# taz.de -- „Ich habe den Kids meine Musik rübergebracht“ | |
> DER MUSIKPRODUZENT Seine Faszination für deutschen Krautrock führte den | |
> Briten Mark Reeder 1978 nach Westberlin. Neugierig auf das Berlin hinter | |
> der Mauer, wurde der Osten bald sein Abenteuerspielplatz. Ein Gespräch | |
> mit dem Gründer des Elektro-Labels MFS über eingeschleuste Musik, | |
> illegale Konzerte und eine Plattenproduktion in der DDR | |
INTERVIEW GUNNAR LEUE FOTOS ALISA RESNIK | |
taz: Herr Reeder, die Briten lieben Berlin, und die Berliner erwidern diese | |
Liebe. Zuletzt war die Ausstellung über Berlins Lieblingsbriten David | |
Bowie, ein richtiger Publikumsmagnet. Nervt Sie der Hype um ihn? | |
Mark Reeder: Ne, ich fand die Ausstellung gut. Und Bowie war ja wirklich | |
wichtig für Berlin. Die Aura der abgefahrenen Stadt mit ihren Freiräumen | |
für Künstler, in der man billig leben konnte, das wirkt ja irgendwie bis | |
heute nach. | |
Klaus Wowereit hat den Spruch „Arm, aber sexy“ in die Welt gesetzt, aber | |
entstanden ist der Mythos der Kreativen- und Partystadt eigentlich in den | |
Siebzigern, nicht zuletzt durch die Briten, oder? | |
Also, als Bowie damals nach Berlin ging, haben sich seine Landsleute zu | |
Hause schon sehr gewundert. | |
Sie sind 1978 nach Berlin gekommen. Können Sie sich noch an Ihren ersten | |
Eindruck von der Stadt erinnern? | |
Klar, es war Scheißwetter, Dauernieselregen. Ich stand vor dem Fernmeldeamt | |
in der Winterfeldtstraße und dachte: Ist ja wie zu Hause in Manchester. Das | |
Ambiente mit den Gaslaternen wirkte so miefig und düster, dass ich mich | |
gleich heimisch fühlte. Am Ende der Straße war eine Kneipe. Hinter dem | |
Tresen stand eine riesengroße Transe mit knallroten Haaren und grellem | |
Make-up. Trotz Punk – so was hat man zu der Zeit in Manchester nie in der | |
Öffentlichkeit gesehen. In dem Moment war mir klar: Jetzt bin ich in | |
Berlin. | |
Als ich vor Jahren in „Control“, dm Film über den Sänger der Post-Punk-Ba… | |
Joy Division Ian Curtis, Bilder von Manchester sah, war mein erster | |
Gedanke: Das sieht ja genauso aus wie früher im Osten. | |
Die Plattenbauten in der DDR waren Paläste im Vergleich zu den Wohngebieten | |
in Manchester. Die waren Slums und eher vergleichbar mit Bukarest, völlig | |
verdreckt und kaputt. | |
Sahen Sie als Jugendlicher Ihre berufliche Perspektive – wie angeblich alle | |
Manchester-Kids – eher als Fußballer oder Musiker? | |
Ich habe mich natürlich für Musik interessiert und auch selbst welche | |
gemacht, unter anderem war ich Bassist in einer Band The Frantic Elevators | |
mit Mick Hucknall [später Simply Red/Anm. d .R.]. Was mich sehr früh | |
faszinierte, war deutscher Krautrock und Elektronik. Ich hatte in einem | |
kleinen Virgin-Plattenladen gearbeitet und dadurch Zugang zu Importplatten | |
von Tangerine Dream, Klaus Schulze, Kraftwerk. Ich bin ja Synthesizer-Fan. | |
Mensch-Maschine war eine komplett neue Dimension, richtige Zukunftsmusik. | |
Das hat mich auch veranlasst, das Land, aus dem sie kam, unbedingt mal zu | |
besuchen. Also reiste ich nach Düsseldorf, Köln und Hamburg. | |
Die Verbindung zu Ihrer Heimat hielten Sie vor allem über die Musik? | |
1978 hatte Musikmanager Tony Wilson in Manchester gerade das Plattenlabel | |
Factory Records gegründet. Sein Partner war der Joy-Divisions-Manager Rob | |
Gretton, ein alter Freund von mir. Kurz nach meiner Ankunft in Berlin | |
