# taz.de -- „Ich verstehe echt nicht, warum die Leute feiern“ | |
> INTERVIEW Der südafrikanische Literaturprofessor Grant Farred über die | |
> Unmöglichkeit, Südafrika zu unterstützen, über seine glühende Liebe zum | |
> FC Liverpool und über den Zusammenhang zwischen den Denkern Steven | |
> Gerrard, Antonio Gramsci und Carl Schmitt | |
INTERVIEW CONSTANTIN WISSMANN | |
taz: Mr. Farred, wie enttäuscht sind Sie, dass Südafrika aus dem WM-Turnier | |
flog? | |
Grant Farred: Gar nicht. | |
Unbegreiflich – da Sie doch in einem Township aufwuchsen und Fußballfan | |
sind. | |
Ich glaube nicht an diese Nation. Das Ende der Apartheid hat das Leben der | |
schwarzen Mehrheit nicht grundsätzlich verbessert. Ich fühle nichts für | |
dieses Land. Jetzt herrscht ein absolut korruptes Regime, das Mördern wie | |
dem Präsidenten von Simbabwe, Robert Mugabe, zur Hilfe eilt. | |
Haben Sie keine Hoffnung, dass sich Südafrika in eine wirklich | |
demokratische Gesellschaft entwickeln kann? | |
Hoffnung? Das wäre der Ansatz von Antonio Gramsci, aber ich glaube nicht | |
daran. Ich glaube einfach nicht an eine progressive Gesellschaft. | |
Freut Sie nicht der Optimismus, der mit der WM nach Südafrika gekommen ist? | |
Ja, die Leute sind optimistisch. Sie sprechen von der großen Zukunft dieser | |
wunderbaren Regenbogennation Gottes: Lasst uns alle zusammen grillen und | |
über die alten Zeiten sprechen. | |
Was stört Sie? | |
Dass das alles Mist ist. Menschen meiner Generation, die die Boykotte von | |
1980 erlebt haben, geht es gut, vielen jedenfalls. Aber der ANC war immer | |
eine korrupte Gruppe der Mittelklasse. Für 90 Prozent der schwarzen | |
Bevölkerung – der Arbeiterklasse in den Townships, wo ich aufgewachsen bin | |
– war das Ende der Apartheid jedoch eine heftige Enttäuschung. Sie können | |
jetzt zwar wählen, aber das macht ihr Leben nicht wirklich besser. Die | |
Gesellschaft ist gewalttätiger geworden, Bildung und Wohnsituation haben | |
sich drastisch verschlechtert. Natürlich ist das immer noch ein | |
faszinierendes Land. Aber identifizieren kann ich mich damit nicht. | |
Warum können Sie sich nicht einfach mitfreuen? | |
Weil ich nicht verstehe, warum die Leute überhaupt feiern. Die Hälfte von | |
denen, die durch die Weltmeisterschaft einen Job bekommen haben, sind ihn | |
danach wieder los. Auch jetzt ist der Grad der Gewalt, des Verbrechens und | |
der Zerstörung immer noch hoch, was von den Medien ziemlich vertuscht wird. | |
Dazu kommen Repressalien der Regierung – eingeschlossene Gemeinden, | |
gewalttätige Räumungen. Mein Gott, das ist wie 1978 in Argentinien. | |
Das Ende der Apartheid war mit vielleicht nicht einlösbaren Hoffnungen | |
verbunden. Könnte die WM nicht ein Stück von der Euphorie zurückbringen? | |
Natürlich ist das ein Riesenereignis für Afrika, diese WM, sie ist jetzt | |
schon von historischer Bedeutung. Schon jetzt ist klar, dass es messbare | |
ökonomische Verbesserungen geben wird. Und ja, für jemanden wie mich, der | |
Steine gegen die Apartheid geworfen hat, hat das auch etwas Wunderbares, | |
dass hier eine Weltmeisterschaft stattfindet. Aber ob sich das Leben der | |
Menschen wirklich verbessern wird? | |
Lassen Sie uns feiern! | |
Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht sollte man einfach die große Party | |
genießen. Das Problem mit Partys ist nur: Erstens muss man danach immer | |
aufräumen, und zweitens wacht man mit einem Kater auf. Wer bezahlt dann die | |
Rechnung für die Aspirin? | |
Sie stehen ja ohnehin auf den FC Liverpool, nicht wahr? | |
