# taz.de -- Günter Grass wird 80: Über ihm nur der Allmächtige | |
> Günter Grass hat seine Rolle als Nationalschriftsteller verinnerlicht. In | |
> seinem Leben und Werk steckt mehr von der Großerzählung der | |
> Bundesrepublik, als vielen lieb ist. | |
Bild: Die Briefmarke zum 100. Geburtstag 2027 kann schon in Auftrag gegeben wer… | |
Der eben verstorbene Walter Kempowski musste im April 1983 bei der | |
FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Bad Godesberg auftreten. "Als ich | |
in das Versammlungslokal trat, hatte ich in der Menschenansammlung mit | |
Hemmungen zu kämpfen", notierte er in sein Tagebuch. Doch die Fantasie | |
half: "Wie öfter in solchen Fällen stellte ich mir vor, ich sei Günter | |
Grass, und da gings." | |
Immer wieder er. So war es die vergangenen 50 Jahre, so ist es bis heute | |
geblieben. Damit ist nicht nur seine Omnipräsenz in der medialen | |
Öffentlichkeit gemeint. Vielmehr tauchen allmählich die privaten Papiere | |
der westdeutschen Literaturgeschichte auf, all die Memoiren, Briefwechsel, | |
Tagebücher diverser Protagonisten. Sie beweisen noch einmal, welche | |
mächtige Rolle Günter Grass im kulturellen Raum hinter den Kulissen | |
gespielt hat. Nur zwei Gestalten gab es hierzulande nach 1945, die ähnlich | |
raumgreifend und zugleich raumschaffend waren: der Suhrkamp-Verleger | |
Siegfried Unseld und der Philosoph Jürgen Habermas. Der Schriftsteller | |
Grass ist Freund und Förderer, Agitator und Aktivist, ein unablässiger | |
Kommunikator, ein großzügiger und dominanter Herrscher, der seinen | |
Wohlstand mehrt und gerne teilt - mithin der ideale Leitwolf für das Rudel | |
der Kulturproduzenten, die seine Regungen voller Neid und Bewunderung | |
registrieren. Viele haben sich von seiner Vitalität in den Bann ziehen | |
lassen, ob in Zuneigung oder Verachtung. Grass wirkt überall, bis hinein in | |
die Träume seiner Kollegen. Der früh verstorbene Schriftsteller Nicolas | |
Born dichtete ihm zum 50. Geburtstag süffisant-liebevolle Verse: "Kannst Du | |
die Erde retten? / Nein, ich glaube, Du kannst die Erde nicht retten. / / | |
Einmal habe ich aufgeatmet als es einmal nichts war / Was Du öffentlich | |
sagtest." Es entbehrt nicht der Ironie, dass Grass auch für einen noch im | |
Angesicht des Todes unversöhnten Gegner wie Kempowski ab und an ein | |
Kraftquell war. | |
In der Öffentlichkeit ist der Literaturnobelpreisträger zwischen Klischee | |
und Karikatur längst zur sonderbaren Ikone geworden, hinter der sein Werk | |
völlig verschwindet: Pfeife und Schnauzbart, Pilze und Fischsuppe gehören | |
dazu, ein potenter Patriarch mit sechs leiblichen Kindern und 16 Enkeln, | |
ein wilder Tänzer und kochwütiger Cordhosenträger, ein sozialdemokratischer | |
Machertyp und intellektueller Krawallo, der die Nation ermahnt und auf | |
seinen häufigen Reisen arabischen oder sonstigen Potentaten auch bei 40 | |
Grad Hitze die Vorzüge der Meinungsfreiheit predigt. Die Briefmarke zum | |
100. Geburtstag 2027 kann schon jetzt in Auftrag gegeben werden. Erst | |
einmal jedoch feiert Günter Grass heute seinen 80. Geburtstag, begleitet | |
von Ständchen auf allen Kanälen. Den Anfang im internationalen | |
Gratulationsreigen machte seine Heimatstadt Danzig mit Vorabfestlichkeiten. | |
Auf der Buchmesse präsentierte Grass eine luxuriöse Werkausgabe. Sein | |
privates Fest auf einem holsteinischen Gasthof wird zum großen | |
Familientreffen. Am 20. Oktober folgt Göttingen mit einer Feier, weil hier | |
Grass Steidl Verlag seinen Sitz hat. Eine Woche später dann erteilt | |
Bundespräsident Horst Köhler in St. Marien zu Lübeck dem Jubilar | |
höchstamtlich seinen Segen. | |
