# taz.de -- Herrhausen-Patenkind über die RAF: "Die Mörder ändern mich nicht" | |
> Carolin Emcke war 22 Jahre alt, als ihr Patenonkel Alfred Herrhausen von | |
> der RAF ermordet wurde. Sie fordert: Lasst die Täter laufen, wenn sie | |
> ihre Geschichte erzählen. | |
Bild: Am 30. November 1989 starb Deutsche-Bank-Chef Herrhausen auf dem Rücksit… | |
Und dann sah sie plötzlich den Wagen. Einen gesprengten, verkohlten | |
Mercedes, der quer über der Straße in Bad Homburg lag. Rundherum standen | |
Schaulustige, Polizisten und Beamte des BKA. Aber keiner schien sich für | |
die junge Frau zu interessieren, die zwischen Parkhaus und Taunus-Therme | |
wortlos aus einem Taxi gestiegen war und nun auf das zerfetzte Auto zulief. | |
Carolin Emcke weiß selbst nicht mehr, wie sie an jenem 30. November 1989 | |
nach Bad Homburg gelangt ist. | |
Sie erinnert sich nur noch an das Auto, das quer auf der Straße lag. | |
"Unnatürlich wie ein verrenktes Gelenk, das vom Leib absteht." Wenige | |
Stunden zuvor war auf dem Rücksitz ihr Patenonkel verblutet. Der Chef der | |
Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Eines der letzten Opfer der RAF, | |
ermordet durch eine auf einem Fahrradgepäckträger versteckte Bombe. | |
Stumme Gewalt des Terrors | |
Herrhausen war ein väterlicher Freund, einer, mit dem sie als Teenagerin | |
stundenlang über Politik diskutierte. Mehr als 18 Jahre hat sie nicht die | |
Kraft gefunden, über den Tag des Attentats zu schreiben. Erst vor einem | |
Jahr konnte Emcke ihre bruchstückhafte Erinnerung in einem Essay für das | |
Zeit Magazin Leben verarbeiten. Er heißt "Stumme Gewalt - Nachdenken über | |
die RAF". Heute wird sie dafür mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. | |
Ausgerechnet sie, eine Hinterbliebene, fordert in dem Text Freiheit für die | |
Attentäter. Emcke stellt nur eine Bedingung: Reden müssen sie. Öffentlich! | |
Es ist später Vormittag. Carolin Emcke sitzt im Café Luzia in | |
Berlin-Kreuzberg. Blaue Jeans, schwarzes T-Shirt, ein braunes Lederbändchen | |
am linken Handgelenk. Von draußen lärmt die Straße. "Wer nur an Rache und | |
Sühne interessiert ist, wird die Wahrheit nie erfahren", sagt die | |
41-Jährige und streift ihre halblangen schwarzen Haare nach hinten. "Die | |
Bundesanwaltschaft hat die letzten RAF-Morde bis heute nicht aufklären | |
können, und sie wird sie vermutlich auch nicht mehr aufklären. Wenn wir den | |
Tätern Straffreiheit versprechen, ist das unsere einzige Chance, die | |
Wahrheit zu erfahren." | |
Die Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens verschluckt fast ihre | |
Worte. Emcke scheint das gar nicht zu merken. Sie spricht über ihr | |
Lebensthema: Gewalt, Traumatisierung, der Umgang mit Tätern und Opfern. | |
Wenige Jahre nach dem Attentat hat sie bei Jürgen Habermas ihre | |
Magisterarbeit über das Recht auf Widerstand geschrieben. "Ich habe nur | |
Autoren diskutiert, die Widerstand und zivilen Ungehorsam legitimieren", | |
sagt sie. "Das hatte ich mir geschworen. Dass es den Mördern niemals | |
gelingen sollte, mich zu einer anderen, einer weniger offenen, weniger | |
liberalen Person zu machen." Trotzdem blieben die Fragen: Wie ist die | |
Entscheidung gefällt worden, ihren Patenonkel zu töten? Wird da abgestimmt? | |
Gab es alternative Kandidaten? Woran denkt jemand, der TNT für eine Bombe | |