Ja – und vielleicht war dieser Verein ein möglicher Ausweg für mich aus | |
dieser Nation, denn diese Nation hat aus ihrer Konstruktion und ihrem Sein | |
heraus keinen Fortschrittsgeist. | |
Weshalb Liverpool? Ein Verein aus dem Land der Kolonialisten, der sich dazu | |
mit schwarzen Spielern lange schwertat. | |
Das weiß ich selbst nicht genau. Bevor John Barnes – der erste schwarze | |
Star – da war, war das sehr schmerzhaft für mich. Liverpool hatte kein | |
Problem damit, während der Apartheid weiße südafrikanische Spieler zu | |
verpflichten. Der erste schwarze Spieler, der Linksaußen Howard Gayle, der | |
1980 zum Club kam, wurde mit Bananen beworfen … | |
… und keiner tat was. | |
Erst Kenny Dalglish machte mit diesem Dreck Schluss. John Barnes wurde | |
unter ihm zum meiner Meinung nach besten englischen Spieler. Das war | |
natürlich unglaublich wichtig für mich. | |
Wie kam es schließlich zu Ihrer Obsession mit dem FC Liverpool? | |
Per Zufall, weil ich in der Zeitung einen Artikel las. Erst danach | |
entdeckte ich die Arbeiterklassewurzeln des Clubs. Das gefiel mir. | |
Welche Rolle spielte der Fußball für Sie in Ihrer Kindheit im Südafrika der | |
Apartheid? | |
Das hört sich jetzt sehr pathetisch an, aber auf gewisse Weise hat die | |
Liebe zum englischen Sport mein Leben gerettet. Ich wuchs ja in einem | |
Township auf, wo alle nur Afrikaans sprachen und niemand die Schule | |
abschloss. Durch den Sport konnte ich auf eine Mittelklasseschule gehen. | |
Trotzdem verlor ich meine Wurzeln nicht, weil ich auf der Straße mit den | |
Leuten aus dem Township spielte. So konnte ich mich in beiden Welten | |
bewegen. | |
Gab Ihnen der Fußball Zuversicht, ein besseres Leben zu erreichen? | |
Nein, ich wusste ja, dass ich wahrscheinlich nie für Liverpool spielen | |
würde. Hoffnung gab mir die Literatur. Mit 18 hatte ich die meisten | |
Klassiker gelesen. Meine Welt war offen, obwohl es die Grenzen der | |
Apartheid gab. Meine Lehrer sagten immer: „Sie können dir alles wegnehmen, | |
aber deine Bildung behältst du für immer.“ Keiner weiß, was Menschen | |
wirklich motiviert. Ich habe zwei Dinge gefunden: die Liebe zur Literatur | |
und die Fernbeziehung zum FC Liverpool. | |
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie den einstigen Liverpool-Trainer Bill | |
Shankly vollkommen verstehen, wenn er sagt, Fußball sei wichtiger als Leben | |
und Tod. Was meinen Sie damit? | |
Meine Frau, meine Kinder, meine Mutter – die sind nicht verhandelbar, alles | |
andere schon. Mein Leben oder Liverpool? Keine Frage, Liverpool. Ich habe | |
John Barnes getroffen, bin also mit Gott gegangen. Ich habe den wahren Weg, | |
den „Liverpool way“, kennen gelernt. Mehr brauche ich nicht. Alles andere | |
wäre inkonsequent, böse. Das Leben ist sehr einfach, finden Sie nicht? | |
Gut, und jetzt machen Sie mal die Ironielampen aus. | |
Wieso? Es ist die Wahrheit. Der „Liverpool Way“ ist ein ethisches Konzept. | |
Es verlangt, dass man sein Leben für den Club gibt, dass man jede Minute | |
auf dem Platz für ihn kämpft. Das macht Siege wie 2004 im | |
Champions-League-Finale gegen AC Mailand nach einem 0:3 Rückstand möglich. | |
Wir hören nie auf, an dieses Trikot zu glauben. | |
Das mag vielleicht für Sie gelten. Aber ist Fußball generell wichtiger als | |
Leben und Tod? | |
Gut, vielleicht stimmt das nicht für den Rest der Welt, aber das ist mir | |
egal. Für mich, in meiner Welt stimmt das. Wie Albert Einstein schon sagte: | |
Vorstellung ist wichtiger als Wissen. Und für jemanden wie mich ist das | |