Als Symbol verweist Lübeck zugleich auf die Problemzonen des | |
Großschriftstellers. Hier befindet sich als edel gestaltete Kultstätte das | |
Günter-Grass-Haus: eine in der Literaturgeschichte beispiellose | |
Inszenierung des Nachruhms zu Lebzeiten. In Ausstellungen wurde hier | |
bereits das zeichnerische Werk der "Doppelbegabungen" Goethe und Grass | |
verglichen. Noch fragwürdiger ist die Chuzpe, mit der sich Grass in eine | |
Tradition von außen hineinboxt, damit sie das eigene Werk immunisiert. Denn | |
Lübeck ist seit den "Buddenbrooks" literarisch geheiligtes | |
Thomas-Mann-Terrain. "Thomas Mann, Willy Brandt, Günter Grass" soll der | |
Lübecker Dreiklang künftig tönen. Dass das Danzig der "Blechtrommel" als | |
Heimat von Grass ebenfalls an der Ostsee liegt und er in der Nähe Lübecks | |
wohnt, kann solche Hybris nicht entschuldigen. | |
Diese scheinbaren Äußerlichkeiten wären belanglos, wenn dahinter nicht ein | |
geistiges Programm stünde: das des repräsentativen Nationalschriftstellers. | |
Nachdem er sich mit der 1959 erschienenen "Blechtrommel" als Schriftsteller | |
in beeindruckender Manier selbst erschaffen hatte, mutierte Grass seit den | |
Sechzigerjahren allmählich zum kritischen Intellektuellen. So wichtig sein | |
kraftvolles Engagement bei der heftig umkämpften Entwicklung einer | |
bundesdeutschen Öffentlichkeit war: Für Grass wurde es zum produktiven | |
Dilemma. Imperiale Überdehnung herrschte im Reich des Künstlers. Nur | |
konsequent war es, dass er Willy Brandt Anfang der Siebzigerjahre um ein | |
politisches Amt bat - vergeblich. Der unbedingte Wille zur mehr als bloß | |
künstlerischen Bedeutung blieb dennoch. Wo ich bin, ist Deutschland, hatte | |
Thomas Mann einst verkündet. Aus der Sicht von Grass musste einer dessen | |
Staffelstab übernehmen. Der Job des naturgemäß umstrittenen, aber erst | |
durch diese Konflikte gesalbten Repräsentanten musste gemacht werden - um | |
der Demokratie willen. Und wer hätte das sein sollen, wenn nicht er? Nur | |
war dieses fragwürdige Rollenmodell zumindest in der heterogen zerklüfteten | |
Postmoderne lange überholt, falls es sich nicht ohnehin immer schon um eine | |
klapprige Konstruktion handelte. | |
Viel Kompensation gehört zu dieser kein Mikro und keine Kamera auslassenden | |
Repräsentationsrolle. Und die Flucht dorthin wurde zum künstlerischen | |
Fluch. Denn gerade im Alterswerk von Grass existiert seit den | |
Neunzigerjahren nur noch ein Riesenthema in Variationen, von "Ein weites | |
Feld" über "Mein Jahrhundert" (was für ein Titel!), "Im Krebsgang" bis hin | |
zu "Beim Häuten der Zwiebel": Deutschland und seine dunkle Geschichte. | |
Andere Autoren waren ebenfalls besessen von den Dämonen der Vergangenheit, | |
Uwe Johnson oder Kempowski beispielsweise. Doch nur Grass hat diese | |
innerlich durchaus glaubhafte künstlerische Mission als nationalen Auftrag | |
missverstanden. | |
Zaghaft war Grass in seiner auf das Nachleben schielenden | |
Repräsentantenrolle nie. Jahrgangsgenosse Martin Walser, wahrlich kein | |
Leisetreter, klagte schon 1966 im Tagebuch: "G. Grass, eingehüllt in die | |
unaufhebbare Immunität seines Erfolgs, in den jetzt auch von ihm selbst | |
gestreichelten Hermelin seines Ruhms, macht sich lustig über | |
Schriftsteller, die unsicher sind. Selbstbewusst muß man sein." Auch der | |
Papst ist vor Grass nicht sicher. In "Beim Häuten der Zwiebel" kokettiert | |
der Schriftsteller damit, dass er in der Kriegsgefangenschaft auf den | |
jungen Ratzinger getroffen sein könnte. Goethe, Thomas Mann, Benedikt: Über | |
mir ist nur der Allmächtige. | |
Bei seinem Umgang mit dem unselig verspäteten SS-Bekenntnis präsentierte | |