fragte der mich, ob ich die Factory/Joy Division-Platten in Deutschland | |
promoten würde. Das habe ich getan, allerdings fand ich die deutschen | |
Musiker in Berlin genauso spannend. Die Szene war klein, und man traf immer | |
dieselben Gesichter: Neubauten, Gudrun Gut etc. Für mich war die Insel | |
Westberlin unheimlich faszinierend, weil die Spielregeln der ganzen | |
restlichen Popmusik hier kaum beachtet wurden. In Berlin war alles freier. | |
Und dann war da ja noch Ostberlin gleich nebenan. | |
Was selbst die meisten Westberliner kaum interessierte. Warum aber Sie? | |
Aus Neugierde. Ich sah mit anderen Augen als die Deutschen rüber. Mich hat | |
die Frustration auf den Osten nicht so stark berührt, ich bin als neutraler | |
Mensch auf die DDR zugegangen. Wir Engländer sind sehr individuell. Was wir | |
nicht verstehen, ist, wie so ein totalitäres Regime zustande kommt und wie | |
man damit leben kann. Wir hatten nie Faschismus oder Kommunismus. Ich bin | |
oft mit befreundeten Musikern aus England nach Ostberlin rüber, mit Joy | |
Divison, The Fall, dem Radiomoderator John Peel. Ich habe ihm erzählt, dass | |
er auch dort viele Fans hat, die ständig seine Radiosendungen hören. Ich | |
glaube, ihm selbst war nicht wirklich bewusst, wie viel er mit seinen | |
Sendungen zur Zerstörung des Systems beigetragen hat. | |
Gerade jetzt vor dem Mauerfalljubiläum wird wieder viel über die Ursachen | |
reflektiert. Wird die subversive Ausstrahlung der alternativen | |
Westberlin-Kultur über- oder unterschätzt? | |
Ich glaube, dass Musik, Mode, freie Kunst einen großen Anteil an der | |
Untergrabung des Systems im Osten hatten. | |
Sie haben sich damals selbst als Schleuser der Westkultur verstanden? | |
Seit ich nach Ostberlin fuhr, hatte ich den Drang, den Kids im Osten die | |
Musik zu bringen, die sie vom Westen kannten, aber nicht offiziell hören | |
durften. Mein Gedanke war: Wenn sie nicht in den Westen dürfen, um ihre | |
Lieblingsmusiker zu hören, bringen wir eben die Musik zu ihnen. Also habe | |
ich Kassetten und Bands zu ihnen rübergebracht. | |
Wie die Toten Hosen? | |
Wir haben zwei illegale Konzerte mit ihnen organisiert, einmal 1983 in der | |
Erlöserkirche in Rummelsburg und eines 1988 auf einem Kirchengelände in | |
Pankow Hoffnungskirche. Das war damals ein sehr riskantes Abenteuer. | |
Wie kamen Sie auf die Idee? | |
Ich saß mit Freunden in Ostberlin in einer Kneipe, wo ich mit einem Typen | |
ins Gespräch kam. Der erzählte von irgendwelchen Bluesmessen in Kirchen, | |
was mich sofort elektrisierte. Wir nahmen Kontakt zum Pfarrer in | |
Rummelsburg auf, fragten, ob man da nicht mal eine Punkband aus dem Westen | |
spielen lassen könnte. Damals war ich unter anderem Live-Mixer der Toten | |
Hosen und dachte gleich an sie. Dem Pfarrer war die ganze Sache erst | |
suspekt, dann hat er jedoch zugestimmt. Freunde aus Ostberlin haben | |
Verstärker und die Instrumente aufgetrieben. Die Toten Hosen sind mit | |
Touristenvisum rübergefahren. Ich wollte eigentlich auch mit meiner eigenen | |
Band Die Unbekannten auftreten, aber wir konnten keinen Synthesizer | |
auftreiben. Das Konzert fand nur vor ein paar Freundesfreunden meiner | |
Ostbekannten statt. Ich habe Tränen vor Glück vergossen. | |
Sie haben auch erstmalig eine DDR-Band ins englische Fernsehen gebracht … | |
Für die Sendung The Tube auf Tyne Tees Television haben wir 1983 ein Berlin | |
Special gedreht mit den Einstürzenden Neubauten und den Ärzten als | |
