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# taz.de -- Graphic Novel von Alan Moore: Höllenfeuer der Moderne
> Als Jack the Ripper sein Unwesen trieb: Zur Neuausgabe der Graphic Novel
> "From Hell" von Alan Moore und Eddie Campbell. Ein Meisterwerk
> drastischer und vieldeutiger Blood Poetry.
Bild: Versuch über den Todestrieb: Moores Werk "From Hell".
"If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man
as it is, infinite."
William Blake
Am Strand bei Bournemouth im Jahr 1923 unterhalten sich zwei alte Männer.
Einer war Polizist, der andere ein "Hellseher". Kennengelernt haben sie
sich damals, als ein Serienmörder in Whitechappel Prostituierte tötete und
offensichtlich mit ärztlichem Handwerkszeug und Geschick ausweidete. "Jack
the Ripper" nannte man den Whitechappel-Mörder; so hieß es in
Bekennerbriefen, die die Polizei narrten, die aber kaum von dem Täter
selbst stammten. Jack the Ripper beflügelte die Fantasie merkwürdiger
Menschen in einer merkwürdigen Zeit: die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts,
der brutale Vormarsch des Neuen, von Industrialisierung und Wissenschaft,
Klassenkampf und brutaler Zähigkeit des Alten, des Empire, des englischen
Königshauses und des Aberglaubens. Eine Welt, die durch den Fortschritt
noch finsterer wurde. In den Köpfen und in den Straßen. Das Herz der
Finsternis liegt in Afrika. Oder in den Slums von London.
Es geht, während die beiden Männer durch die Dünen wandern, um Karl Marx
und die Unvermeidbarkeit der Revolution, und das Paradoxon des
Mittelstandes, der die Revolution liebt, und der Arbeiterklasse, die
konservativ bleibt. "Die Arbeiterklasse will keine Revolution, Mr Lees. Sie
will einfach nur mehr Geld", meint Mr Abberline. Lees dagegen kommt zu
einer fatalen Geständnis: Er hat die "Visionen", mit denen er Furore
gemacht hat, schlicht erfunden. Abberline, der pensionierte Polizist,
dagegen dreht schier durch, als er ein Liebespaar bei der "Hurerei"
erwischt, (und dabei benutzt er beinahe das Repertoire des Jack the Ripper:
"Ich mache aus deinen Därmen Strumpfhalter").
Nein, "Helden" sind und waren diese beiden Männer wohl nicht, und besonders
sympathisch sind sie auch nicht. Aber auf merkwürdige Art sind sie einem in
dieser kurzen Szene vertraut geworden. Gute Erzähler und gute Zeichner
können so etwas. Zum Beispiel im Medium der Grafic Novel, des
"Comic-Romans", zum Beispiel die Erzähler Alan Moore und der Zeichner Eddie
Campbell, die mit dem 600-Seiten-Werk "From Hell" den Schlüssel für das
Medium vorgelegt haben. Einerseits nämlich geht es hier um Jack the Ripper
und seine Zeit und andererseits auch darum, zu demonstrieren, was ein Comic
kann.
Die beiden Männer sind verbunden in diesem kalten September durch das
gemeinsame Wissen, das sie vertuscht haben, wofür sie sich bezahlen ließen.
Das gibt den melancholischen, Noir-Touch der Erzählung vor. Alles ist eine
lange Rückblende, voller Abschweifungen und Doppelbödigkeiten, ein
historisches Panorama, eine Beichte, eine psychoanalytische Fallstudie.
Sie beginnt im Juli 1884 in London; und sie begleitet den Lebensweg von
William, dessen Vater an Cholera stirbt: Er bringt es zum Arzt; die alte
Gesellschaft beginnt sich aufzulösen, seltsame Gegenwelten und informelle
Machtbeziehungen auszubilden. Ist sein medizinischer Forscherdrang nichts
anderes als die Sublimierung einer schon im Kind ausgebildeten
sadistisch-mörderischen Ader? Die dunkle Seite der Lieblosigkeit und der
Unterdrückung?
Dr. William Gull wird in die Freimaurerloge aufgenommen, wo er James Hinton
kennenlernt. Wege, die sich hier kreuzen, führen auch anderswo wieder
zusammen. Eine der verrückten Frauen im Hospital verwechselt ihn mit ihrem
Mann "Jack"; nachdem er den Taugenichts von Sohn der Königin Victoria
gerettet hat, wird er zum außerordentlichen Leibarzt der königlichen
Familie. Bei einem Herzanfall hat William die Vision des dreigesichtigen
Gottes der Freimaurer, danach bittet ihn Victoria, sich um den Skandal von
"Prinz Eddie" zu kümmern, der ein Ladenmädchen geheiratet und mit ihr ein
Kind hat. Die Frau wird entführt (sie weiß nichts vom königlichen Geblüt
ihres Mannes) und in dem Hospital einer erzwungen Operation unterzogen. Und
dann beginnt die Serie der Morde.
