach monatelangem Tauziehen wurde von der
Senatsbauverwaltung der Wettbewerb „Strategien für Kreuzberg“
ausgeschrieben. Das „Strategiengebiet“, wie es auch heute noch oft genannt
wird, wurde nicht zuletzt durch das Engagement des „Vereins SO 36“ zum
Motor dessen, was als „behutsame Stadterneuerung“ mehrfach international
prämiert wurde.
„Das, was wir letztlich an Erfolgen errungen haben, das
Sozialplanverfahren, die eigentümerunabhängige Mieterberatung oder die
festgelegten Einstiegsmieten“, weiß Werner Orlowsky, Ex-Baustadtrat und
nunmehr im Vereinsvorstand, „mußte in all den Jahren mühsam erkämpft
werden.“ Ebenso die Beteiligung an der Mittelvergabe. Weil eine
Bürgerbeteiligung rechtlich nicht vorgesehen war, kam man im Juni 1978 auf
die Idee, einen Trägerverein für die Vergabe der 70 Millionen aus dem
„Zukunftsinvestitionsprogramm“ des Senats zu gründen, die Geburtsstunde des
„Vereins SO 36“.
Die Institutionalisierung der Bürgerbeteiligung stieß freilich nicht
überall im Kiez auf ungeteilte Freude. Insbesondere die Bürgerinitiative
(BI) SO 36, entstanden aus einem stadtteilpolitischen Stammtisch,
fürchtete, daß durch die Vereinsgründung der damalige Unmut in
kontrollierbare Bahnen gelenkt werden solle. Eine Sicht, die Orlowsky
durchaus nachvollziehen kann: „Die 70 Millionen waren ja auch ein
geschickter Schachzug von Ristock, die privaten Eigentümer ins
Strategiengebiet zu holen.“ Binnen kürzester Zeit habe zum Beispiel die
berüchtigte Vogel/Braun-Gruppe über 200 Häuser aufgekauft, anders als etwa
am Kottbusser Tor, wo der privaten Samog jedes Haus vor der Nase wegbesetzt
worden sei. Dennoch glaubt Orlowsky, daß die Vereinsgründung ein richtiger
Schritt zur richtigen Zeit war. Die Bürgerinitiative SO 36 („wenn man so
will, die ,Bergpartei‘ Kreuzbergs“) wäre irgendwann im Sand verlaufen,
meint auch Rainer Sauter, einer von vier „Gemeinwesenarbeitern“ im „Verein
SO 36“: „Es war uns aber schnell klar, daß auch der Verein kein
vollständiger Stadtsowjet werden kann.“
Dafür sorgten allein schon die Quertreiber aus dem Bezirksamt. So war
bereits im Juni 1977, trotz Protesten der Anwohner und der Besetzung durch
eine Bürgerinitiative, die alte Feuerwache in der Reichenberger Straße 66
abgerissen worden. Ein ähnliches Schicksal drohte auch den Hinterhäusern
der sogenannten „Haberkernblöcke“ zwischen Lübbener und Sorauer Straße.
Nachdem zwar dort der Abriß verhindert werden konnte, Hunderte von
Wohnungen aber noch immer leerstanden, platzte der BI SO 36 im Februar 1979
der Kragen. Kurzerhand wurden zwei Wohnungen in der Lübbener und Görlitzer
Straße „instandbesetzt“, ein Signal, das verstanden wurde in Kreuzberg.
Weitere Wohnungen und schließlich ganze Häuser folgten, der Versuch des
Senats, durch die Räumungen am 12. 12. 1980 die Besetzer zu isolieren,
scheiterte. Die ersten Straßenschlachten und die Sympathie der Kreuzberger
für die Instandbesetzer führten nicht zuletzt dazu, daß Kreuzberg in den
folgenden Jahren zum Vorzeigeobjekt der behutsamen und sozialen
Stadterneuerung werden sollte. Die Erfolge freilich ließen auf sich warten.
Kreuzberg war Mitte der 80er Jahre trotz aller Bemühungen immer noch ein
Randbezirk. Ein Drittel der Arbeitsplätze war weggefallen, das
Pro-Kopf-Einkommen in der Wiener- oder Wrangelstraße war das geringste in
der ganzen Stadt. „Aber auch die Arbeit im Verein“, sagt Erich Beyler,
Lehrer in der Kiezschule in der Skalitzer Straße und Vorstandsmitglied, sei
zusehends verkrustet. „Die Mieterberatung wurde bürokratisch wie das
Bezirksamt, und die SPD versuchte dem Verein finanziell das Wasser
abzugraben.“
Schelte gab es immer wieder auch aus dem Kiez selbst: Von Stadtteilgruppen
wurde die öffentliche Modernisierungsförderung als Subvention der
Spekulanten kritisiert. Statt mit den Eigentümern zu verhandeln, solle man
lieber auf den Druck von Initiativen setzen. Instandsetzung statt
Modernisierung, so die Forderung auch an den Verein, dem immer wieder
vorgeworfen wurde, „Aktivitäten von unten“ zu behindern. „Das einzige, w…
uns in dieser Situation retten konnte, war die Öffnung hin zu neuen
Themen“, sagt Beyler, der dem neuen Schwung das Motto gegeben hatte:
„Glasnost im Verein SO 36“. Statt um Traufhöhen und Fassadengestaltungen
wollte man sich nun auch stärker um die sozialen Probleme im Kiez kümmern.
Ein Obdachlosenprojekt, ein Treberprojekt sowie die unspektakuläre Arbeit
mit AusländerInnen im Kiez bildeten so die Vorläufer der heutigen
Gemeinwesenarbeit.
Rückschläge gab es freilich immer wieder. So wurden im Januar 1988, trotz
vielfacher Proteste und der am 1. Mai 1987 offenkundig gewordenen sozialen
Lage in Kreuzberg, die Mietpreisbindung aufgehoben und die Gelder für
öffentliche Förderungen zusammengestrichen. Das Ergebnis: Bereits 1989 hat
die Zahl der teuren privatmodernisierten Wohnungen diejenigen, die mit
öffentlichen Geldern gefördert wurden, eingeholt.
Im November 1989 war es schließlich endgültig vorbei mit dem bequemen
Inseldasein Kreuzbergs im Schatten der Mauer. „Heute stehen wir vor einer
völlig neuen Situation“, meint Werner Orlowsky. „Diejenigen, die schon vor
einigen Jahren von Umstrukturierung geredet haben“, räumt er ein, „haben
heute recht behalten.“ Nun müßten sich einmal mehr alle Gruppierungen und
Initiativen im Kiez zusammensetzen, „vielleicht“, so Orlowsky, „um nach
fünfzehn Jahren neue Strategien für Kreuzberg zu entwickeln“. Die
Stadterneuerung, resümiert er die letzten Jahre, habe den Beginn des Elends
im Grunde nur aufgeschoben. Die Antwort des Vereins SO 36: statt
Resignation nun vermehrt Arbeit vor Ort, Bürgerrechtsarbeit, wie es Rainer
Sauter mittlerweile nennt. Das Prinzip blieb sich gleich: „Hilfe zur
Selbsthilfe und die Leute aktivieren, daß sie für ihre Rechte aufstehen“.
Aus aktuellem Anlaß wird die für den 15. Juni angekündigte Geburtstagsfeier
des Vereins SO 36 im „Kato“ zugunsten einer Veranstaltung zur Situation der
Kreuzberger ImmigrantInnen verschoben. Termin wird bekanntgegeben.
4 Jun 1993
## AUTOREN
uwe rada
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