sich Grass noch einmal als deutscher Repräsentant mit "Makel" und | |
"Kainsmal" und zelebrierte daher stellvertretend sein Leiden an und | |
zugleich für Deutschland. "TV: Günter Grass als Wohltäter inmitten zu | |
fördernder Jünger. Auf seinen Schultern liegt die Last der deutschen | |
Literatur, wie er zu K. gesagt hat. So ein bisschen wie Hitler im Bunker | |
der Reichskanzlei sieht er jetzt aus", notierte Kempowski bereits 1983 böse | |
vor dem Fernsehschirm. Was immer man über Grass Zwiebelei sagen kann: Mit | |
dem Bild vom 17-jährigen Günter, der 1945 dem Tod entronnen ängstlich im | |
Wald "Hänschen klein" singt und dabei die SS-Uniform auszieht, hat der Alte | |
noch einmal eine metaphorische Urszene der Bundesrepublik geschaffen, die | |
ihn überdauern wird. | |
Der 1996 verstorbene Joseph Brodsky, emigrierter russischer Dichter und | |
Literaturnobelpreiskollege von Grass, hat einmal erklärt, weshalb die | |
russische Prosa des 20. Jahrhunderts den russischen Literaturgiganten des | |
19. Jahrhunderts, den Tolstois, Turgenjews und Dostojewskis, unterlegen | |
geblieben sei. Ursache sei die "anthropologische Tragödie" gewesen, die | |
Erfahrung des Terrors: "Der Ernst der Angelegenheit schaltet einfach die | |
Lust auf stilistische Bemühungen aus." Mit Massenvernichtungen im Kopf sei | |
man "nicht besonders erpicht darauf, dem Bewusstseinsstrom freien Lauf zu | |
lassen, und das mit Recht". Oft ist der Niedergang der Gattung Roman | |
ausgerufen worden. Hier klingt es plausibel. Brodskys Diagnose lässt sich | |
auf Grass (trotz der "Blechtrommel") und die Literatur der Bundesrepublik | |
anwenden, nachdem zuvor Fontane, Kafka, Musil und Thomas Mann zwischen 1880 | |
und 1945 erzählerische Gipfel erklommen hatten. Nach Auschwitz jedoch | |
wurden die Höhen von einst nicht mehr erreicht. | |
Ohne Dialektik kann man das Phänomen Günter Grass nicht verstehen. Denn | |
dass hierzulande nach alledem überhaupt eine Sprache wiedergefunden wurde, | |
bleibt ja ein Wunder, das wir ganz wesentlich der lauten Stimme von Günter | |
Grass verdanken, inklusive ihrer falschen Töne und unschönen Gesänge. | |
Örtlich betäubt, aber mit zäher Willenskraft: Land und Autor passten schon | |
ganz gut zueinander, zum Leidwesen von Stilaristokraten jeglicher Couleur. | |
Nicht von ungefähr haben Grass, Walser und Enzensberger immer wieder | |
Loblieder auf den Kleinbürger angestimmt. An sich selbst als bekennenden | |
Kleinbürgern demonstrierten sie erfolgreich die Umerziehungsarbeit nach der | |
jung miterlebten Katastrophe, der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur | |
Lehre. | |
Wer das zivilisatorische Projekt der westdeutschen Schriftsteller mit ihren | |
ästhetischen Fähigkeiten und Beschränktheiten deuten will, sollte Günter | |
Grass als Fleisch vom Fleisch der Bundesrepublik sezieren. Vielleicht | |
musste Literatur nach Auschwitz so aussehen. Und vielleicht wird mancher | |
erschrocken feststellen, wie viel heute noch von diesem Achtzigjährigen in | |
den deutschen Knochen steckt. Frei nach Walter Kempowskis Fantasie ist er | |
manchmal wohl doch unser Repräsentant: Wir sind Günter Grass - keine Genies | |
und mit deutlichen Grenzen, mit guten Gaben und kräftigen Gesten, mit viel | |
Glück und einigem Gelungenen, mit erkämpftem Glanz ohne Großartigkeit. | |
16 Oct 2007 | |
## AUTOREN | |
Alexander Cammann | |
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Kommentar Grass-Geburtstag: Der Schnurrbart des Herrn | |
Günter Grass ist der vitalste Vertreter eines Autorenmodells, dessen | |
literarische Einfälle und Engagement in der Bundesrepublik beidermaßen | |
gebraucht wurden. |