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# taz.de -- Heileurythmie im Grünen
> In Berlin-Spandau öffnet voraussichtlich bald das zweitgrößte
> anthroposophische Krankenhaus Deutschlands / Seine alternative Methode
> versteht sich als Ergänzung zur Schulmedizin  ■ Von Lennart Paul
Ein Schlagbaum trennt das Gelände vom Kladower Damm ab. Hinter dem
Pförtnerhäuschen ducken sich zweistöckige Gebäude in die Wiesen.
Blumenbeete säumen die Straße. Im Hof, zwischen den Hauptgebäuden, wachsen
Birken und Kiefern um die Wette. Die Straße endet an einem bewaldeten
Abhang, wo die Boote der Anlegestelle Kladow durch die Bäume schimmern. Man
könnte sich in einem Kurpark wähnen, stünden nicht im Gelände Schilder wie
„OP-Bereich“ oder „Anästhesie“ und röche es nicht nach
Desinfektionsmitteln.
„Krankenhaus Spandau, Örtlicher Bereich Havelhöhe“ sagt das Schild am
Eingang. Und noch sagt es die Wahrheit. In dreieinhalb Monaten aber, am 1.
Januar 1995, wird hier wahrscheinlich schon stehen:
„Gemeinschaftskrankenhaus Berlin, Klinik für anthroposophisch erweiterte
Heilkunst“.
## Standort für die Forschung
Läuft alles nach Plan, entsteht in Berlin das zweitgrößte anthroposophische
Krankenhaus Deutschlands. Nur die Klinik in Herdecke mit ihren 500 Betten
würde die Havelhöhe übertreffen. In Zukunft könnte Havelhöhe nicht nur für
Berliner, die sich anthroposophisch behandeln lassen möchten, seinen
Versorgungsauftrag erfüllen. „Das neue Krankenhaus könnte auch Patienten
aus den neuen Bundesländern aufnehmen“, sagt Hartmut Stickdorn,
Vorstandsmitglied des anthroposophischen Fördervereins. Das
Gemeinschaftskrankenhaus soll zum wichtigen Standort für Forschungen in der
anthroposophischen Medizin werden. Daneben will man es zum Fort- und
Weiterbildungszentrum machen, so Stickdorn. Die Anthroposophen hoffen, daß
ihre halbjährlichen Kongresse mit Teilnehmern aus ganz Europa bald auch in
Havelhöhe stattfinden können.
Das Projekt Anthroposophisches Krankenhaus nimmt nach langen Verhandlungen
in diesem Jahr konkrete Formen an. „Von Anfang an ist diese Idee bei allen
Parteien auf offene Ohren gestoßen“, sagt Roland Bersdorf,
Vorstandsmitglied des Trägervereins. Dennoch drohte das Projekt zunächst zu
scheitern, weil man keinen passenden Standort fand. Doch seit dem Beschluß
des Berliner Abgeordnetenhauses im Juni ist fast sicher: Havelhöhe geht in
die Trägerschaft des „Vereins zur Förderung und Entwicklung
anthroposophischer Heilkunst“ über. Die Bettenzahl des Hauses wird von 600
auf 320 reduziert. Es gibt Abteilungen für Chirurgie, Innere Medizin,
Neurologie und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.
Der Staatssekretär der Senatsverwaltung für Gesundheit, Detlef Orwat,
begrüßt die Therapievielfalt in der Stadt: „Bald haben wir endlich unter
mehr als 100 Berliner Krankenhäusern auch ein anthroposophisches.“ Keiner
müsse fürchten, arbeitslos zu werden.