präpariert? | |
Das Schweigen der Täter belastet sie bis heute. Emcke weiß, dass die | |
Antworten weh tun werden. Und sie weiß, dass Kritiker ihr Realitätsferne | |
vorwerfen. Zigfach ist ihr in den vergangenen Monaten gesagt worden, | |
niemals werde der Bundespräsident eine Amnestie gewähren, nur damit die | |
Mörder der RAF mit der Wahrheit herausrücken. Das sei völlig utopisch. | |
Emcke sieht nachdenklich aus. Sie hat die Beine übereinander geschlagen, | |
nestelt am linken Hosensaum und fragt: "Wann ist Utopie eigentlich zum | |
Schimpfwort geworden? Wir brauchen Utopien. Politik wird immer im Vorgriff | |
auf etwas gemacht, das sein soll. Gesetze und Rechtsinterpretationen sind | |
ja dynamisch und entwickeln sich historisch weiter. Warum soll das also | |
nicht möglich sein: Freiheit gegen Wahrheit?" | |
Emckes Gedanken über die RAF sind auch als Buch erschienen. "Stumme Gewalt" | |
(S. Fischer) ist kein kämpferisches Plädoyer, eher ein Text voller Zweifel, | |
der nach dem Sinn von Rache fragt, die am Ende nur neue Gewalt provoziert. | |
Ein Buch, mit dem sie das eisige Schweigen der Täter beenden will. "Erst | |
wenn ich die Wahrheit kenne, kann die Fantasie aufhören, mich zu quälen", | |
sagt sie. "Ich brauche ihre Geschichte. Denn es ist auch meine." | |
Schon zum Zeitpunkt des Attentats hat Emcke nebenbei als Journalistin | |
gearbeitet. Seit ihrer Promotion in Philosophie berichtet Emcke fast nur | |
noch aus dem Ausland -zuerst für den Spiegel, heute für die Zeit. Sie lag | |
im Bombenhagel der US-Luftwaffe im Irak, besuchte Bordelle in Bukarest, | |
berichtete von den Kämpfen in Gaza und aus den Jeans-Fabriken in Nicaragua, | |
in denen die Arbeiterinnen für 20 Cent je Stunde Hosen für den Westen | |
nähen. | |
Carolin Emcke fährt dorthin, wo andere nur noch weg wollen. Eine | |
Berufsreisende. Eine, die von sich sagt, es sei für sie schwerer, nach | |
Hause zu kommen, als von dort los zu fliegen. Ihre größte Stärke ist nicht | |
das Beschreiben sondern das Reflektieren einer Situation. Das beweist nicht | |
nur ihr Text über die RAF. In Rumänien bot man ihr mal ein Kind an. Emcke | |
stand im Park nahe des Bukarester Bahnhofs. Ihr Blick schweifte kurz über | |
einen dreijährigen Roma-Jungen, als seine Mutter auf sie zukam, um ihr das | |
Geschäft vorzuschlagen: Zehn Dollar. Emcke schüttelte den Kopf und fragte | |
sich, wie schauen, damit dieses Kind mit seinen aufgeschürften Knien und | |
dem langen Ärmel in der Hand nicht glaubte, es gefalle ihr nicht. | |
Später kommt ihr die eigene Empörung über das Kaufangebot völlig verlogen | |
vor. "Während es zunächst ethisch unmöglich erschien, ein Kind zu kaufen, | |
zerschellte diese Erstwelt-Moral an den Erfahrungen, die ich nach nur | |
sieben Tagen in der Kanalisation, in den Bordellen, in den Polizeistationen | |
von Bukarest machen musste", schreibt Emcke. "Für zehn Dollar hätte ich das | |
Kind besser schützen können vor dem, was ihm nun vermutlich blühen würde. | |
Wer weiß, wer das Geld an meiner statt bezahlen wird." | |
Dass Emcke nach Jahren als Auslandsreporterin das Essay über die RAF | |
geschrieben hat, liegt auch an der Bild-Zeitung. Als das Blatt vergangenes | |
Jahr gegen eine Begnadigung von Christian Klar und Birgit Hogefeld | |
polemisierte, ärgerte Emcke, dass die Redaktion für sich in Anspruch nahm, | |