"From Hell" ist kein "Wer-tat-es?". Wir wissen von Anfang an, wer der
Mörder ist, die Lösung des Falles wird streng wissenschaftlich aus dem
Stand der JtR-Forschung entwickelt, und im Anhang erklärt Alan Moore nicht
nur, woher seine Informationen stammen, sondern auch wann und warum er sich
im Dienste der Erzählung die eine oder andere Freiheit gestattet hat. Der
Trick ist, dass der Aspekt des Nachverfolgens die volle Aufmerksamkeit des
Lesers erfordert, Straßenschilder, Namen, beiläufige Details, diese Dinge
muss man wie in einem klassischen Detektivroman ins Spiel mit einbeziehen,
obwohl einen die Terroranteile der Geschichte, die bildlichen
Abschweifungen vielleicht mehr faszinieren.
Der zweite Trick besteht darin, das Augenmerk immer mehr auf eine zweite
Aufklärung des Falles Jack the Ripper zu lenken. Von der Frage, wer es war
und wie er es gemacht hat, auf die Frage, was sich in den
Whitechappel-Morden ausdrückt. Denn das ist das eigentliche Wesen der Blood
Poetry: Es geht nicht nur darum, die bizarre Schönheit der Gewalt und ihre
symbolische Ästhetik zu zeigen, es geht vor allem darum, in Bluttaten das
Wesen einer Gesellschaft und ihrer sexuellen Ökonomie im Kunstwerk
auszudrücken. Im schlimmsten Fall ist Blood Poetry von ihrem sadistischen
Gegenstand angesteckt, bedient wohl, was Sigmund Freud den "Todestrieb"
nannte, die Sehnsucht danach, den Körper als "Ding" zu behandeln, ihn in
Teile zu zerlegen und anschließend neu zu arrangieren.
Im besten Fall aber ist Blood Poetry, die nicht an drastischen Details
spart, auch eine Art heftige Trauerarbeit. Sie beschreibt nicht nur den
Kurzschluss zwischen dem Über-Ich und dem Es (die statuarische Queen
Victoria, deren Interessen dieselben sind wie die eines sadistischen
Frauenschlitzers), sondern auch den zivilisatorischen Bruch. Man kann nicht
mehr glauben an die Ordnungen und Werte; das Ich, das sich in der Blood
Poetry gegen das Grauen rettet, kann nur anarchistisch sein.
Es gibt in "From Hell" einige wundervolle Effekte. Zum Beispiel wenn in
einem Panel die Protagonisten noch so weit entfernt sind, dass der Text in
ihren Sprechblasen so klein und undeutlich ist, dass man ihn nicht
entziffern kann, eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Darstellung
undeutlicher Stimmen in der Ferne. Parallelmontagen (wie die vom Gespräch
über die Schulbildung des 16-jährigen jungen William, den die Witwe nur in
einer Dorfschule ausbilden lassen kann, während der selber blutig eine
Ratte "seziert"). Dass William und Susan gerade verheiratet sind, erkennt
man daran, dass überall Reis in den Kleidern steckt (und Susan das Licht
löschen will, bevor sie zu Bett gehen). Einmal bleibt über zwei Seiten die
"Einstellung" des Panels immer gleich, während ganz verschiedene Personen
in der Szene miteinander interagieren und eine geraume Zeit vergeht. Ein
andermal wechselt die Gestaltung zwischen Feder und Pinsel, wie zwischen
Kaltnadelradierungen und (schwarzweißen) Aquarellen, um verschiedene
Erzählebenen voneinander abzusetzen, Eastend und Westend als heftige
Kontraste des Alltagslebens. Da ist Königin Victoria, die sich gleichsam im
eigenen Bild nur unwesentlich bewegt, ein gespenstisches Zitat, ein
lebendiges Bild im Bild. Es ist eine Anthologie der postklassischen
Comic-Ästhetik, nichts, was man nicht schon anderswo gesehen hätte, aber so
perfekt der Erzählabsicht zugeordnet, dass sie nicht mehr "experimentell"
erscheint. Dieser gewaltige "Brocken" der Comic-Literatur kann mit seinen
Mitteln ganz unprätentiös umgehen.
Außerdem ist die Geschichte randvoll mit Zitaten, Anspielungen und
Doppelbödigkeiten. Und ist es nicht seltsam, dass man "Stadt" besser
zeichnen als fotografieren kann? Dabei ist, wie in einem Manga, oft die
Genauigkeit der Architekturstudien zu den eher skizzenhaften Ausformungen
der Geschehnisse in Beziehung gesetzt, und es gibt den Mut, die Dinge und
Personen hier und da freizustellen, Bilder nicht um jeden Preis
auszufüllen.
Das Grundthema, das uns im Noir und in der Blood Poetry von "From Hell" in
verschiedenen Richtungen hin entwickelt wird, ist das Ineinander der alten
Mythen und der Moderne. Und dann ist es eine Art mapping des Falles, ein
Versuch, eine andere Art Ordnung, auch jenseits der zeitlichen Vernunft, zu
finden. "Karten haben KRAFT, liefern, richtig ausgelegt, reiches Wissen
jenseits aller Vorstellung", sagt Sir William zu Netley, dem Kutscher und
Mordhelfer, während sie eine Reise durch die Stadt unternehmen, auf den
Spuren der alten (freimaurerischen) Götter - nicht umsonst ist William
Blake ein spiritueller Bezugspunkt, einer, der zugleich von der Befreiung
der Menschen träumte, von der Gleichheit der Geschlechter, Rassen und
Generationen, und der der Moderne zutiefst misstraute. Es ist nur noch der
Wahn, der die Moderne und den Mythos miteinander verbindet.
Sir William, so scheint es einmal, ist auf den Spuren einer matriarchalen
Götterwelt, er spricht von der Notwendigkeit der "Sozialmagie" (und ist
damit verteufelt nahe an gewissen postmodernen Denkern). Die sechs Londoner
Kirchen des Architekten Nicolas Hawksmoor, in denen sich mit barocken
Scheinarchitekturen und arithmetischen Spielereien eine architektonische
Geheimschrift in der Stadt zu realisieren scheint, ist ein weiteres Element
dieses mapping.
Alan Moore hat ein Gespür für Zeit und Rhythmus; nicht umsonst hat er bei
dem Musikmagazin Sounds im England der 1970er-Jahre begonnen. Nachdem er
sich vom Zeichnen ganz aufs Schreiben und von England nach den USA
orientiert hatte, gehörte er zu den großen Erneuerern des
Superhelden-Comics, vor allem mit "Watchmen", das gerade als Kinofassung zu
sehen ist, und in den 1990ern war er einer der Wanderer zwischen den Welten
von Comic und Grafic Novel. Noch einmal Furore machte er mit dem zusammen
mit seiner Ehefrau geschaffenen pornografischen Grafic Novel "Lost Girls".
Vielleicht muss man dass zusammen sehen: Wenn "From Hell" in seiner Blood
Poetry ein längerer Versuch über den Todestrieb ist, dann ist "Lost Girls"
ein längerer Versuch über die Libido. Und der pornografische Comic (der
eben nicht notwendig sexistisch sein muss) eine Antwort auf den Wahn, den
"From Hell" beschreibt, die Sozialmagie der "männlichen Kontrolle, die
inmitten des Aufruhrs dieser Tage schwächer wird".
Auch der Zeichner Eddie Campbell begann seine Arbeit bei Sounds und wurde
später mit seiner "Bachus"-Serie bekannt. Deutlich ist der Einfluss von
Hugo Pratt und seiner "Corto Maltese"-Welt. Panels, die nicht wie
Umschnitte, sondern wie Kamerafahrten funktionieren (und schon von dieser
Technik her der grafischen Erzählung Zeit übertragen) gehören zu seinen
Markenzeichen wie das souveräne Spiel mit Bild-Zitaten und
Darstellungsstilen.
Der zentrale Gedanke in "From Hell" liegt vermutlich in Alan Moores
Vorstellung, dass die 1880er-Jahre in London die "Essenz des 20.
Jahrhunderts" verkörpern und dass, damit verbunden, die Whitechappel-Morde
die Essenz der 1880er-Jahre sind. Dazu gehört das Ineinander rationaler und
irrationaler Kräfte ebenso wie das Ineinander verschiedener Bildebenen, das
Empire und sein Verfall, die Freimaurer und der Antisemitismus, die
Industrialisierung und das soziale Elend. Dazu gehört auch die "Erfindung"
des Revolverjournalismus, den Alan Moore ganz explizit in Beziehung zu den
publizistischen Ungeheuerlichkeiten des Mr Murdoch und der Sun von heute
setzt: Jack the Ripper ist eine Erfindung eines Journalisten mit dem
schönen Namen Best.