Die Sorge, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, war in der Vergangenheit bei
der Belegschaft Havelhöhe groß. Außerdem wußten die Mitarbeiter nicht
recht, was mit der Umgestaltung eigentlich auf sie zukommen würde. Von den
Anthroposophen hatte man eine sehr verschwommene Vorstellung. Hauptgrund
für die Ablehnung einer Anthroposophenklinik seien schleche Informationen
gewesen, sagt Roland Bersdorf: „In Informationsgesprächen gehen viele
Fragen in die Richtung, ob wir auf einer Intensivstation Musiktherapien
veranstalten oder auch nach allen Regeln der Kunst reanimieren.“
## Nicht Ersatz, sondern Erweiterung
Dabei versteht sich die anthroposophische Medizin lediglich als
Erweiterung, keinesfalls als Ersatz der Schulmedizin. Das Schienen von
Knochenbrüchen, Chemotherapien und die Reanimation gehören wie in allen
anderen Krankenhäusern zur alltäglichen Arbeit. „Aber schon vor der
Behandlung geht die anthroposophische Medizin anders vor als die
Schulmedizin“, sagt Harald Matthes, Arzt am Universitätsklinikum Benjamin
Franklin und Mitglied des „Vereins zur Förderung und Entwicklung
anthroposophisch erweiterter Heilkunst“. Nicht der Arzt alleine verordne
die Therapie, sondern er arbeite von Anfang an gemeinsam mit dem
Therapeuten. Teamarbeit zwischen Ärzteschaft, Pflegepersonal und
Therapeuten ist Trumpf.
Außerdem gibt es andere Therapieansätze. Während die herkömmliche Medizin
beispielsweise bei einem Herzinfarkt das verschlossene Gefäß freiputzt und
fettes Essen, Rauchen und Streß verbietet, geht nach Matthes' Worten die
anthroposophische Medizin darüber hinaus. Es werde stärker nach den
Ursachen für den Infarkt gefragt.
Die Beeinflussung des Patienten führt häufig über das Unterbewußtsein und
nicht über das Bewußtsein. In der Regel wissen die Menschen ja, daß Rauchen
ungesund ist, daß sie häufiger entspannen müssen. Dennoch können sie vom
Lungenzug und der täglichen Hetzjagd nicht lassen. Da hilft auch keine
Medizinerpredigt. Häufig verordnen dann anthroposophische Mediziner und
Therapeuten eine Kunsttherapie. Der Patient wird dabei selbst aktiv. Mit
wenigen Farben füllen die Kranken ihre Bilder. „Der Infarktpatient malt
häufig dramatische Begegnungen zwischen Rot und Blau“, erzählt Harald
Matthes. Später lerne er, auch Zwischentöne zu verwenden, lila etwa oder
rosa. Dies schaffe auch im Seelenleben neue Zwischentöne. So soll das
Kunstwerk Kräfte im Menschen mobilisieren, die ihm Helfen, wieder gesund zu
werden.
## Mit Tanz gegen Bluthochdruck
Die Heileurythmie ist eine weitere zentrale anthroposophische Therapieform.
Gerd Neubarth (Name von der Redaktion geändert) wurde vor zwei Jahren wegen
seines hohen Blutdrucks und einer Verkalkung der Wirbelsäule von seinem
Hausarzt zur Heileurythmistin geschickt. „Ich hab der Eurythmie ziemlich
skeptisch gegenübergestanden“, erzählt er. „Diese tänzerischen Bewegunge…
da hatte ich als Mann erst mal etwas Schwierigkeiten.“
Bei der Heileurythmie werden die Laute der menschlichen Sprache in
Bewegungen umgesetzt. Dabei versuchen die Therapeuten, Körper und Psyche
des Patienten anzuregen. Die von Rudolf Steiner gemeinsam mit Ärzten
entwickelte Therapieform baut darauf, daß beim Sprechen viele Reaktionen im
Organismus stattfinden. Die Luftströme, Bewegungen des Gaumens, der Lippen
oder der Zunge, die bei bestimmten Lauten entstehen, setzten die Patienten
in Bewegungen um. Ein „O“ ist dementsprechend eine rundere Bewegung als ein
„I“. Herrn Neubarth kostet es noch heute Überwindung, täglich zu üben. A…
sein Blutdruck ist niedriger als vor zwei Jahren.
Daß Kranke zunächst einmal Hemmungen haben könnten, nach Havelhöhe zu gehen
oder dort zusätzlich anthroposophische Therapien wahrzunehmen, kann sich
Roland Bersdorf vorstellen. Aber für die Zukunft hofft er, daß die Hälfte
der Havelhöher Patientinnen aus dem Spandauer Raum kommen, wo es bisher
weniger Anthroposophie-Interessierte gibt als im Süden Berlins.
10 Sep 1994
## AUTOREN
lennart paul
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