| # taz.de -- Heldin der polnischen Arbeiterbewegung: Die rote Tänzerin | |
| > Aristokratin, Lehrerin, Herausforderin Stalins: Wera Kostrzewa büßte ihre | |
| > Kritik mit dem Tod. Heute gilt sie als bedeutendste Frau in der | |
| > polnischen Arbeiterbewegung. | |
| Bild: Kriegsveteran mit Stalin-Foto: Der sowjetischen Führer hatte viele Bewun… | |
| Mein erster Gedanke: Ein schönes Bild. Aber Friedrich Nietzsche sagte, ein | |
| Ding als schön empfinden heiße: es notwendig falsch empfinden. Also schaute | |
| ich nochmals hin, und einige dem Bild nur bedingt vorzuwerfende unschöne | |
| Dinge kamen mir in den Sinn. | |
| Es war das Jahr 1901, als an der Sorbonne in Paris die junge Adlige | |
| Marianna Karolina Sabina Koszutska Pädagogik studierte. Sie hatte drei | |
| hübsche Vornamen, war schön, klug und fortschrittlich. Mit den Koszutskis, | |
| Gutsbesitzern im Distrikt Sandomierz, hatte sie schon zuvor gebrochen, in | |
| Paris wurde sie eine glühende Sozialistin. Das Schicksal wollte es, dass | |
| Marianna mit der sieben Jahre jüngeren Russin Nathalie Sedowa zusammentraf, | |
| die an der Sorbonne Kunstgeschichte studierte. Gemeinsam gingen sie am | |
| Wochenende ins Bal Bullier und nahmen Unterricht im Stepptanz. Danach | |
| tranken sie an der Bar der Closerie des Lilas, des ältesten Pariser | |
| Dichtercafés, im Stehen Bier und traten den Männern mit ihren Claquettes | |
| auf die Zehen, sobald sie zudringlich wurden. | |
| Eines Abends erschien Nathalie mit einem jungen Russen in der Closerie und | |
| stellte ihn als Lew Dawidowitsch Bronstein, Mitarbeiter der Zeitung Iskra, | |
| zu Deutsch "Funke" vor. Marianna kritisierte den ukrainischen Juden, der | |
| sich später Leo Trotzki nannte, als barbarisch, weil er Odessa schöner fand | |
| als Paris, las aber mit Begeisterung seine Artikel über die proletarische | |
| Revolution. Nathalie wurde Leos Geliebte und wich ihm nicht von der Seite, | |
| auch dann nicht, wenn er im Nebenzimmer der Closerie mit Lenin Schach | |
| spielte. Marianna dagegen ging lieber weiter zum Stepptanz, weil sie die | |
| ewigen Streitereien der beiden, überdies verheirateten Revoluzzer nicht | |
| ertrug. | |
| Als Wladimir Iljitsch und Lew Dawidowitsch sich in blankem Hass entzweiten | |
| wegen ein paar neuer Schuhe, die Lenin zu klein waren, aber Trotzki | |
| passten, jedoch in der Oper schlimm schmerzten, was Lenin köstlich | |
| amüsierte, war Marianna schon nach Polen zurückgekehrt und leitete in Lodz | |
| eine Privatschule für Jungen und Mädchen. Dort gründete sie mit dem | |
| Ingenieur Józef Ciszewski den ersten polnischen Arbeiterzirkel, wurde 1903 | |
| verhaftet und nach Archangelsk verbannt. Nach ihrer Rückkehr verfasste sie | |
| für die PPS-Linke eine Reihe bedeutender theoretischer Schriften, wurde | |
| mehrmals verhaftet und beim missglückten Vormarsch der Roten Armee auf | |
| Warschau im berüchtigten X. Pavillon der Warschauer Zitadelle gefoltert. | |
| 1920 ging sie in die Illegalität, vertrat das ZK der KPP in der Komintern | |
| und hieß nun Wera Kostrzewa. Mit den Parteiführern Walecki und Warski | |
| machte die sogenannte schöne Wera die Troika der "drei großen W" des | |
| polnischen Proletariats komplett. Auf dem V. Weltkongress der | |