wahr, denn schließlich lebe ich in meinem Kopf. Sonst könnte ich ja kein | |
Akademiker sein. Und ich brauche den Rest der Welt gar nicht als | |
Bestätigung. | |
Ist Fußball für Sie also wichtiger als Politik? | |
Aber klar. Mir ist egal, wer in Südafrika zum Präsidenten gewählt wird, | |
aber es ist mir sehr wichtig, wen Liverpool als nächsten Trainer | |
verpflichtet. | |
In Ihrem Buch schreiben Sie aber, dass unter der Apartheid alles immer | |
politisch war, und Sport im Besonderen. | |
Das ist der große Widerspruch, mit dem ich leben muss. Natürlich würde ich | |
gern einfach so Fußball spielen und schauen, ohne politischen | |
Hintergedanken. Aber das geht nicht. Mir war immer bewusst, als Schüler, | |
dass ich ein „Nicht-Bürger“ in meinem eigenen Land war, dass es die | |
Schilder gab, auf denen „Nur für Weiße“ stand. Ich bin auch Fan des | |
chilenischen Anti-Pinochet-Vereins Colo-Colo, den ich während der Diktatur | |
spielen sah. Ich fragte mich, wie man unter so einem Regime Fußball spielen | |
konnte. Aber für die Menschen wäre es viel schlimmer gewesen, nicht zu | |
spielen. | |
Fansein ist Ihnen eine Form der politischen Parteinahme? | |
Wer in Südafrika aufgewachsen ist, weiß, wie eng Sport mit der Politik | |
verknüpft ist. Ich könnte zum Beispiel nie Fan von Real Madrid sein, obwohl | |
ich Spieler wie Alfredo Di Stefano und Zinedine Zidane bewundert habe. Wie | |
kann ich einen Club unterstützen, dessen Stadion nach einem reuelosen | |
Francisten, Santiago Bernabéu, benannt ist? Fansein ist eine hochintensive | |
emotionale Beziehung, geformt von Politik. Das Konzept habe ich von Carl | |
Schmitt und seinem Feind-Freund-Schema. Schmitt war ein widerlicher Mensch | |
… | |
… aber in Bezug auf Fußball hat er Recht? | |
Ich finde, dass sich kein anderes Team gegen Liverpool aufstellen dürfte. | |
Alle unwürdig! Vor allem Everton-Fans. Warum wachen die überhaupt morgens | |
auf? Sie müssen doch wissen, dass sie ein unwürdiges Leben führen! Schmitt | |
sagt: „Ich kann dich sogar mögen, aber wenn du mein Feind bist, habe ich | |
jedes Recht, dich zu töten.“ Also, so weit würde ich nicht gehen. Ich würde | |
Everton-Fans nicht töten. | |
Das hört sich alles ziemlich archaisch und in gewissem Sinne romantisch an. | |
Ist das mittlerweile nicht alles obsolet? Fußball ist doch einfach ein | |
Geschäft, nichts weiter. Selbst Ihr FC Liverpool ist doch nur ein Vehikel | |
für Investoren. | |
Bill Shankly sagte einmal, „Fußball, wie ich ihn sehe, ist eine Form des | |
Sozialismus ohne die Politik“. Natürlich fällt es schwer, daran zu glauben, | |
wenn ein Spieler 150.000 Euro in der Woche verdient. Das ist einfach | |
obszön, vor allem in Liverpool. Aber trotzdem, ein Spieler wie Steven | |
Gerrard glaubt immer noch an den „Liverpool Way“. | |
Glauben Sie ernsthaft, dass Gerrard bei Liverpool für die Arbeiterklasse | |
kämpft? | |
Steven Gerrard ist auf seine Art ein tiefer Denker. Er denkt die ganze Zeit | |
an Liverpool. Manche Spieler, die auch alles für den Club geben, ziehen das | |
Trikot aus und tun normale Dinge, Gerrard nicht. Liverpool ist ein | |
fundamentaler Teil seines Lebens. | |
Das ist eine Ausnahme? | |
Klar. Die meisten Spieler haben zumindest eine Ahnung davon. Vielleicht ist | |
das die letzte Generation von Spielern, die etwas repräsentieren. | |
Vielleicht wird die Kapitalisierung des Spiels das Spiel bald zerstören. | |
Aber wenigstens gibt es noch Hoffnung. | |
25 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
CONSTANTIN WISSMANN | |
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