im Namen aller Hinterbliebenen zu sprechen. Emcke will nicht in der | |
Opferrolle verharren. Sie kräuselt die Stirn und philosophiert über den | |
Unterschied zwischen Trauer und Melancholie bei Sigmund Freud. "Bei der | |
Trauer wird uns der Verlust eines geliebten Menschen wirklich bewusst. Wir | |
akzeptieren den Tod, trauernd zwar, aber wir können loslassen. Bei der | |
Melancholie verharren wir in dem Zustand. Wir bleiben gekoppelt an das, was | |
nicht mehr ist, wir können nicht loslassen, nicht weiterleben, finden | |
keinen Zugang mehr zur Gegenwart. Mein Eindruck ist, dass die | |
Öffentlichkeit mit ihrer Hysterisierung der Debatte, aber auch die RAF mit | |
ihrem Festhalten an ihrer Identität des Schweigens nicht zulassen, dass wir | |
trauern. Wir verharren in der Melancholie." | |
Auf ihren Reportage-Reisen durch die ganze Welt wurde Emcke oft vom | |
Berliner Fotografen Sebastian Bolesch begleitet. Als er das Café Luzia in | |
Berlin Kreuzberg betritt, lacht Emcke zum ersten Mal übers ganze Gesicht. | |
Die beiden umarmen sich wie alte Freunde. "Dieser Mann", sagt Emcke, "hat | |
einen nicht zu überschätzenden Anteil an meiner Arbeit. Wir ergänzen uns | |
perfekt." | |
Bolesch ist ein jungenhafter Typ. 41 Jahre alt. Rundliches Gesicht. Viele | |
Lachfalten. Ein Tattoo am rechten Oberarm. Sie braucht ihn als Berater, als | |
Korrektiv. | |
Die Normalität bewahren | |
"Ich bin über die Jahre immer unsicherer darin geworden, mir ein Urteil zu | |
bilden", sagt Emcke. "Das ist nicht nur eine Frage der Recherche-Dauer. Ich | |
bekomme ein immer größeres Gefühl für die Verantwortung, die ich trage. | |
Damit erkennt man aber auch stärker, dass es viele Perspektiven gibt, aus | |
denen man eine Geschichte betrachten kann." Beiden gemein ist der Drang in | |
die Ferne. "Wir haben unterwegs immer ein ganz intensives Level an | |
Erfahrungen", schwärmt Bolesch. "Das macht fast süchtig. Schlimmer als die | |
Arbeit in Krisenregionen finde ich, dass bei der Rückkehr plötzlich alles | |
von einem abfällt. Da bräuchte ich manchmal fast drei Tage Quarantäne." | |
Emcke nickt. | |
Oft schweigt sie nach ihrer Rückkehr über das Erlebte. "Ich will ja auch | |
von meinen Freunden etwas erfahren, und nicht jedes Mal mit Geschichten | |
kommen, die einen solchen Grad an Schwere und Bedeutung haben, dass sie | |
sich nicht mehr trauen, über ihre Beziehungsprobleme zu reden. Ganz häufig | |
erzähle ich deshalb erst einmal nichts, weil ich die Normalität behalten | |
will." Statt zu reden, hat sie ihren Freunden Briefe geschrieben. Lange | |
Briefe, die in einem preisgekrönten Buch versammelt sind: "Von den Kriegen" | |
heißt es. | |
Nach dem Taxifahrer sucht sie noch immer. Jenem, der sie am Tag des | |
Herrhausen-Attentats wortlos vom Frankfurter Flughafen nach Bad Homburg | |
fuhr. Sie stieg damals aus dem Auto ohne zu bezahlen. Auch nach Erscheinen | |
des Essays hat er sich nicht bei ihr gemeldet. "Leider", sagt Emcke. | |
Vielleicht erinnert sich der Taxi-Fahrer ja an Bruchstücke jenes | |
Nachmittags, die in ihrem Gedächtnis fehlen. Vielleicht würde er ja mit ihr | |
reden wollen. Über den Tag, als der verkohlte Mercedes quer auf der Straße | |
stand. | |
9 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Ralf Geissler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |