| # taz.de -- Henri-Nannen-Preis aberkannt: Wie gewonnen, so zerronnen | |
| > Einem "Spiegel"-Autor wurde Deutschlands wichtigster Journalistenpreis | |
| > aberkannt. Wie wahrhaftig muss Journalismus sein? | |
| Bild: Da war noch alles gut: René Pfister (links) bei der Verleihung des Henri… | |
| Ein Wochenende lang war René Pfister Henri-Nannen-Preisträger in der | |
| Königskategorie "Reportage" - bis ihm die Jury aus elf ChefredakteurInnen | |
| (darunter auch Ines Pohl für die taz) und namhaften JournalistInnen am | |
| Montagabend die erst am Freitag verliehene Ehrung aberkannte. | |
| Dagegen haben laut Medienberichten Kurt Kister (SZ), Peter-Matthias Gaede | |
| (Geo), Frank Schirrmacher (FAZ) und Mathias Müller von Blumencron (Spiegel) | |
| votiert. Die Entscheidung haben sich die Juroren in ihrer | |
| eineinhalbstündigen Telefonkrisenkonferenz nicht leicht gemacht, der | |
| Signalwirkung waren sie sich bewusst. Denn Spiegel-Redakteur Pfister, der | |
| für ein Porträt des CSU-Chefs Horst Seehofer ausgezeichnet worden war, ist | |
| der erste Preisträger in der rund 30-jährigen Geschichte der Auszeichnung, | |
| benannt nach dem Reporter-Übervater Egon Erwin Kisch, der es nicht bleiben | |
| darf. Der Fall ist eine Zäsur. | |
| In "Am Stellpult" (Spiegel 33/2010) dient Pfister die Modelleisenbahn im | |
| Keller von Seehofers Ferienhaus als Leitmotiv zur Ergründung von dessen | |
| Charakter: "Andere Politiker wollen Deutschland verändern, Seehofer reicht | |
| es, wenn er Menschen steuern kann wie seine Eisenbahn." | |
| Man kann sagen: Die Eisenbahn war ein journalistischer Glücksfall für einen | |
| solchen Spiegel-typisch psychologisierenden Text - dass er nun doch nicht | |
| mehr für preiswürdig erachtet wird, hat einen einfachen Grund: Pfister war | |
| nie in Seehofers Keller, hat dessen Modelleisenbahn folglich nie gesehen. | |
| Seehofer hatte ihm lediglich davon erzählt, Kollegen hatten es ihm | |
| bestätigt und Pfister dachte sich wohl - so viel Einfühlung sei gestattet: | |
| Was für ein starkes Bild! Das könnte man sich ja kaum besser ausdenken. | |
| Weder die Spiegel-Chefredaktion noch Autor Pfister wollten sich in der taz | |
| zu dem Fall äußern. In einer Stellungnahme reagierte das Magazin mit | |
| Unverständnis auf die Aberkennung seines 34. Egon-Erwin-Kisch-Preises, ohne | |
| den Autor anzuhören, wie das Blatt kritisierte: Neben dem etwas bockigen | |
| Verweis darauf, dass "bereits öfter Geschichten mit dem | |
| Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet worden" seien, "die szenische | |
| Rekonstruktionen enthielten", heißt es darin: "Die Informationen für den | |
| Einstieg beruhten auf Gesprächen mit Seehofer, dessen Mitarbeitern sowie | |
| Spiegel-Kollegen, die den Hobbykeller selbst in Augenschein genommen haben. | |
| An keiner Stelle hat der Autor behauptet, selbst in dem Keller gewesen zu | |
| sein." Aber er hat eben auch nicht transparent gemacht, dass er nie da war. | |
| Darf ein Reporter auch über Ereignisse berichten, bei denen er nicht | |
| zugegen war, und zwar so, als wäre er dabei gewesen? Die in der | |
| Ausschreibung des Henri-Nannen-Preises definierten Kriterien geben darauf | |
| eine recht eindeutige Antwort: Nein. "In die Reportage-Kategorie gehören | |
| journalistische Arbeiten, die in nicht-fiktiver Darstellungsform eine | |
| räumlich und zeitlich begrenzte Geschichte wiedergeben, die vom Autor | |
| erlebt oder beobachtet wurde." Beobachtet. Wenn der Spiegel in seiner | |
| Stellungnahme schreibt, dass jede Reportage "nicht nur aus Erlebtem, | |
| sondern auch aus Erfragtem und Gelesenem" besteht, dann stimmt das - und | |
| auch wieder nicht: Denn was für Faktenblöcke und hereintelefonierte Zitate | |
| gelten mag, kann nicht für Passagen gelten, die eigenes Erleben | |
| suggerieren. | |
| Diese Grenze zieht auch Andreas Wolfers, der Leiter der Hamburger | |
| Henri-Nannen-Journalistenschule, an der viele Kisch-Preisträger ihr | |
| Handwerk gelernt haben. "Szenische Rekonstruktionen" seien nur unter zwei | |
| Voraussetzungen zulässig: Zum einen, wenn der Kontext deutlich mache, dass | |
| es sich dabei eben um Nichtselbsterlebtes, sondern Rekonstruiertes handelt | |
| - etwa bei Schilderungen historischer Ereignisse. Zum zweiten dann, wenn | |
| der Autor des Textes ausdrücklich mitteilt, woher er seine Kenntnisse hat. | |
| Entscheidend sei, dass man nichts vortäusche. | |
| ## Kolportieren statt Reportieren | |
| Das Gute an der Diskussion sei, sagt Wolfers der taz, dass sie | |
| grundsätzliche Fragen des Journalismus aufgreife und die Sensibilität für | |
| Texte schärfe. Das zeige: "Wir machen uns Gedanken über unser Handwerk." | |
| Journalismus, der alles kritisch befrage, müsse dies auch bei sich selber | |
| tun. | |
| Anders sieht das Wolfers berühmtester Vorgänger Wolf Schneider. Der | |
| Verfasser vieler Bücher über Sprache und Journalismus findet es "nicht | |
| richtig, René Pfister den Preis abzuerkennen". Der habe unbestritten einen | |
| guten Text abgeliefert, die Jury habe ihn nur fälschlicherweise als | |
| Reportage eingestuft. Auch Schneider sagt allerdings, zu einer Reportage | |
| gehöre schon, "dass man selbst gesehen hat, was man reportiert". | |
| Diskussionen um den 2005 erstmals verliehenen Henri-Nannen-Preis sind nicht | |
| neu: Dabei ging es zwar meist um fragwürdige Nachnominierungen oder | |
| Streichungen der Jury (taz vom [1][9. 5. 2008], 8. 5. 2009 und [2][4. 3. | |
| 2010]), doch 2010 problematisierte die - nicht gerade als Reportageblatt | |
| bekannte - FAZ in ihrer Sonntagsausgabe "die Verniedlichung der Welt" | |
| mittels Reportagen, die oft "nicht einmal seriöser Journalismus" seien. | |
| Deren "Gelingen ist gewissermaßen auch ein ethisches Problem - es fordert | |
| eine fast schon asketische moralische Strenge gegenüber all den | |
| Versuchungen, mit den Mitteln der Sprache zu blenden, zu bluffen, zu | |
| tricksen. Gegen die Versuchungen des Bescheidwissens, des | |
| Allesdurchschauens, des Alleserklärenkönnens", schreibt Feuilletonchef | |
| Claudius Seidl. "Toll geschrieben, denkt man sich, wenn man das | |
| Kanzlerinnenporträt aus dem Spiegel liest […] und es liest sich ja sehr | |
| flüssig bis zu dem Moment, in dem es dem Leser auffällt, dass der Autor | |
| sich die Freiheit nimmt, in nahezu jeden Kopf […] hineinzukriechen und von | |
| dort drinnen zu berichten, wie es sich so denkt und fühlt in diesem Kopf." | |
| Vergleiche mit Tom Kummer, der in den 90er Jahren Dutzende Interviews mit | |
| Hollywoodgrößen frei erfunden hat, sind abwegig. Kummer hat eine Grenze | |
| weit überschritten, journalistische Standards wissentlich mit Füßen | |
| getreten. Pfisters Fall dagegen wird im besten Fall dazu beitragen, eine | |
| Grenze zu definieren. Während Kummer bewusst getäuscht hat, ist Pfister die | |
| besonders beim Spiegel verbreitete Sitte zum Verhängnis geworden, | |
| Kolportieren als Reportieren auszugeben. Betrug im strafrechtlichen Sinn | |
| ist das nicht, Betrug am Leser und der journalistischen Glaubwürdigkeit | |
| schon eher. | |
| Ein "handfester Skandal", wie Nannen-Enkelin Stephanie Nannen im Hamburger | |
| Abendblatt schäumte, ist der Fall Pfister nicht - er würde erst zu einem, | |
| wenn die Frage, was Reporter dürfen und was nicht, bis zur nächsten | |
| Preisverleihung wieder im Sande verlaufen wäre. | |
| 10 May 2011 | |
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| ## AUTOREN | |
| D. Denk | |
| P. Gessler | |
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