| Kommunistischen Internationale 1924 in Moskau warf sie Stalin in scharfem | |
| Ton vor, die polnische KP in einen russischen Geheimdienst zu verwandeln. | |
| Sie forderte ihn auf, Trotzkis Popularität im Volk als Kapital für die | |
| Bolschewiki auszunutzen, statt neidisch gegen ihn zu hetzen. Und sie | |
| verwahrte sich mit einem Teil der Funktionäre gegen die Umwandlung der | |
| Partei in einen sowjetischen Geheimdienst. | |
| Die selbst ernannten Verwalter der "einzigen, unfehlbaren Methode Lenins" | |
| rächten sich bitter. Zuerst zerschlugen sie die Troika der "drei großen W" | |
| als "polnische Filiale des Trotzkismus" - so nannte sie Stalin -, dann | |
| stellten sie sie politisch kalt und erteilten ihr Reiseverbot. Wera ließ | |
| sich jedoch nicht entmutigen. Sie arbeitete im Apparat der | |
| Bauern-Internationale und organisierte im Ballsaal des Hotel Lux | |
| Stepptanzabende für die Bewohner, Kommunisten aus aller Herren Länder. Weil | |
| sie weiterhin vor der Spaltung des Bolschewismus durch die Ideologen der | |
| reinen Lehre warnte, wurde ihr 1930 jegliche Parteitätigkeit verboten. | |
| Fünf Jahre später wohnte sie im berüchtigten Hotel Lux, wo sie aus Angst, | |
| morgens um sechs vom NKWD abgeholt zu werden, nicht mehr schlief. 1935 | |
| wurde sie auf Befehl Stalins verhaftet und in der Lubjanka siebzig Verhören | |
| unterzogen. Nathalie Sedowa, die nach Trotzkis Ermordung nach Paris floh, | |
| berichtet in ihren Erinnerungen, dass ihre Freundin trotz schwerer | |
| Herzprobleme widerstand und niemanden denunzierte. Zwei Jahre musste Wera | |
| noch erleben, wie im Hotel Lux ein polnischer Genosse nach dem anderen der | |
| Großen Säuberung zum Opfer fiel. 1937 wurde sie erneut verhaftet und der | |
| "Fraktionstätigkeit" beschuldigt. Moskauer Akten zufolge ist sie am 9. Juli | |
| 1939 im NKWD-Gefängnis in Jaroslawl gestorben. | |
| Heute gilt Wera Kostrzewa neben Rosa Luxemburg als bedeutendste | |
| Frauengestalt der polnischen Arbeiterbewegung. Ihr scharfer Verstand, ihre | |
| Gefühlsstärke und Unerschrockenheit gegenüber den Stalinisten sollten ihr | |
| das Genick brechen, aber den Mut behielt sie bis zuletzt. Noch am Vortag | |
| ihrer Verhaftung soll sie vorm Spiegel ihres Hotelzimmers einen Stepptanz | |
| von Olga Tschechowa aus dem Film "Moulin Rouge" geübt haben. Der zu Recht | |
| vergessene polnische Dichter und Stalinverehrer Wladyslaw Broniewski | |
| schrieb 1953 in dem Gedicht "Ein Wort über Stalin": "Ruhm jenen, die vor | |
| der Geschichte nicht / Wie vor einem grausamen Märchen erschrecken!" | |
| THOMAS KNAUF, Jahrgang 1951, ist Drehbuchautor, Regisseur und Journalist in | |
| Berlin. Auf Wera Kostrzewa stieß er, als er 1968 in Warschau gegen den | |
| Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei demonstrierte und | |
| daraufhin im Untersuchungsgefängnis landete. Das befand sich in der | |
| Wera-Kostrzewa-Straße. Doch als sich Knauf vor einigen Jahren dort noch | |
| einmal umsah, war sie umbenannt worden. An Kommunisten, mögen sie auch | |
| Stalinopfer sein, erinnert man sich in Polen derzeit ungern. | |
| 22 Nov 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Knauf | |
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