| # taz.de -- Gesellschaft: „Ich will den 10.654 Menschen eine Stimme geben“ | |
| > In Grafeneck auf der Schwäbischen Alb begannen die Nazis vor 85 Jahren | |
| > mit ihrem „Euthanasie“-Programm, der systematischen Tötung von geistig | |
| > behinderten und psychisch kranken Menschen. Heute ist dort eine | |
| > Gedenkstätte, die inklusive Führungen anbietet. Eine intensive Erfahrung. | |
| Bild: Nur 250 Urnen wurden gefunden: Gerd Holder vor der ersten Gedenkstätte. … | |
| Von Oliver Stenzel | |
| Was für eine Idylle: Ein kleines Schloss, von dem eine schmale Allee leicht | |
| bergan geht, am Ende zur Linken eine von hohen Bäumen beschattete Wiese, | |
| ein kleiner Friedhof. An dessen Böschung, mit einer halbrunden Mauer | |
| begrenzt, kann der Blick schweifen über ein recht weites, sanftes Tal auf | |
| der Schwäbischen Alb. Ein wunderschöner Ort. Zugleich ist dies auch ein Ort | |
| des Grauens – oder war es zumindest. Hier, in Grafeneck bei Gomadingen, | |
| fand vor 85 Jahren eine Art Probelauf für den Holocaust statt: Am 18. | |
| Januar 1940 begannen die Nationalsozialisten hier mit den Morden an | |
| psychisch Kranken und an Menschen mit Behinderung, die sogenannte Aktion | |
| T4, besser bekannt als „Euthanasie“-Programm. 10.654 Menschen wurden in | |
| Grafeneck im Laufe des Jahres 1940 ermordet. | |
| Nur wenige von ihnen sind hier begraben. 250 Urnen wurden auf dem Gelände | |
| nach dem Krieg gefunden, sie liegen nun in zwei Urnengrabstellen, die | |
| zusammen mit einem großen Steinkreuz und der halbrunden Steinmauer die | |
| erste Gedenkstätte in Grafeneck bilden, 1962 eingerichtet. „Hier haben sie | |
| angefangen mit der Gedenkstätte“, erzählt Gerd Holder. 1990 folgte, wenige | |
| Meter entfernt, eine weitere, größere Gedenkstätte. | |
| Es ist ein sonniger und warmer Tag Ende August 2024, an dem Gerd Holder vor | |
| den Urnengräbern steht, in den Händen ein Manuskript in einer | |
| Klarsichthülle, das er beim Sprechen knetet und auf das er nur selten | |
| schaut. Meist redet er frei. „Der Friedhof ist nicht nur Gedenkstätte, | |
| sondern auch für uns Friedhof.“ Für uns? Auf dem Gelände von Grafeneck | |
| wohnen und arbeiten heute Menschen mit psychischen Erkrankungen und | |
| geistigen Behinderungen, auch Gerd Holder wohnt hier. Früher hatte er mal | |
| in der Pflege gearbeitet, dann wurde er krank, vor zwei Jahren kam er nach | |
| Grafeneck. Er wollte her. Und nun macht er Führungen für Besucher:innen. | |
| „Es war ganz klar, dass ich da mitmache“, sagt er. „Ich habe gewusst, was | |
| hier passiert ist.“ | |
| Die inklusiven Führungen sind etwas ganz Neues in Grafeneck, sie gibt es | |
| erst seit vergangenem Jahr. Kathrin Bauer, pädagogische Mitarbeiterin der | |
| Gedenkstätte, hat sie initiiert und bei der Aktion Mensch Förderung | |
| beantragt, nun sind sie für sie „immer der Höhepunkt der Woche“. An jenem | |
| Augusttag nehmen an ihr Studierende der Katholischen Hochschule Münster mit | |
| ihrem Professor Jochen Bonz und einige Bewohner:innen aus Grafeneck teil. | |
| Die jungen Leute aus den Studiengängen Soziale Arbeit und | |
| Heilpädagogik/inklusive Pädagogik sind wegen des auf knapp zwei Jahre | |
| angelegten Projekts „Grafeneck – Münster // 1940 – heute“ hier. Bonz m… | |
| damit Wege kulturpädagogischer Erinnerungsarbeit in Zusammenhang mit den | |
| „Euthanasie“-Verbrechen der Nazis erkunden und entwickeln. | |
| Von der frühen Gedenkstätte geht es weiter zur eigentlichen, 1990 | |
| errichteten: Eine offene Kapelle mit einem Altar im Zentrum. An der | |
| Rückseite eine Steinmauer, in der ein Riss klafft. „Der Riss in der Mitte | |
| ist, weil hier das große Verbrechen passiert ist“, sagt Gerd Holder, „und | |
| diese Narbe geht nie wieder zu.“ Ein paar Schritte weiter befindet sich | |
| eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verbrechen: Der | |
| „Alphabet-Garten“ der US-amerikanischen Künstlerin Diane Samuels. Sie hat | |
| Betonwürfel mit Buchstaben in eine Wiese gesetzt, dahinter steht der | |
| Gedanke, Buchstaben zu sammeln, um die Namen der Ermordeten zu finden, um | |
| Worte zu finden für das Verbrechen. Gefundene Namen sind außerdem in dem | |
| Namensbuch dokumentiert, das am Rande des Gartens in einer Schublade | |
| verstaut ist. Mitte der 1990er begann die Gedenkstätte mit dem Suchen und | |
| Sammeln, erzählt ihr Leiter Thomas Stöckle. Anfangs wurden es schnell mehr, | |
| inzwischen geht es immer langsamer. Die Namen von 9.750 der über 10.000 | |
| Opfer wurden bislang ausfindig gemacht. Das obere Deckblatt des Buches | |
| fehlt seit Juli 2024, „seit einem Neonazi-Vorfall“, sagt Stöckle. | |
| ## „Bei der Wahl aufpassen, was die Politiker sagen“ | |
| Die Gruppe zieht weiter Richtung Schloss. Etwa auf halbem Weg der Allee der | |
| nächste Stopp: „Hier ist der Ort, wo das große Verbrechen passiert ist“, | |
| sagt Gerd. Es ist der ehemalige Standort des Vernichtungsgebäudes, wo die | |
| Vergasungen stattfanden. Es ist schon längst abgerissen. Gerd erzählt, „im | |
| Oktober 1939 kamen die Täter im Schloss zusammen“, Ärzte, Pfleger, Beamte, | |
| Polizei, Wachpersonal. Drei Monate lang planten sie und bauten die | |
| Infrastruktur auf: fahrbare Verbrennungsöfen, die Gaskammer „als getarnte | |
| Duschkabine“, in die Kohlenmonoxid eingeleitet wurde. Graue Omnibusse | |
| brachten die nichtsahnenden Opfer nach Grafeneck. Gerd schildert das | |
| Prozedere: Die Anlieferung, die folgende Scheinuntersuchung durch einen | |
| Arzt, „und wenn sie Goldzähne gehabt haben, wurde ein Kreuz auf die Haut | |
| gemacht“. Dann wurden sie in die Gaskammer geführt, nach 20 bis 25 Minuten | |
| wurden die Türen wieder aufgemacht, entlüftet, die Toten rausgetragen und | |
| verbrannt. „Die Opfer waren keine Nacht hier“. Schaudern, in der Gruppe | |
| herrscht beklommene Stille. | |
| „Warum erzähle ich das?“, sagt Gerd dann. „Damit ich den 10.654 eine Sti… | |
| gebe. Weil so etwas nie wieder passieren darf, so etwas darf nie | |
| wiederkehren. Deswegen bei der nächsten Wahl aufpassen, was die Politiker | |
| sagen.“ | |
| Eine Studentin fragt: „Wie ist es, wenn man hier lebt, jeden Tag hier | |
| vorbeigeht?“ Gerd sagt: „Für mich persönlich ist es schlimm. Aber wir leb… | |
| hier. Trotz des Verbrechens machen wir hier etwas wirklich Schönes.“ | |
| Die Menschen, die hier in der von der Samariterstiftung betriebenen | |
| Wohnanlage leben, sowie einige aus dem naheliegenden Städtchen Münsingen, | |
| arbeiten in einer kleinen Landwirtschaft mit: Es gibt Hühnerhaltung und auf | |
| einer Wiese weiden pechschwarze Angus-Rinder, deren Fleisch und die Eier | |
| werden verkauft. | |
| ## Der Hauptverantwortliche wurde nie verurteilt | |
| Es geht weiter zum Schloss. Am Eingang der nächste Halt. 1928 kaufte die | |
| Samariterstiftung das Gebäude, richtete hier ein Behindertenheim ein. Kurz | |
| nach Kriegsausbruch wurde es vom Deutschen Reich beschlagnahmt, und „im | |
| Oktober 1939 haben die Täter hier Einzug gehalten“, erzählt Gerd. Giuliano, | |
| der auch hier wohnt und arbeitet, assistiert ihm, zeigt Fotos mehrerer | |
| Täter. Einige stellt Gerd genauer vor: Horst Schumann etwa, der erste | |
| ärztliche Leiter, der die Umwandlung Grafenecks in eine Vernichtungsanstalt | |
| leitete und ab Januar 1940 die Verantwortung für die Durchführung der Morde | |
| trug. Im April verließ er Grafeneck, um Direktor einer anderen | |
| „Euthanasie“-Anstalt in Pirna zu werden. Ab Herbst 1942 war er dann einer | |
| der Lagerärzte in Auschwitz. | |
| Nach dem Krieg war Schumann nur kurz in amerikanischer Gefangenschaft, | |
| arbeitete erst wieder als Arzt in Gladbeck, ehe er 1951 aus Furcht vor | |
| Verhaftung nach Afrika floh. Zuletzt war er in Ghana, ehe er von dort 1966 | |
| an die Bundesrepublik ausgeliefert wurde. Ab 1970 wurde ihm in Frankfurt am | |
| Main der Prozess gemacht, doch „er wurde nie verurteilt“, erzählt Gerd | |
| Holder. Denn Schumann schaffte es dank seiner medizinischen Kenntnisse, | |
| seinen Blutdruck dauerhaft so hoch zu halten, dass er als | |
| verhandlungsunfähig galt. Im April 1971 wurde das Verfahren vorläufig | |
| eingestellt, im Juli 1972 wurde er aus der Haft entlassen. Einige in der | |
| Gruppe schütteln ungläubig den Kopf. | |
| Die letzte Station der Führung ist das Dokumentationszentrum, 2005 | |
| eingerichtet. Im Erdgeschoss beleuchtet eine Dauerausstellung die | |
| Geschichte Grafenecks und der „Euthanasie“-Verbrechen, eine Etage darüber | |
| ist eine Bibliothek eingerichtet. | |
| Am Eingang des Dokumentationszentrums steht ein sehr hohes und breites | |
| Holzregal. Es ist ein Kunstwerk des Münsinger Bildhauers Jochen Meyder, ein | |
| – wie er es nennt – „diffundierendes Mahnmal“, denn es verändert sich.… | |
| jeden der 10.654 in Grafeneck Getöteten hatte er kleine Terracotta-Figuren | |
| gefertigt und 2016 in das Regal gelegt, um zunächst die Dimension des | |
| Verbrechens deutlich zu machen. Dann waren Besucher eingeladen, sich | |
| Figuren mitzunehmen. „Und irgendwann war das Regal dann leer“, erzählt | |
| Sonja, die auch in der Wohnanlage lebt und den letzten Teil der Führung | |
| übernimmt. Aber dann haben Besucher Steine reingelegt, auf die sie kurze | |
| Sprüche oder Gedanken schrieben. „Jeder kann einen Stein reinlegen und | |
| seine Gefühle über Grafeneck zeigen“, sagt Sonja. Warum macht sie bei den | |
| Führungen mit? Ohne nachzudenken sagt sie: „Weil es für mich ganz wichtig | |
| ist, dass bekannter wird, was in Grafeneck passierte, dass es nicht | |
| vergessen wird.“ Vor anderen Leuten über das Thema zu sprechen, habe sie | |
| kein Problem. Sonja ist Autistin, erzählt sie, sie habe das | |
| Asperger-Syndrom. Der Namensgeber, der österreichische Arzt Hans Asperger, | |
| war auch in die „Euthanasie“-Verbrechen verstrickt: Er selektierte von | |
| behinderten Kindern „aussichtslose Fälle“ aus, die dann in einer Anstalt in | |
| Wien umgebracht wurden. „Das ist ganz schlimm für mich, dass jemand, nach | |
| dem eine Krankheit benannt ist, so etwas gemacht hat“, sagt Sonja. | |
| ## Bilder für die ermordete Großmutter | |
| Nach einer Mittagspause geht für die Studierenden aus Münster das Programm | |
| weiter. In einem als Seminarraum genutzten Teil des Schlosses präsentiert | |
| die Berliner Künstlerin Hannah Bischof ihr Projekt „Von Papenburg nach | |
| Neuruppin – Zyklus für Maria“. Maria, das ist Bischofs Großmutter Maria | |
| Fenski, die sie nie kennenlernte – sie galt als schizophren, 1942 wurde sie | |
| in der „Zwischenanstalt“ Neuruppin ermordet. „Das war lange kein Thema in | |
| meiner Familie“, erzählt Bischof, sie selbst habe es „viele Jahre | |
| weggeschoben“. Erst als ihre Schwester angefangen habe, zu forschen, habe | |
| sie wieder angefangen, sich damit zu beschäftigen und fing an, selbst zu | |
| recherchieren. | |
| Die Malerei war ein Weg, dies zu verarbeiten, „die Bilder entstanden, wobei | |
| mir anfangs gar nicht klar war, ob sie für Maria sind“. | |
| Kunst sei ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Projekts, sagt Jochen Bonz. | |
| „Die Idee ist: Wir schaffen verschiedene Räume der Artikulation, um sich | |
| mit diesem Verbrechen auseinanderzusetzen. Alles ist eng verzahnt.“ Bei den | |
| bisherigen Exkursionen von Münster nach Grafeneck mit seinen Studierenden | |
| seinen immer auch Künstler:innen dabei gewesen. Und neben der historischen | |
| Vermittlung sei es immer auch darum gegangen, dass die Studierenden am Ende | |
| selbst künstlerisch aktiv werden, um das neu Gelernte in Bildern | |
| verarbeiten. Einige davon sowie Fotos der Exkursionen sind ab dem 17. | |
| Januar in einer Ausstellung in Münster zu sehen. Und für 2026 ist in | |
| Kooperation mit dem Kunstmuseum Reutlingen eine Ausstellung mit Kunst zur | |
| NS-“Euthanasie“ geplant. | |
| Im April 2024 hat das Projekt, finanziell gefördert von der Stiftung | |
| “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), begonnen, bis Ende 2025 soll | |
| es noch gehen. Was bringt einen Professor aus Münster auf die Alb? Zum | |
| einen stammt Jochen Bonz aus Stuttgart, wurde 1969 dort geboren, und kannte | |
| Grafeneck schon länger. Zum anderen gibt es noch einen historischen Bezug | |
| zwischen den Orten: 1941 kritisierte der Münsteraner Bischof Clemens August | |
| Graf von Galen die Morde. Das führte zwar augenscheinlich dazu, dass die | |
| Morde eingestellt wurden – tatsächlich wurden sie aber in dezentraler Form | |
| weitergeführt und die Nazis hatten 1941 schon einen großen Teil ihres | |
| furchtbaren Ziels bei der „Euthanasie“ erfüllt. Dennoch war es ein | |
| wichtiger Moment des Widerstands gegen die Entmenschlichungsstrategien der | |
| Nationalsozialisten. | |
| ## Erinnerungskultur: Was kommt davon an? | |
| Ganz praktisch treibt Bonz ein Thema an, dass nicht nur wegen der | |
| zunehmenden zeitlichen Distanz zum NS-Regime drängender wird: „Das Problem | |
| bei der Erinnerungskultur ist ja immer: Was kommt davon an?“, sagt er. Wie | |
| vermittele man solche Themen nicht nur Gymnasist:innen, sondern etwa auch | |
| Jugendlichen aus „Problemhaushalten“? Wichtig sei ein „emotionaler Bezug�… | |
| „Nicht nur zu sagen, dass so etwas nie wieder passieren soll, sondern dass | |
| das einen auch emotional erreicht.“ | |
| Das gelinge bei den inklusiven Führungen in Grafeneck schon sehr | |
| wirkungsvoll, findet Bonz. Weil die Studierenden realisieren, dass hier | |
| Menschen sprechen, die die Nazis als „lebensunwertes Leben“ betrachtet und | |
| umgebracht hätten. Und weil das den betroffenen Menschen wie Gerd Holder | |
| selbst sehr bewusst ist – und deswegen ein Anliegen, es nicht dem Vergessen | |
| anheim zu geben. | |
| Die Ausstellung „Grafeneck 1940“ zeigt von 18. Januar bis 21. März im | |
| Landratsamt Tübingen Druckgrafiken und Installationen von Jochen Meyder, in | |
| denen er sich mit dem Massenmord auseinandersetzt. Zur Eröffnung am 18. | |
| Januar um 19.30 Uhr spricht Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte | |
| Grafeneck, anschließend führt Kreisarchivar Wolfgang Sannwald ein Gespräch | |
| mit Jochen Meyder. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung unter | |
| [email protected] wird gebeten. | |
| Die Ausstellung „Was hat die Ermordung von Menschen mit Behinderungen | |
| während des Nationalsozialismus mit uns zu tun?“ zeigt vom 17. bis 31. | |
| Januar im B-Side Kulturverein in Münster Fotos und Bilder, die bei den | |
| Exkursionen nach Grafeneck entstanden sind. | |
| 18 Jan 2025 | |
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