Protagonisten der Westberliner Szene. Dazu wollten wir zeigen, dass es auch | |
in der DDR neue junge Ost-Punkbands gab. Doch eine mit offizieller | |
Drehgenehmigung zu filmen war praktisch unmöglich, weil es offiziell gar | |
keine Punks im Arbeiter-und-Bauern-Staat gab. Ich habe dann in der | |
Straßenbahn zwei Typen mit Gitarrenkoffer gesehen, die ein bisschen | |
aussahen wie nette Punks von nebenan. Denen habe ich erzählt, dass ich fürs | |
britische Fernsehen eine junge Band suche. Die haben mich angeguckt wie | |
einen Geisteskranken. Mit vielen Tricks bekamen wir auch eine | |
Drehgenehmigung, weil die Band – sie hieß Jessica – nicht punkig war, | |
sondern eher new-wavig und auch noch Deutsch sang. | |
Die Stasi muss Sie doch schnell auf dem Kieker gehabt haben? | |
Klar, die hatten mich relativ schnell im Visier, weil ich Kontakt zu vielen | |
Punkkids hatte und einige von denen wohl auch IMs waren. Das Wort | |
Underground bedeutete für die Stasi nicht Musik, sondern politisch und | |
subversiv. | |
Trotzdem durften Sie 1989 beim DDR-Staatslabel Amiga das Debütalbum der | |
Band Die Vision produzieren. Wie ging das? | |
Ich vermute mal, dass die Stasi kontrollieren wollte, was ich so treibe. | |
Lieber ließen sie mich offiziell eine Platte produzieren, als irgendwelche | |
subversiven Sachen veranstalten. Vielleicht dachten die sogar, ich sei ein | |
Westagent. Ich war jedenfalls der erste und einzige Westproduzent bei | |
Amiga, worüber ich mich hinterher auch gewundert habe. Eines Tages stand | |
Geyer, der Sänger von Die Vision, vor mir. Angeblich durfte er als | |
„Invalide mit Herzfehler“ ausreisen. Er sagte, die Band wolle unbedingt | |
mich als Produzenten für ihre Platte, die sie sogar auf Englisch einsingen | |
dürften. Ich musste dann zum Amiga-Büro, um alles zu regeln, Studiozeiten, | |
die Bezahlung – war übrigens in Ostmark. | |
Und dann sind Sie im September/Oktober 1989 zwischen Ost- und Westberlin | |
gependelt? | |
Ich hatte ein Arbeitsvisum für die DDR und wohnte oft im Osten bei Geyer | |
oder bei Freunden. Das Studio in der Brunnenstraße war übrigens großartig, | |
ganz altmodisches Ambiente, und der Tonmeister war ein absoluter Meister | |
seines Fachs. Die LP Torture wurde die letzte Albumproduktion der „alten“ | |
DDR. Wenige Tage vor dem Mauerfall waren wir fertig. Abgemischt wurde sie | |
im Westen und im Februar 1990 herausgebracht. | |
Ihr Job bei Amiga fand in der heißesten Wendephase statt. Wie haben Sie sie | |
empfunden? | |
Alles rundum brach zusammen, und ich dachte: Was geht denn hier ab?! Alle | |
Leute hauen aus der DDR ab, und ich sitze im Amiga-Studio. Auch etliche | |
meiner Ostfreunde waren in den Westen gegangen, das war schon gespenstisch. | |
Man spürte, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung drehte und dass es | |
eine positivere Energie für Veränderungen gab, aber ich hätte nie geahnt, | |
dass bald die Mauer fallen würde. | |
Was am 9. November geschah … | |
… leider ohne mich. Am 8. November war ich mit Berliner Engländern, | |
darunter Musikjournalist Dave Rimmer und Radiomoderator Trevor Wilson, über | |
Polen nach Rumänien aufgebrochen. Es war eine langfristig geplante Reise. | |
In Osteuropa haben wir erst nach Tagen mitbekommen, was in Berlin los ist. | |
Als wir nach zwei Wochen zurückkamen, war nichts mehr wie zuvor. Überall | |
Menschen, Trabis. Ich war schockiert, ausgerechnet während wir weg waren, | |
fiel die Mauer. | |
Ihr Abenteuerspielplatz DDR war passé. Fanden Sie das ärgerlich? | |
Dass unser Disneyland und diese Nichtkonsumgesellschaft, die wir so schön | |
fanden, nun weg war, realisierte ich erst später. Ich war eher enttäuscht. | |
Fucking zehn Jahre hatten wir sozusagen an der Mauer rumgemeißelt, und dann | |
verpassen wir den Moment, als sie fällt. | |
Andererseits haben Sie schnell die Chance ergriffen, das gesetzliche | |
Niemandsland im Osten zu beackern. | |
Im Dezember 1990 habe ich das Label Masterminded For Success (MFS) | |
gegründet, um jungen Musikern vor allem aus dem Osten die Möglichkeit zu | |
geben, elektronische Dancemusic zu veröffentlichen. Das Label war eine | |
Kooperation mit den Amiga-Leuten. Aber die wussten von Techno und | |
dergleichen gar nichts. Also habe ich das Label selbst aufgebaut, wobei ich | |
die Infrastruktur des Amiga-Nachfolgers Deutsche Schallplatte nutzen | |
konnte. Als ich das Label MFS nannte, sind die Ostler allerdings | |
ausgeflippt, weil es die Abkürzung für Ministerium für Staatssicherheit | |
war. Ich fand die Abkürzung total passend und schrieb auf meine Poster | |
„MFS. Wir sind zurück“. Hat ja auch geklappt. Sozusagen von einem | |
Terrororgan zum nächsten. Jetzt ist Technoterror. Auf MFS und seinen | |
Sublabels veröffentlichten wir Künstler wie Cosmic Baby, Dr. Motte und Paul | |
van Dyk. | |
Viele aus der Berliner Techno- und Clubszene haben nach der Wende ihren | |
Reibach gemacht. Wie sah es bei Ihnen aus? | |
Geld braucht man zwar zum Leben, aber ich werde nicht durch Geld | |
angetrieben. | |
Gerade haben Sie auf dem wiederauferstandenen Factory-Benelux-Label eine | |
neue CD mit Remixen veröffentlicht. War die Zeit reif, auf Ihre vielen | |
musikalischen Kollaborationen zurückzuschauen? | |
Vielleicht. „Collaborator“ ist eine Art Retrospektive, aber mit neuen Mixen | |
von WestBam oder Queen of Hearts, Anne Clark oder Bad Lieutenant, aber auch | |
von meinen eigenen Bands Die Unbekannten oder Shark Vegas. | |
Elektronische Tanzmusik aus Berlin – ist das noch ein künstlerisch | |
interessantes Genre oder ist es vor allem ein Superverkaufslabel für die | |
Partystadt? | |
Schon, aber ich warte eigentlich längst auf eine neue Musik- und | |
Veranstaltungsform. Die Technoszene ist ja nun schon über 25 Jahre alt. | |
Wenn man das mit anderen musikalischen Trends vergleicht, ist das echt | |
lang. Aber das hängt eben auch damit zusammen, wie die Leute heute Musik | |
konsumieren. Vor allem zum Feiern und Partymachen. | |
Das Berlin Festival ist gerade in den Arena Park umgezogen, dichter ans | |
Ausgehzentrum der Partytouristen. Manch einer sieht das künftige Berlin | |
schon dem Ballermanntourismus überlassen und von Kreativen verlassen. | |
Die Diskussion, ob Berlin noch hip ist und ein Anziehungspunkt für Kreative | |
bleibt, ist einfach Blödsinn. Berlin ist eine relaxte Stadt, die immer noch | |
Freiheiten bietet, die man nirgendwo anders hat. Berlin ist keine | |
Geldstadt. | |
Wird es nicht gerade eine? | |
Ach, die Leute kaufen Häuser und denken ans schnelle Geld, das ist nun mal | |
der bittere Nachgeschmack der Mauerfallgeschichte. Trotzdem, hier ist weder | |
die Finanzwelt noch Industrie. Berlin hat immer von den verrückten, | |
kreativen Leuten gelebt, das wird so bleiben. Das Wichtigste ist, dass das | |
freie Denken hier bewahrt wird. | |
6 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
GUNNAR LEUTE | |
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