Es ist auch die Zeit des poetischen Sozialisten William Morris, der sein
Gedicht "Love is Enough" in einer Versammlungsstube des International
Workers Educational Club vorträgt, während in finsterer Gasse die
Prostituierte Liz Stride ermordet wird. Und es ist die Zeit eines neuen,
rationalisierten Okkultismus, in der Freimaurer wiederum von bayerischen
Illuminaten unterwandert werden. Vom Grauen der angehenden Moderne kündet
die Verdunkelung.
Nach den verschiedenen Revolutionen der amerikanischen Superhelden-Comics
(die hierzulande kaum Mainstream-fähig sind), der Manga-Überschwemmung und
einigen Versuchen, die frankobelgische Tradition der "ligne claire"
wiederzubeleben, gibt es heute Erwachsenen-Kunst-Comics, die ihren Anspruch
besonders betonen müssen und eher auf eine Befreiung des Bildes von der
Narration setzen (Art Spiegelmans "Breakdowns" als Beispiel).
Eine andere Linie versucht die Zeichnung in den Dienst des epischen
Erzählens zu stellen, in eine politisch-journalistische Form wie
"Persepolis" oder "Maus". Bemerkenswert auch Peter van Dongen, der jüngst
in "Rampokan" die Brüche und Katastrophen der Kolonialmacht Niederlande in
Indonesien und die Unabhängigkeitskämpfe von 1946 und 1949 darstellte und
dabei auch seine Biografie einarbeitete.
Die Bezugspunkte der erfolgreichen Grafic Novels sind Autobiografie und
Politik; Comics, die sich nicht direkt auf diese Fixpunkte beziehen, haben
es schwer, sogar wenn sie von anerkannten Künstlern stammen. "From Hell"
bildet hier keine Ausnahme.
Das Buch wird zwar als Meisterwerk bezeichnet, doch überschreitet es kaum
die Kultur der "Kenner und Liebhaber" der grafischen Erzählungskunst, vulgo
der Comic-Leser. Was schade ist.
Dabei ist diese Grafic Novel genau genommen ein Pendant des "bürgerlichen
Romans" des 19. Jahrhunderts, der sich am Helden orientiert und zugleich in
ein gesellschaftliches Panorama und in die seelischen Tiefen bewegen kann.
Vom klassischen Helden-Comic zur Grafic Novel führt also letztlich genau
derselbe Weg wie in der Literatur der Weg zum realistischen und schließlich
modernen Roman (einschließlich eines "unzuverlässigen Erzählers") und zur
postmodern ironischen Rettung des Erzählens (das Erzählen ist eigentlich
unmöglich geworden, macht aber zu viel Spaß, um es einfach sein zu lassen).
Die Grafic Novel hat also nicht mehr den so radikal veräußerten Helden,
sondern soziale und seelische Landschaften zum Thema und entwickelt so viel
Reflexion und Selbstreflexion, dass sie droht, für den Unkundigen so
unlesbar zu werden wie moderne Literatur für Fernsehjunkies.
Umgekehrt kann man sich ja auch den modernen Roman gar nicht vorstellen
ohne den Einfluss der neuen Medien, des Films, der Magazine und, nicht
zuletzt: der Comics. So schließt sich in einer Arbeit wie "From Hell" der
Kreis: Der freche grafische Angriff der Popkultur auf die bildende Kunst
und den Roman (die Selbstvergewisserung des Bürgertums) ist selbst zur
komplexen und auratischen Kunst geworden.
Und Moore und Campbell haben es riskiert, an einen Entstehungsort dieser
bürgerlichen Kunst und zugleich der Populärkultur und der urban Legenden
zurückzukehren. Als die Welt so rapid zerfiel, dass man sie nur noch in
Romanen aufheben konnte. "From Hell" ist nicht nur eine trotzige
Einforderung von Zeit und Sorgfalt in der Lektüre, nicht obwohl, sondern
weil es sich um frivole Verbindungen von Text und Bild handelt. Es ist auch
das richtige Werk zur Zeit. Denn London 1880 ist verflixt nahe dran am
Krisenkapitalismus des Jahres 2009.
16 Mar 2009
## AUTOREN
Georg Seesslen
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